# taz.de -- Flüchtlingsrettung per Telefon: Hamburgs Ohren auf dem Mittelmeer | |
> Miriam Edding hat das „Alarmphone“ mit initiiert, das Geflüchtete in | |
> Seenot anrufen können. Die psychische Belastung für die Aktivist*innen | |
> ist enorm. | |
Bild: Telefonieren für das Leben: Miriam Edding in ihrem Hamburger Büro | |
Wenn Miriam Edding anfängt von den Dramen zu erzählen, die jeden Tag auf | |
den kleinen Booten und Schiffen auf dem Mittelmeer passieren, dann macht | |
sie das sehr aufgeräumt, beinahe nüchtern. Nur selten blitzt die Empörung | |
auf, die sie angesichts dieser Zustände empfindet. „Natürlich ist das | |
belastend, denn man kann sich jede Szene gut vorstellen. Gleichzeitig ist | |
es wichtig, eine Grenze dazu aufzubauen“, sagt sie. | |
Denn auch wenn sie eine Freiwillige ist, verlangt ihre Aufgabe nüchterne | |
Professionalität: Die Hamburgerin hat vor vier Jahren die Initiative „Watch | |
the Med“ mitgegründet, die das „Alarmphone“ betreibt. Seitdem erreichen … | |
Notrufe von Geflüchteten, die bei ihrer Überfahrt auf dem Mittelmeer in | |
Seenot geraten sind. Die Aktivist*innen am Alarmphone versuchen dann, | |
schnellstmöglich Hilfe zu organisieren. | |
Anlass, einen privaten Notruf auf die Beine zu stellen, waren die | |
steigenden Zahlen von Ertrunkenen im Mittelmeer. „Besonders als die EU | |
Italien mit seiner Rettungsmission ‚Mare Nostrum‘ im Stich ließ und die | |
Mission endete, musste etwas geschehen“, sagt Edding. Seitdem ist das | |
Alarmphone rund um die Uhr besetzt. Die Nummer ist in den entsprechenden | |
Communitys inzwischen weitgehend bekannt. | |
## Flüchtlingsrettung im Schichtbetrieb | |
Das Netzwerk „Watch the Med“ besteht aus etwa 120 Aktiven, die jeden Tag | |
drei Acht-Stunden-Schichten untereinander aufteilen. Die meisten von ihnen | |
kommen aus Deutschland, viele auch aus Frankreich, der Schweiz oder Italien | |
sowie Marokko und Tunesien. Das Prinzip des Alarmphones funktioniert so, | |
dass die französische Nummer, ähnlich wie in einem Callcenter, den Anruf an | |
die Personen weiterleitet, die gerade Schicht haben. | |
Kommt ein Anruf oder einer Whatsapp-Nachricht rein, arbeiteten Edding und | |
die anderen Aktivisten einen Aufgabenkatalog ab. „Wir fragen zunächst, wie | |
viele Menschen an Bord sind, wie dramatisch die Lage ist und wo genau sie | |
sich befinden“, sagt Edding. Anhand der Koordinaten können sie | |
herausfinden, welche Küstenwache alarmiert werden muss. Der Kontakt mit den | |
Küstenwachen erfordere Fingerspitzengefühl, sagt Edding. Einerseits müssen | |
sie Druck machen, andererseits kooperieren. Das ist nicht immer einfach. | |
Wenn Edding Schicht hat, macht sie das üblicherweise von Hamburg-Altona | |
aus, wo sie wohnt. Die zweite aktive Person sitzt meist in einer anderen | |
Stadt, meist sogar in einem anderen Land. „Per Skype oder Whatsapp | |
kommunizieren wir dann miteinander und organisieren uns“, sagt Edding. | |
Letztlich braucht es also nur ein Smartphone und einen Laptop – und viel | |
Zeit. Im Schnitt drei Mal im Monat übernehmen die Aktivist*innen eine | |
Schicht. Weniger darf es nicht sein. „Unser Versprechen ist, dass wir immer | |
erreichbar sind. Wenn wir das nicht einhalten würden, wäre die Arbeit | |
hinfällig.“ | |
„Natürlich hat diese Arbeit langfristige Effekte auf einen“, sagt Edding. | |
„Irgendwann steht man einfach nur noch unter Anspannung.“ Mittlerweile hat | |
sie ein Stück weit Distanz aufgebaut – alles andere wäre wohl auf Dauer | |
auch nicht aushaltbar. Als die Situation im Mittelmeer vor zwei Jahren | |
