# taz.de -- Erfahrungsräume in der Kunst: Die Kunst und die Spektakel-Industrie | |
> Die Selbstwahrnehmung steht im Fokus der Ausstellung „Welt ohne Außen“: | |
> Man kann sich auf Turnmatten wälzen und grünen Tee schlürfen. | |
Bild: Ein Hauch von Psychodelic: Lucio Fontana in Zusammenarbeit mit Nanda Vigo… | |
Fangen wir an mit der gelungensten Arbeit, die in der Ausstellung „Welt | |
ohne Außen“ im Gropius-Bau in Berlin zu sehen ist: die beiden beweglichen | |
Bänke, die der dänische Künstler Jeppe Hein auf der Empore im Lichthof des | |
Gründerzeitbaus aufgestellt hat. Setzt man sich auf das unspektakulär | |
wirkende Sitzmöbel, beginnt es ganz langsam von links nach rechts zu | |
fahren. So thront man wie auf einer Art horizontalem Treppenlift, erfreut | |
sich an graduell sich verändernden Perspektiven und sich verschiebenden | |
Sichtachsen und bemerkt Details der prachtvollen Architektur, die einem | |
vorher nie aufgefallen waren. | |
Damit erreicht die Arbeit im Grunde das Gegenteil davon, worum es in der | |
Ausstellung eigentlich gehen soll: Statt eine andere Betrachtung von | |
Wirklichkeit zu ermöglichen, geht es bei den gezeigten Installationen und | |
Environments in erster Linie darum, dem Betrachter einen geschlossenen | |
Erfahrungsraum vorzugeben und ihn dadurch mit sich selbst und seiner | |
eigenen Wahrnehmung zu konfrontieren. | |
Ausgangspunkt sind Arbeiten aus den 60er Jahren, als infolge von Minimal | |
Art einerseits, psychedelischen Be-ins andererseits Wahrnehmungsprozesse in | |
den Mittelpunkt der künstlerischen Produktion traten. Mit einer | |
Glasskulptur von Larry Bell und einer Lichtinstallation von Doug Wheeler | |
sowie einer Rekonstruktion von Lucio Fontanas bordeauxrotem plüschigen | |
Environment „Utopie“ von 1964 wird diese Epoche zügig abgearbeitet – kei… | |
Gruppe Zero, kein James Turrell, kein früher Jeffrey Shaw ist zu sehen. | |
Auch die interaktive Medienkunst der 80er und 90er Jahre, als mithilfe von | |
Computern imaginäre virtuelle Räume entstanden, spielt keine Rolle. Dabei | |
gäbe es hier interessante Anknüpfungspunkte zu der Virtual Reality der | |
Gegenwart, die in den Veranstaltungen und Ausstellungen zum Thema | |
„Immersion“ im Gropius-Bau – zu denen auch diese Präsentation gehört – | |
immer wieder eine Rolle gespielt hat. | |
## Erotische Geselligkeit | |
Stattdessen begibt sich die Ausstellung zügig in die Gefilde der | |
„relationalen Ästhetik“, wie sie der französische Kunstkritiker Nicolas | |
Bourriaud bei Werken entdeckt hat, bei denen der Betrachter zur Interaktion | |
mit anderen Betrachtern oder dem Künstler verleitet werden soll. Da kann | |
man an einer Teezeremonie der Künstlerinnen Dambi Kim und Isabel Lewis | |
teilnehmen oder sich in einem Workshop unter Anleitung von abermals Isabel | |
Lewis zu elektronischen Klängen auf Turnmatten herumwälzen. Dieser Akt | |
„erotischer Geselligkeit“ soll uns „zu einer Verbindung mit unserer inner… | |
Welt“ führen, „um radikaler empfänglich für äußere Welten zu werden“. | |
Das klingt ein bisschen nach Yoga-Retreat oder nach der „Orgasmic | |
Meditation“, die die in Verruf geratene US-Firma OneTaste zum | |
Geschäftsmodell gemacht hat. | |
So weit wie bei diesem Unternehmen geht es in der Ausstellung dann zwar | |
doch nicht, aber hoch intensive, physische Erfahrungen will die Show | |
durchaus bieten: „Immersion ermöglicht neues Wissen durch unmittelbares | |
Erleben: eingehen und eintauchen, Teil sein und in Beziehung stehen“, heißt | |
es in der Beschreibung der Ausstellung, die im selben Atemzug suggeriert, | |
dass dies der kritischen Distanz und dem reflektierten Betrachten | |
vorzuziehen sei. | |
## Grüner Tee und Laptop | |
Adorniten und andere Miesepeter mögen das als Akt der Weltflucht oder gar | |
als Regression empfinden. Aber selbst wenn man sich auf die Prämisse der | |
