| # taz.de -- Neuer Kinotrend Screen Movies: Psychogramm im Browserverlauf | |
| > Im Kino sehen, was andere am Bildschirm gucken: „Screen Movies“ wie der | |
| > Thriller „Searching“ bieten neue erzählerische und ästhetische Mittel. | |
| Bild: David Kim (John Cho) in „Searching“ | |
| Wie unterhält man Menschen, die tagsüber acht Stunden und länger auf die | |
| Bildschirme von Computern und Smartphone starren, auf der Tastatur tippen, | |
| auf Links und Buttons klicken – also wohl inzwischen die Mehrheit der | |
| Bewohner der vernetzten Welt? | |
| Man zeigt ihnen einfach, was andere Leute auf ihrem Bildschirm sehen, wenn | |
| sie auf der Tastatur tippen und auf Links und Buttons klicken. Das ist auf | |
| jeden Fall die Methode des kasachischen Regisseurs und Produzenten Timur | |
| Bekmambetov, der derzeit versucht, „Screen Movies“ als eine Art eigenes | |
| Genre zu etablieren. | |
| Bekmambetov ist eigentlich durch Monumentalfilme voller aufwendiger | |
| Spezialeffekte bekannt geworden. Nach dem internationalen Erfolg seiner | |
| russischen Fantasyfilme „Wächter der Nacht“ (2004) und „Wächter des Tag… | |
| (2006) drehte er in Hollywood Blockbuster wie „Wanted“ (2008), „Abraham | |
| Lincoln Vampirjäger“ (2012) und „Ben Hur“ (2016), bevor er sich in den | |
| letzten Jahren auf eine neue Art von billigen, digitalen B-Movies | |
| konzentrierte. „Screen Movies“ nennt Bekmambetov diese Filme, die | |
| ausschließlich auf dem Desktop eines Computers spielen – man sieht nur, was | |
| auch der Protagonist auf dem Monitor seines Rechners sieht. | |
| 2015 hat Bekmambetov einen ersten Horrorfilm mit dieser Technik produziert: | |
| „Unknown User“, inszeniert von Levan Gabriadze, bei dem eine Gruppe von | |
| Jugendlichen einer nach dem anderen vor der Webcam abgemurkst werden. Die | |
| Produktion kostete eine Million Dollar und spielte 64 Millionen Dollar ein | |
| – kein Wunder, dass Bekmambetov seither daran arbeitet, aus dem Gimmick | |
| einen eigenen Filmstil zu entwickeln. | |
| „Searching“, ein Krimi über einen Vater auf der Suche nach seiner | |
| entführten Tochter, ist ein neues Resultat dieses Versuchs, und nicht der | |
| einzige. Noch in diesem Jahr kommt mit „Unfriended: Dark Web“ eine | |
| Fortsetzung von „Unknown User“ in die deutschen Kinos. Nur auf Festivals | |
| war bisher „Profile“ zu sehen, in dem eine britische Journalistin per Skype | |
| eine Beziehung mit einem IS-Kämpfer eingeht. Derzeit in Produktion ist | |
| „Liked“, eine Onlineversion von „Cyrano de Bergerac“ und eine noch | |
| namenlose Snapchat-Fassung von „Romeo und Julia“. | |
| In Interviews hat Bekmambetov außerdem einen Fantasyfilm mit dem Titel | |
| „Wizard of OS“ und die Komödie „How Old People Use the Internet“ | |
| angekündigt. Insgesamt will er in den nächsten anderthalb Jahren vierzehn | |
| derartige Filme produzieren. Dafür beauftragt er experimentierfreudige | |
| Nachwuchsregisseure wie bei „Searching“ Aneesh Chaganty, der 2014 den | |
| Kurzfilm „Seeds“ mit der Google-Brille Glass gedreht hat – damals ein | |
| viraler Hit auf YouTube. | |
| So ist Bekmambetov im Begriff, für den Desktop-Film das zu werden, was | |
| Brian De Palma für den Split Screen oder Lars von Trier und Thomas | |
