| # taz.de -- Multimedia-Kunst von Philippe Parreno: Vom Zufall zur Magie | |
| > Der französische Multimediakünstler Philippe Parreno verwandelt den | |
| > Berliner Gropius-Bau in eine sinnliche Erlebniswelt. | |
| Bild: Virtuelle Ansicht der Philippe Parreno-Ausstellung im Gropius-Bau | |
| Falls es sich beim [1][Berliner Gropius-Bau] um ein Beispiel dafür handelt, | |
| was der britische Science-Fiction-Autor J. G. Ballard einmal als | |
| „psychotropische Häuser“ bezeichnete, muss man vermuten, das sich in dem | |
| Museumsgebäude einmal etwas überaus Schreckliches zugetragen hat. | |
| Ein sonderbares Eigenleben macht sich nämlich im Erdgeschoss bemerkbar: | |
| Jalousien öffnen und schließen sich von selbst, Bilder leuchten auf und | |
| verschwinden wieder, Flügel beginnen urplötzlich und ohne menschliches | |
| Zutun zu spielen, Steine sprechen, Lichter flackern, Wasser kräuselt sich | |
| zu Seerosen, Räume sind von nicht zuordenbaren Geräuschen, Straßenlärm, | |
| Radio, Stimmen, Rauschen erfüllt. Versucht der Museumsbau auf diese Weise, | |
| ein Trauma abzuschütteln? | |
| Glücklicherweise sind derlei Sorgen um das psychische Wohlbefinden des | |
| Gropius-Baus unbegründet. Verantwortlich für den Spuk ist vielmehr Philippe | |
| Parreno, der über den Sommer den Lichthof und die angrenzenden Räume | |
| bespielt und einen dabei tatsächlich das Fürchten lehren kann, zumindest | |
| wenn man sich allein durch seine unbetitelte Ausstellung bewegt. | |
| Das wird allerdings nicht gerade häufig der Fall sein, so herrlich | |
| sinnlich, wie die erste Einzelausstellung, die dem 54-jährigen | |
| französischen Multimediakünstler in Deutschland gewidmet wurde, inszeniert | |
| ist. | |
| Endlich, muss man sagen. Parreno, Filmemacher, Zeichner, Bildhauer, | |
| Installationskünstler, kann zwar bereits unter anderem Einzelausstellungen | |
| in so renommierten internationalen Institutionen wie dem Centre Georges | |
| Pompidou in Paris, der Kunsthalle Zürich, der Serpentine Gallery in London, | |
| der Fondation Beyeler in Basel, dem Garage Museum of Contemporary Art in | |
| Moskau, dem Palais de Tokyo in Paris oder der Tate Modern in London | |
| vorweisen und auch einige Soloauftritte in seiner Berliner Galerie Esther | |
| Schipper, aber noch keine in einer Institution in Deutschland. | |
| Eintauchen in Erfahrungsräume | |
| Die Programmreihe „Immersion“ der Berliner Festspiele kam da gerade recht, | |
| denn kaum ein anderer Künstler ist für das Vorhaben, Erfahrungsräume zu | |
| kreieren, in die man als Besucher*in eintauchen kann, so geeignet wie | |
| Parreno. | |
| Das Eintauchen in seine Vorstellungswelt führt mitunter zu gehörigen | |
| Irritationen. Für einen passiv-kontemplativen Ausstellungsbesuch, ein | |
| sittsames Vorbeischlendern an Exponaten eignet sich diese nämlich nur | |
| bedingt. Vielmehr betritt man scheinbar leere Räume, in denen jedoch | |
| Lautsprecher angebracht wurden oder die schon genannten Jalousien und auch | |
| die Grundausstattung zum Teil der Inszenierung wird. | |
| Man selbst als Betrachter*in derselben gleichsam auch, weil man | |
| irgendwann beginnt, sich dem Rhythmus anzupassen, sich im Zickzack hin und | |
| her zu bewegen, um ja nichts von dem magischen Geschehen zu verpassen. | |
| Überhaupt dieser Rhythmus. Gibt es einen? Bisweilen meint man, einen | |
| solchen erkennen zu können, Muster, Synchronizitäten – und dann wieder | |
| nicht. Also Zufall? Auch nicht wirklich. Mallarmé zitierend kokettiert | |
| Parreno damit und führt doch wieder in die Irre. Dem bloßen Zufall | |
| überlässt er ziemlich wenig, vielmehr, so suggeriert er, entscheidet eine | |
| höhere Instanz über den Prozess. | |
| Durch den Eingang östlich des Lichthofs gelangt man ins Hirn des | |
| Organismus, der sich Ausstellung nennt. In einem Bioreaktor werden dort | |
| Mikroorganismen kultiviert, und mit den aus den Aktivitäten gewonnenen | |
| Daten wird ein Algorithmus gespeist, der das Ausstellungsgeschehen in Gang | |
| hält. | |
| Werden und Vergehen | |
| Parreno liefert dafür auf dem Raumplan sogar die passende Formel. Es ist | |
| eine Laboranordnung wie aus dem Bilderbuch, viel zu hübsch anzusehen, um | |
| wirklich glauben zu machen, dass es sich dabei um ein biochemisches | |
| Experiment handelt. Wie auch immer. Eines ist sie gewiss: ein Symbol für | |
| das Thema, um das sich im Endeffekt alles bei Parreno dreht: Sein und | |
| Nichtsein, Werden und Vergehen. | |
| Die Hefekulturen teilen sich, mutieren, bilden einen ewigen Kreislauf des | |
| Lebens. Und ob Zufall, Algorithmus oder Choreografie, die Folge ist, dass | |
| man unzählige Male wiederkommen könnte, an einem anderen Tag, zu einer | |
| anderen Tageszeit – zu sehen bekäme man jedes Mal etwas anderes. | |
| Eigentlich sind aber schon die Fische Grund genug für einen weiteren | |
| Besuch. Parreno hat ein Aquarium in den Gropius-Bau verlegt, nur ohne | |
| Wasser. Fliegende Fische, heliumgefüllte Luftballons bewegen sich in einem | |
| mit orangefarbener Folie verklebten Raum schwebend durch die Luft. Sie | |
| tanzen um die Besucher*innen herum, teilweise auch mit ihnen. Die Schönheit | |
| der Schwerelosigkeit, so bezaubernd erlebt man sie selten. | |
| Parrenos Filme gehen angesichts dieser Konkurrenz fast unter. Zwei sind zu | |
| sehen, ältere Arbeiten, „Anywhen“ aus dem Jahr 2016 und „The Crowd“ au… | |
| Jahr 2015, die Parreno für die Berliner Schau jedoch verändert hat. Erstere | |
| zeigt einen Oktopus in Nahaufnahme, zu dem eine weibliche Stimme über das | |
| unaufhaltsame Vergehen der Zeit spricht. Oder auch: nichts. Mitunter bleibt | |
| die Leinwand dunkel, besser gesagt hell. Sound und Lichtreflexe bilden dann | |
| ein audiovisuelles Substitut. Bewegtbild aus, Kopfkino an. | |
| Ob man das noch hinterfragt, scheint davon abzuhängen, wie lange man sich | |
| schon in der Ausstellung befindet. Wie sagte noch gleich der Stein ganz am | |
| Ende des Parcours? „Form in der Form in der Form in der Form. Form in der | |
| Form in der Form in der Form … Form in der Form – wo soll das enden?“ Nic… | |
| so bald, hoffentlich. | |
| 18 Jun 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/programm_… | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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