| # taz.de -- Abschluss des Filmfestivals in Cannes: Plädoyer für Wahlverwandts… | |
| > Hirokazu Koreeda hat die Goldene Palme bekommen. Das ist eine souveräne | |
| > Entscheidung der Jury unter dem Vorsitz von Cate Blanchett. | |
| Bild: Regisseur Hirokazu Koreeda und seine Schauspielerinnen und Schauspieler | |
| Hirokazu Koreeda ist ein Mann. Als Japaner ist er nicht im engeren Sinne | |
| weiß zu nennen, und mit Jahrgang 1962 zählt er nicht mehr zu den jüngsten | |
| Filmemachern, doch zum Altmeister reicht das auch noch nicht. Vor allem | |
| aber ist er ein herausragender Regisseur und Erzähler. | |
| Dass Koreeda in Cannes jetzt die Goldene Palme für seinen Film | |
| „Shoplifters“ bekommen hat, ist eine gute Entscheidung. Die Geschichte um | |
| eine deutlich unter der Armutsgrenze lebende Familie, deren Zusammensetzung | |
| sich am Ende als ziemlich anders als erwartet herausstellt, verbindet eine | |
| intelligent konstruierte, unerbittlich auf gern verdrängte soziale | |
| Realitäten blickende Handlung so zwingend mit entwaffnender Sanftheit und | |
| einer pathosfrei eingearbeiteten Botschaft – einem Plädoyer für | |
| Wahlverwandtschaft –, dass man sich für die eigenen Gefühle nicht schämen | |
| muss. | |
| „Shoplifters“ hat zudem eine wunderbar aufeinander abgestimmte Besetzung | |
| von sehr jung bis ganz alt, die ihn zu einem der Favoriten unter Kritikern | |
| werden ließ. Andererseits gab es in diesem Jahr genügend starke Konkurrenz, | |
| sodass die höchste Auszeichnung des Festivals durchaus auch anderen hätte | |
| zugesprochen werden können. | |
| Die zwei abwesenden Regisseure, der Iraner Jafar Panahi („Three Faces“) und | |
| der Russe Kirill Serebrennikow („Leto“) – beide stehen unter Hausarrest u… | |
| wurden bei der Abschlusszeremonie durch leere Sitze mit ihren | |
| Namensschildern repräsentiert –, wären als Hauptgewinner ebenfalls denkbar | |
| gewesen. Panahi erhielt für sein elegant komplexes Spiel der Täuschungen | |
| immerhin den Preis für das beste Drehbuch, den er sich mit der Italienerin | |
| Alice Rohrwacher und ihrem Buch zu „Lazzaro felice“ teilte. | |
| ## Preis für Murakami-Adaption | |
| Die beiden anderen Ostasiaten im Wettbewerb, der Chinese Jia Zhangke („Ash | |
| Is Purest White“) und der Südkoreaner Lee Chang-dong („Burning“) boten | |
| weitere starke Beiträge, für die Literaturadaption „Burning“ nach einer | |
| Kurzgeschichte des Japaners Haruki Murakami gab es immerhin den | |
| Fipresci-Preis der internationalen Filmkritikervereinigung, während Jia | |
| Zhangkes beharrlich gegen den Strich gebürstetes Gangstermelodram leer | |
| ausging. Einer der originellsten preiswürdigen Filme war schließlich | |
| „Lazzaro felice“ von Alice Rohrwacher. | |
| Die Jury hätte, wollte sie ein Zeichen setzen, mit „Lazzaro felice“ nicht | |
| den falschen Film geehrt. Rohrwachers Allegorie nach Motiven der biblischen | |
| Lazarusgeschichten kombiniert ein Märchen über Ausbeutung und | |
| Leibeigenschaft in der Jetztzeit mit fantastischen Einfällen wie dem Auszug | |
| der Orgelmusik aus einer Kirche – als Lazarus in einer Szene von | |
| unduldsamen Nonnen aus dem Gotteshaus vertrieben wird, folgen ihm die | |
| Klänge einfach nach draußen. | |
| Allein die Figur des unwandelbar guten Lazarus, von Adriano Tardiolo mit | |
| gleichbleibend gutmütigem Staunen verkörpert, ist zumindest | |
| gewöhnungsbedürftig. | |
| Dass die Jury unter ihrer entschieden für Emanzipation eintretenden | |
| Präsidentin Cate Blanchett trotz des Frauenmarschs auf dem roten Teppich | |
| und anderer deutlicher Signale zur verstärkten Repräsentation von Frauen in | |
| diesem Jahr erneut einen Mann geehrt hat, schwächt die Anliegen von #MeToo | |
| keinesfalls. Man kann die Goldene Palme für Koreeda vielmehr als souveräne, | |
| von der Sache her allemal nachvollziehbare Entscheidung verstehen. | |
| Der Umstand, dass Jane Campion 1993 bisher als einzige Frau die höchste | |
| Auszeichnung in Cannes erhielt, ist ein Widerspruch, den auszuhalten genau | |
| zu diesem souveränen Auftritt gehört. Was ebenso für den Fall gegolten | |
| hätte, wenn Rohrwacher ausgezeichnet worden wäre und man die Wahl hinterher | |
| als berechenbar kritisiert hätte. | |
| Ausgerechnet Campions prämierter Film „The Piano“ war übrigens wie ein | |
| kleiner Fingerzeig in Christophe Honorés Wettbewerbsfilm, dem etwas | |
| lauwarmen Neunziger-Jahre-Aids-Drama „Plaire, aimer et courir vite“, zu | |
| sehen, in einer Szene, die in einem Kino spielt. | |
| ## Starke Geste | |
| Ein starke Geste für #MeToo kam bei der Abschlusszeremonie dann von der | |