Ausstellung einlässt, bleibt die Frage, ob es überhaupt noch „Räume ohne | |
Außen“ gibt, wenn selbst die Künstlerin Dambi Kim in ihrem makellos | |
gestalteten Raum am Laptop hängt, wenn sie nicht gerade nach allen Regeln | |
der koreanischen Kunst grünen Tee aufgießt. | |
Generell wird die Prämisse der Ausstellung durch den gut durchgetakteten | |
Zeitplan konterkariert, nach dem die BesucherInnen in den Genuss | |
weltentrückter Erfahrungen kommen sollen. Sobald die Vorführung der | |
Duftorgel „Smeller“ von Wolfgang Georgsdorf zu Ende ist, heißt es – „um | |
Punkt 1 Uhr“, wie die Aufsicht betont – sich vor dem Schliemann-Saal | |
einzufinden, um einer der Performances beizuwohnen, die Teil der | |
Ausstellung sind. | |
Dort wird man in unserem Fall von zwei Assistenten in Bademänteln abermals | |
auf Matten platziert. Und wird dann von dem Künstler Thomas Proksch – | |
beduftet mit ätherischen Ölen – im Dunkeln bei einer Meditation angeleitet, | |
um einen warmen, goldenen Ball durch den Körper wandern zu fühlen. | |
Anschließend verausgabt sich Proksch mit Kunststoffpompons bei einem | |
rituellen Tanz unter Schwarzlicht-Neonröhren, was ein bisschen an einen | |
Goa-Rave der 90er Jahre erinnert. | |
Es wäre zu leicht, dieses Treiben als Spa-Kunst abzutun. Die Kuratoren | |
Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, und Tino Sehgal, der | |
als Künstler auch mit einer Arbeit vertreten ist, haben sich hier schon | |
etwas getraut. Je nachdem, wann man die Ausstellung sieht und in welche der | |
täglich wechselnden Performances und Workshops man gerät, mag der Eindruck | |
ganz anders ausfallen – es gibt darum auch Eintrittskarten, mit denen man | |
die Ausstellung immer wieder besuchen kann. | |
## Ringelpiez mit Anfassen | |
Wohl ohne es angestrebt zu haben, stellt die Ausstellung die Frage, ob es | |
der Kunst guttut, wenn sie die direkte, individuelle Erfahrung über die | |
stille Kontemplation von künstlerischen Vorgaben stellt. Die Environments | |
und Erfahrungsräume, die Künstler seit den 60er Jahren gestaltet haben, | |
waren eben auch Vorläufer des Ringelpiez mit Anfassen, der heute – von als | |
„Erlebniswelt“ gestalteten Einkaufszentren bis zur theatralischen | |
Neueinführung von neuen Produkten, etwa auf Automobilmessen – zum täglich | |
Brot einer eigenen Spektakel-Industrie geworden ist. | |
Mitmachen, direkte Erfahrung, ausflippen, Teil von etwas zu sein, das | |
größer als man selbst ist, waren und sind nicht nur Element von totalitären | |
Parteiaufmärschen von Hitler bis Trump, sondern auch von Raves, Holi | |
Festivals und dem Münchner Oktoberfest. | |
Wer mit Pyronalen, Escape Rooms, Imax-Kinos mit DolbyAtmos-Sound und | |
Augmented-Reality-Simulationen à la Pokémon Go sozialisiert worden ist, ist | |
von den Arbeiten in dieser Ausstellung möglicherweise etwas unterwältigt. | |
Wenn selbst die elaborierte Lichtinstallation von James Turrell in der | |
Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs auf diesen Seiten kürzlich als | |
„unspektakulär“ beschrieben wurde (was sie im Vergleich mit einem Konzert | |
von Beyoncé oder einer Nacht im Tresor ja auch möglicherweise ist), sollte | |
man sich fragen, ob die Kunst einem übersättigten, reizüberfluteten | |
Publikum dadurch dient, dass es sich auf diese Überwältigungslogik | |
einlässt. | |
Vielleicht ist man doch nicht nur ein altmodischer Querulant, wenn man | |
daran erinnert, dass Kunst eben auch Kritik, Systemstörung, Hinterfragen | |
von Prämissen und Unterwandern von Erwartungen sein kann. Oder, in | |
Abwesenheit solcher Konzepte, wenigsten eine superlangsame, doch | |
erkenntnisfördernde Fahrt mit einer Museumsbank durch den Gropius-Bau. | |
5 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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