| Vinterberg für verwaschene, unscharfe Digitalvideos mit schlechter | |
| Auflösung waren: In den von ihm produzierten „Screen Movies“ wird aus einer | |
| filmtechnischen Innovation eine neues narratives und ästhetische | |
| Instrument. | |
| Apropos „Dogma-Filme“: Nach der Fertigstellung von „Unknown User“ verfa… | |
| Bekmambetov sogar ein Manifest des „Screen Movies“. Als eine Art | |
| Aristoteles des Desktop-Kinos verkündete er, dass solche Filme durch die | |
| Einheit von Ort, Zeit und Ton auf dem Desktop gekennzeichnet seien. | |
| Tatsächlich spielte sich die Handlung in „Unknown User“ in Echtzeit auf nur | |
| einem Computerbildschirm ab und wurde auch in einem einzigen Take gedreht. | |
| ## Erzähltechnisch weiterentwickelt | |
| „Searching“ zeigt, wie sich die „Screen Movies“ seither erzähltechnisch | |
| weiterentwickelt haben. Regisseur und Ko-Drehbuchautor Aneesh Chaganty | |
| spielt für das Genre die Rolle, die für das Theater einst Lessing einnahm, | |
| der bekanntlich die Einheit von Ort und Zeit auf den Müllhaufen der | |
| Literaturtheorie beförderte und nur die Einheit der Handlung beibehielt, | |
| die sich seither über einen längeren Zeitraum und an diversen Schauplätzen | |
| abspielen kann. | |
| So beginnt „Searching“ damit, dass ein gutes Jahrzehnt Lebenszeit durch den | |
| Wechsel von Betriebssystemen und Software und das sich ändernde Google-Logo | |
| erzählt wird. Die Kindheit der Protagonistin Margot (Michelle La) und der | |
| Krebstod ihrer Mutter (Sara Sohn) spielen sich in der Form von digitalen | |
| Fotos und Videos, Kalendereinträgen, Suchmaschinenanfragen und | |
| Kurznachrichten auf einem PC mit Windows XP ab. Und es ist tatsächlich | |
| richtig traurig, wenn der Cursor den Kalendereintrag „Mama im Krankenhaus | |
| besuchen“ Richtung Papierkorb-Icon schiebt, weil diese verstorben ist. | |
| Wir sehen, wie Margot vom Kleinkind zur Teenagerin heranwächst, während der | |
| Instant Messenger durch Facebook ersetzt und die Auflösung der | |
| YouTube-Videos immer besser wird. Früher wäre das Vergehen der Zeit | |
| vielleicht mit fallenden Blättern, rieselndem Schnee und erblühenden | |
| Frühlingsblumen dargestellt worden. In „Searching“ wird die Vergangenheit | |
| durch den Windows-Bildschirmhintergrund „Grüne Idylle“ von 2001 evoziert. | |
| ## Erinnerungen an eine vergangene Epoche | |
| Und erschreckenderweise bringt der – mit seinem blauem | |
| Schäfchenwolken-Himmel und der sanft ansteigenden Sommerwiese – beim | |
| Zuschauer tatsächlich Erinnerungen an eine vergangene Epoche zurück wie | |
| einst die Madeleine in Prousts „Auf der Suche nach verlorenen Zeit“! Dann | |
| sind wir in der Gegenwart und auf dem Bildschirm eines aktuellen MacBook. | |
| Das hat den Vorteil, dass man dank der umfassenden Integration aller | |
| Apple-Geräte auch Telefonate mit dem iPhone und Videostreams mit dem | |
| Programm Face Time auf den Monitor übertragen bekommt. | |
| Regisseur Aneesh Chaganty hat dadurch ein ganzes Arsenal von mobilen | |
| Kameras zur Verfügung, um zu erzählen, wie David Kim (John Cho aus „Star | |
| Trek“) nach seiner Tochter sucht, die auf unerklärliche Weise verschwunden | |
| ist. (Der alte Windows-PC kommt später nochmal zum Einsatz, um als eine Art | |
