# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Wir brauchen eine „Talking Cure“ | |
> Die Gesellschaft sei fast „libidinös“ darauf fixiert, über Migration zu | |
> sprechen, findet unsere Autorin. Für einen Gesprächsmodus hätte sie eine | |
> Idee. | |
Bild: Warum sprechen fast alle über sie, die wenigsten aber mit ihnen? Geflüc… | |
Wie redet man über Migration? Das ist die zurzeit wohl akuteste politische | |
Frage. In den 1980er Jahren ging es darum, nicht im Namen der Unterdrückten | |
zu sprechen. Die Ausgeschlossenen sollten selbst das Wort ergreifen. Heute | |
gibt es eine andere Dringlichkeit. Denn die Rechten haben das Sprechen über | |
Fremde zu ihrem Atout gemacht. | |
Sollte man dieses verminte Terrain lieber meiden? Aber wenn sich die | |
Emotionen bei der „Ausländerfrage“ ballen, wenn die Leidenschaften genau | |
hier investiert sind, kann man dann sagen: Reden wir über etwas anderes? | |
Akut wird ein Problem nicht ob seiner realen Größe, sondern ob der | |
Intensität der Gefühle, die es weckt. Dass kein anderes Thema greift, ist | |
ein Hinweis auf die Größe der investierten Emotionen. Ein Hinweis auf die | |
Umcodierung eines realen Problems in ein existenzielles. Es ist diese | |
Aufladung, die eine fast libidinöse Fixierung auf das Thema Migration | |
erzeugt. | |
Wenn wir also darüber reden müssen, dann braucht es etwas, das man dem um | |
sich greifenden negativen Diskurs entgegenhalten kann. Ein neues Narrativ? | |
Vielleicht braucht es ja etwas ganz anderes – keine neue Erzählung, sondern | |
eine neue Art der Gesprächsführung: Wie redet man über Migration? | |
## Benennt die Probleme! | |
Der springende Punkt ist der Umgang mit Problemen: Probleme von und mit | |
Migranten. So werfen die Rechten den Linken – oder den Pappkameraden, die | |
sie dafür halten – vor, diese Probleme nicht zu sehen, unter den Teppich | |
kehren zu wollen, zu verschweigen. Ihre Forderung lautet: Gebt zu, dass es | |
Probleme gibt! Benennt diese Probleme! | |
Mal abgesehen davon, dass nicht einmal das eingefleischteste Klischee eines | |
linksgrünen Gutmenschen meinen würde, eine so massive Veränderung wie die | |
der Pluralisierung würde problemfrei über die Bühne gehen – was heißt es | |
eigentlich, diese Probleme zu benennen? | |
Heißt es zugeben, dass es Probleme bei der Integration gibt – und dann nach | |
möglichen Lösungen zu suchen? Oder wird es nicht vielmehr ins Gegenteil | |
verkehrt? Soll das Benennen der Probleme nicht genau den Beleg liefern, | |
dass es keine Lösungen gibt? Keine außer der Maximallösung (die zugleich | |
die Maximalillusion ist), die da lautet: Wenn die alle weg wären, wäre | |
alles gut. Wie kann man Probleme der Integration benennen, wenn jedes | |
„Zugeben“ als Eingeständnis für ein Nichtfunktionieren genommen wird, für | |
die Unmöglichkeit von Zusammenleben, von Integration? | |
Ja, es gibt Probleme. Migration schafft Probleme. Niemand kann behaupten, | |
dass das eine leichte Aufgabe ist. Es ist eine gesamtgesellschaftliche | |
Herausforderung – logistisch, ökonomisch, bildungspolitisch, kulturell, | |
auch sicherheitstechnisch. Aber die emotionale Aufladung verhindert einen | |
nüchternen, pragmatischen Umgang. Reale Probleme mischen sich mit den | |
eigenen Vorbehalten. | |
## Für viele sind Fremde per se bedrohlich | |
Das ist die erste Hürde der gesuchten Gesprächsführung. Wie kann man das | |
auseinanderhalten? Wie unterscheidet man Kritik am Verhalten der Fremden | |
vom kulturellen Unbehagen an ihrem Hiersein? Heißt das, man muss über | |
Migranten als Opfer und Migranten als Täter sprechen? | |
Aber da sind wir schon bei der zweiten Hürde. Denn dieser Gegensatz | |
zwischen Opfer, arm, und Täter, bedrohlich, ist für viele gar kein | |
Gegensatz. Für viele sind die Fremden in jedem Fall bedrohlich. Nicht nur | |
als Täter, sondern auch als hilflose Opfer, die versorgt werden müssen. In | |
diese emotionale, reale und imaginierte Gemengelage hinein muss das | |
Gespräch eine Bresche schlagen. | |
Es ist heute für Politiker und für die Gesellschaft überlebenswichtig, | |
einen Gesprächsmodus zu finden. Die Gesellschaft braucht eine Talking Cure. | |
Eine, die das Reden zulässt und zugleich dagegenhält. Dazu müssen Politiker | |
zu Politiker-Therapeuten werden. Man müsste die besten Köpfe, die | |
versiertesten Experten versammeln: Soziologen, Psychotherapeuten, | |
Theologen, um einen Modus des Sprechens, eine Art der Gesprächsführung zu | |
entwickeln. Es braucht einen richtigen Leitfaden, eine Anleitung: Wie redet | |
man über Migration? | |
29 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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