| italienischen Schauspielerin und Regisseurin Asia Argento. Als sie auf der | |
| Bühne die Auszeichnung für die beste Schauspielerin ankündigen sollte, | |
| hielt sie zunächst eine wütende Rede, beginnend mit den Worten: „1997 wurde | |
| ich von Harvey Weinstein hier in Cannes vergewaltigt.“ | |
| Sie prognostizierte, dass Weinstein in Cannes nie mehr willkommen sein | |
| werde und ergänzte: „Heute Abend sitzen einige unter uns, die noch zur | |
| Verantwortung gezogen werden müssen.“ Um mit den Worten zu schließen: „Wir | |
| lassen euch nicht davonkommen.“ E | |
| s ist nicht ohne bittere Ironie, dass der Preis für die beste beste | |
| Schauspielerin an die Kasachin Samal Jesljamowa für ihre eindringlich | |
| atemlos dargebotene Titelrolle in Sergei Dwortsewois hartem | |
| sozialrealistischen Drama „Ayka“ ging – ihre Figur wird vergewaltigt und | |
| sieht sich durch die Geburt des Kinds in ihrer Existenz bedroht. | |
| Man kann sich ohnehin kaum über mangelnde Realitätsanbindung in diesem | |
| Jahrgang beklagen. Der Großteil der 21 Filme im Wettbewerb, ob gekürt oder | |
| ungekürt, blickte auf Einzelschicksale in Gesellschaften, in denen vor | |
| allem Armut als lästiges Beiprodukt des großen Ganzen fungiert wie bei | |
| Koreeda, Rohrwacher, dem Kasachen Dwortsewoi, der Libanesin Nadine Labaki | |
| („Capharnaüm“), dem Italiener Matteo Garrone („Dogman“) oder dem Ägyp… | |
| B. Shawky („Yomeddine“). | |
| Oft sind Kinder die Protagonisten, so neben „Shoplifters“ auch in | |
| „Capharnaüm“ oder „Yomeddine“, bei Labaki als Opfer der sozialen | |
| Verhältnisse der Eltern, bei Shawky als Waisenjunge, der sich mit einem | |
| Leprakranken auf Entdeckungs- und Befreiungsreise gibt. | |
| Erstaunlich auch, wie oft es in den Filmen sich überschneidende Motive gab. | |
| Neben dem Verbrennen von Gebäuden („Burning“) oder Menschen (Stéphane | |
| Brizés französisches Gewerkschaftsdrama „En guerre“) konnte man sowohl in | |
| „Capharnaüm“ als auch in „Ayka“ Frauen beobachten, wie sie eigenhändi… | |
| Milch aus ihren Brüsten pressen oder dass Mütter ohne | |
| Aufenthaltsgenehmigung ihre Kinder verstecken müssen. | |
| Rassismus war am explizitesten der Gegenstand der märchenhaften Satire | |
| „Blackkklansman“ des US-Amerikaners Spike Lee. Als Vorlage diente ihm der | |
| wahre Fall des afroamerikanischen Polizisten Ron Stallworth, der in den | |
| siebziger Jahren erfolgreich gegen den Ku Klux Klan ermittelte. Für seine | |
| effektiv plakative Komödie gab es sogar den Großen Preis. | |
| Den Preis der Jury bekam die Libanesin Nadine Labaki für „Capharnaüm“, mit | |
| Rohrwacher die zweite Regisseurin dieses Jahrgangs, die einen der | |
| Nebenpreise erhielt. Die Geschichte um den Jungen Zain, der wegen einer | |
| Messerstecherei ins Gefängnis kommt und dort seine Eltern dafür verklagt, | |
| dass sie ihn geboren haben, war eine laute, oft überlaute Anklage gegen | |
| eine Gesellschaft, in der Kinder auf vielfältige Weise ihrem eigenen | |
| Schicksal überlassen werden. | |
| Von dem groß angekündigten Wandel war in Cannes am Ende zwar nicht allzu | |
| viel zu spüren. Doch dass bevorzugt die großen alten Männer die Preise | |
| bekommen wie Ken Loach vor zwei Jahren, scheint sich ein kleines bisschen | |
| zu verschieben: Der mit Abstand älteste Filmemacher im Rennen, der 87 Jahre | |
| alte Jean-Luc Godard, erhielt für seinen furiosen Essayfilm „Le livre | |
| d’image“ eine Spezialpalme, eine Notlösung, weil Godard ohnehin auf seine | |
| ganz eigene Weise außer Konkurrenz läuft. | |
| Dass ansonsten die interessanteren Filme, wie manchmal der Fall, in den | |
| Nebenreihen gesteckt hätten, lässt sich für dieses Jahr nicht behaupten. | |
| Wobei dort einige sehr erfreuliche Entdeckungen zu machen waren. Besonders | |
| in der Reihe „Un Certain Regard“ gab es lohnende Ausflüge ins Fantastische | |
| zu bestaunen wie Ali Abassis schwedischen Fabelfilm „Gräns“, der den Preis | |
| als bester Film der Sektion erhielt, Ulrich Köhlers ländliche | |
| Midlife-Crisis-als-Science-Fiction-Exkursion „In My Room“ oder die soghaft | |
| somnambule „Long Day’s Journey Into Night“ des Chinesen Bi Gan. | |
| Ob realistisch oder eskapistisch, wirklich weltfremd waren sehr wenige | |
| dieser Filme. Mag das Kino insgesamt noch so sehr in einer | |
| ökonomisch-strukturellen Krise stecken, an erfindungsreichen Erzählern gibt | |
| es nach wie vor keinen Mangel. | |
| 21 May 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
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