| Rückblende zu fungieren!) | |
| Auf der Suche nach Hinweisen über den Verbleib von Margot knackt Vater | |
| David ihren Laptop und beginnt anhand von Dateien auf dem Computer, | |
| Chatprotokollen und Social-Media-Postings ihr geheimes Online-Leben zu | |
| erforschen. Dunkle Geheimnisse verbergen sich also nicht mehr nur in | |
| düsteren Schlössern oder im Keller von Vorstadthäusern, sondern auch in | |
| Datenresten auf dem Computer. Und Festplatte und Browserverlauf können das | |
| zunehmend verstörende Psychogramm einer verschwundenen Teenagerin liefern. | |
| ## Innovativ und aufregend | |
| Der Plot ist ehrlich gesagt kein wirklicher Grund, sich diesen Film | |
| anzusehen. Doch die Art, wie Aneesh Chaganty seine Geschichte erzählt, ist | |
| innovativ und aufregend. Anders als in „Unknown User“ starren wir nicht 90 | |
| Minuten lang auf einen Desktop; Chaganty vergrößert immer wieder Details | |
| heraus, so dass wir keine aufploppende Textmessage und kein wichtiges | |
| Chat-Emoji übersehen. Wenn der Cursor die verschiedenen Interface-Fenster | |
| zu immer neuen Text-Bild-Kompositionen verschiebt, entsteht eine | |
| ideenreiche Form der Montage, bei der die Bilder nicht mehr linear | |
| aufeinanderfolgen, sondern gleichzeitig ablaufen und sich gegenseitig | |
| kommentieren. | |
| Erkenntnisprozesse des Protagonisten werden durch seine Internetsuchen | |
| visualisiert. Seine Gedankengänge können wir mitverfolgen, wenn er E-Mails | |
| schreibt, wieder löscht und neu formuliert. So entsteht ein unglaublich | |
| ökonomischer und wahnsinnig schneller Erzählstil, der einen nebenbei auch | |
| daran erinnert, wie tief sich solche Vorgänge schon in unser Bewusstsein | |
| eingeprägt haben. Die Websites und Programm-Oberflächen funktionieren zum | |
| Teil fast wie eigene Protagonisten. Wer nicht regelmäßig und extensiv mit | |
| Computern arbeitet, dürfte darum schnell nur noch Bahnhof verstehen. Gegen | |
| Ende des Films werden einige Sequenzen allerdings unplausibel – wie kommt | |
| zum Beispiel das Video eines Polizeiverhörs auf den Rechner unseres Helden? | |
| Dem Kino sind durch die Digitalisierung riesige Bildreservoirs verloren | |
| gegangen. Physische Aktion und körperliche Arbeit, die man auf bewegten | |
| Bildern festhalten kann, wurden ersetzt durch immaterielle Prozesse in | |
| Computern und Netzen, die kein Augenfutter und keine Motive für die Kamera | |
| mehr liefern. Es ist Timur Bekmambetov darum hoch anzurechnen, dass er doch | |
| wieder versucht, den gesichtslosen digitalen Geräten Bilder abzutrotzen und | |
| Geschichten zu erzählen, die sich nur noch auf Monitoren abspielen. | |
| Die Methoden von ihm und seinen Regisseuren mögen in dieser Hinsicht nicht | |
| das letzte Wort sein. Aber er hat hier auf jeden Fall Neuland betreten – | |
| sowohl ästhetisch und visuell, aber auch in puncto Produktion: „Bei diesen | |
| Filmen sitzt einem niemand mehr im Nacken“, sagt er in einem Interview mit | |
| IndieWire. „Das Budget ist so klein, dass man keine Filmstudios mehr | |
| braucht. Das ändert alles in der Filmindustrie. Du bist frei.“ | |
| 20 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Tilman Baumgärtel | |
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