eskalierte, gab es manchmal 20 Anrufe in einer Nachtschicht. | |
Besonders belastend ist es für die Aktiven, wenn die Rettung nicht gelingt. | |
Seit 2013 gab es nach Angaben von Hilfsorganisationen jährlich mehrere | |
tausend Tote auf dem Mittelmeer. „Es hilft, mit den anderen Aktiven darüber | |
zu reden“, sagt Edding. In Hamburg hat ein Psychologe seine Hilfe | |
angeboten. | |
Und dennoch: Mit dieser Arbeit aufzuhören, kommt für Miriam Edding nicht | |
infrage. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit Migration und Flucht. Sie ist | |
in vielen Initiativen und Vereinen aktiv, vor zwölf Jahren gründete sie die | |
Do-Stiftung, die Projekte für Migrant*innen und Geflüchtete fördert. Es ist | |
ihr großes Thema. | |
Dabei zeigt sich allerdings gerade bei der Arbeit mit dem Alarmphone, dass | |
der gute Wille allein nicht reicht. „Ich komme auch nicht aus einer | |
Generation, die mit Smartphones aufgewachsen ist“, sagt Edding. Eine | |
technische Grundahnung sei aber nötig, es müssen etwa Schiffsbewegungen | |
getrackt werden, um herauszufinden, welche Schiffe retten können. Das hat | |
sie sich im Laufe der Zeit erarbeitet. Natürlich seien Helfer*innen immer | |
willkommen, aber: „Man muss gut wissen, was man leisten kann.“ Die | |
Einarbeitung dauere Wochen bis Monate, wenn Leute dann wieder abspringen, | |
sei das zwar verständlich, aber eben auch verlorene Zeit. „Manche von uns | |
sind schon längst überlastet“, sagt Edding. | |
Gute Erfahrungen hat das Netzwerk mit kleineren Gruppen gemacht, die | |
untereinander die Schichten organisieren. So gibt es eine Gruppe aus | |
Berlin, die eigentlich ein Freundeskreis ist und sich eine Schicht teilt. | |
So liegt die Belastung auf mehrere Schultern. | |
## Aktivist*innen werden als Schlepper dargestellt | |
Zu schaffen machen Edding und ihren Mitstreiter*innen die europäische | |
Geflüchteten-Politik. „Während vor wenigen Jahren noch weitgehend der | |
Konsens bestand, dass alles gegen das Ertrinken im Mittelmeer unternommen | |
werden muss, werden Aktivist*innen mittlerweile als Schlepper dargestellt“, | |
sagt Edding. Die Initiative will sich darum auch nicht auf die | |
Notruf-Arbeit beschränken. „Wir verstehen uns nicht allein als | |
Seenotretter*innen, sondern auch als politische Aktivist*innen“, sagt | |
Edding. | |
Dass das Alarmphone in den nächsten Jahren unnötig wird, glaubt Edding | |
nicht. „Dieser menschenfeindliche Rollback, den wir gerade in Europa | |
erleben, macht unsere Arbeit weiterhin nötig“, sagt sie. Zwar sind auf dem | |
Mittelmeer auch private Rettungsschiffe wie die „Aquarius“ aktiv, die | |
vorige Woche mit zwei Begleitschiffen mehr als 600 in Seenot geratene | |
Geflüchtete aufnahm. Doch weder die italienische noch die maltesische | |
Regierung erlaubten den Helfern, die Menschen an Land zu bringen. | |
Schließlich erbarmte sich die neue sozialistisch geführte Regierung in | |
Spanien, ohne freilich daraus einen Präzedenzfall machen zu wollen. | |
„Wir sehen, dass derzeit versucht wird, die privaten Rettungsschiffe | |
lahmzulegen“, sagt Edding. Allein schon deswegen müsse das Alarmphone | |
weiter betrieben werden. „Wenn mit den Schiffern die Augen auf dem | |
Mittelmeer verloren gehen, sind wir als die Ohren immerhin noch da“, sagt | |
Edding – in Hamburg, so weit weg vom Sterben im Mittelmeer. Und doch so nah | |
dran. | |
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23 Jun 2018 | |
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## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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