# taz.de -- Italien und die Geflüchteten: Ertrinken lassen, aber freundlich | |
> Die Italiener sehen sich selbst gern als anständige Leute. Fragt sich | |
> nur, warum sie sich ausgerechnet eine rechte Regierung zugelegt haben. | |
Bild: In Italien nicht willkommen: die 629 Geretteten, inzwischen auf der „Aq… | |
Von ihren jeweiligen Mythen können alle Nationen ein Lied singen. Nur | |
hierzulande ist man vorsichtiger geworden: Dass Deutschland über alles | |
gehe, ist dahingehend abgewandelt worden, dass der deutsche | |
Exportüberschuss über alles gehen müsse. | |
Die BewohnerInnen Italiens wiederum müssen sich gerade verschärft fragen | |
und fragen lassen, wer und wie sie eigentlich sein wollen – seit ihr | |
Innenminister Matteo Salvini, Chef der rechtspopulistischen Partei Lega, | |
die Häfen der Halbinsel [1][für das Rettungsschiff „Aquarius“ mit 629 | |
Flüchtlingen an Bord gesperrt] hat. | |
Waren sie nicht immer die [2][„Italiani, brava gente“], die netten, die | |
guten Leute? Die den Krieg ihres – offensichtlich vom Himmel gefallenen – | |
faschistischen Führers Benito Mussolini ablehnten, die die Juden vor den | |
deutschen Nazibarbaren beschützt haben, die sich schließlich dank der | |
Partisaninnen und Partisanen selbst von Diktatur und Fremdherrschaft zu | |
befreien vermochten? Und die ja keine Rassisten sein können, weil sie | |
selbst in alle Welt emigriert und oft diskriminiert und verfolgt worden | |
seien? | |
Die Wirklichkeit ist komplexer. Zur aktuellen politischen Dimension [3][hat | |
Michael Braun bereits alles geschrieben]: Die anderen europäischen | |
Regierungen, die sich hinter dem Dublin-Abkommen verschanzen, „sind die | |
Letzten, die jetzt das Recht hätten, im Namen der Menschenrechte Italien zu | |
geißeln“. Dass das Land mit dem Problem alleingelassen werde, sei | |
nationaler Konsens. | |
Das stimmt. Und doch ist damit nichts darüber gesagt, wie nun konkret | |
umzugehen sei mit den Menschen in Seenot. [4][Gino Strada], der Gründer der | |
Hilfsorganisation Emergency, spricht von „Rassisten und Bullen“, die | |
Italien heute regieren. Gleichzeitig quellen die Kommentarseiten zu den | |
Posts von Salvini und seinem Kollegen Luigi di Maio von der | |
Fünf-Sterne-Bewegung vor hasserfüllter Zustimmung zur Grenzen-dicht-Politik | |
geradezu über. Politisch profitiert Salvini enorm von seiner verächtlichen | |
Kampagne – was um so wichtiger ist, als die neue Regierung voraussichtlich | |
eben ausschließlich im Kampf gegen die Schwächsten Erfolge wird erzielen | |
können. | |
Sehr zupass kommt den Populisten dabei, dass Italien seine Geschichte von | |
Kolonial- und Kriegsverbrechen nie aufgearbeitet hat. Die mindestens | |
350.000 Toten in der Folge des faschistischen Überfalls auf Äthiopien 1935 | |
– damals Abessinien – spielen im nationalen Gedächtnis ebenso wenig eine | |
Rolle wie die Massaker bei der Eroberung Libyens 1911, an die ausgerechnet | |
Oberst Gaddafi 2009 bei seinem ersten offiziellen Staatsbesuch in Italien | |
erinnerte, indem er sich das Bild des in Ketten vorgeführten libyschen | |
Nationalhelden Umar al-Muchtar ans Revers seiner Uniform heftete. | |
## Was fehlt? Eine linke Volkspartei | |
Kein einziger verantwortlicher Militär wurde für die Kriegsverbrechen der | |
italienischen Armee in Jugoslawien, Griechenland und Albanien während des | |
Zweiten Weltkriegs zur Rechenschaft gezogen, ein italienisches Nürnberg hat | |
es nie gegeben: Man sei halt stets „brava gente“ geblieben, die fremden | |
Völkern nicht Giftgas und Internierungslager, sondern Pasta, [5][amore] und | |
Zivilisation gebracht hätten – und jetzt reicht es ihnen eben mit der | |
„Invasion“. | |
Will man diesen italienischen Mythos kritisieren, kann man nicht nur nach | |
rechts gucken. Der untergegangenen Kommunistischen Partei Italiens war es | |
durchaus recht, sich dank der Resistenza sozusagen als Vorkämpfer der | |
nationalen Befreiung darstellen zu können. Wer gestern noch die | |
Faschistenhymne „Giovinezza“ geträllert hatte, kam nach Kriegsende meist | |
ungeschoren davon, wenn er nur zügig zum Partisanengassenhauer „Bella ciao“ | |
überwechselte. | |
Gleichzeitig ist es aber eben das, was heute in Italien fehlt und was die | |
verstreuten Intellektuellen nicht müde werden zu beklagen: Eine linke | |
Volkspartei, die den Leuten nicht nach dem Mund redet, sondern Migration | |
aktiv politisch, human und sozial gestaltet – im Mittelmeer wie in Brüssel | |
und in Berlin. Aber die – fehlt ja nun nicht nur in Italien. | |
12 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Hafen-fuer-Schiff-mit-Fluechtlingen-gesperrt/!5512798 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Brava-Gente-Mythos | |
[3] /!5509228 | |
[4] https://www.welt.de/politik/ausland/article177339790/Haefen-geschlossen-Ita… | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Faccetta_Nera | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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