# taz.de -- Besuch bei Schriftstellerin Julia Jessen: Hommage an das Aufbrechen | |
> Julia Jessen hat mit „Die Architektur des Knotens“ einen fulminanten | |
> Liebes- wie Trennungsroman geschrieben – weil beides nun mal | |
> zusammengehört. | |
Bild: Kopfmensch aus einer Kopffamilie: Die Schriftstellerin Julia Jessen | |
HAMBURG taz | Wenn Julia Jessen von ihrer Heldin und ihrem Helden erzählt, | |
wenn sie noch einmal eintaucht in die Welt, die sie gut 730 Tage | |
beschäftigt hat, in ihrer Küche, irgendwo im noch mäßig angesagten | |
Hamburger Stadtteil Barmbek-Süd, schwankt sie zwischen Nähe und Distanz. | |
Dann sagt sie Sätze wie: „Eigentlich kann ich gar nichts über das Buch | |
sagen, ich bin da viel zu sehr drin.“ Um im nächsten Moment über ihre | |
Helden zu sprechen, als seien sie enge Freunde, mindestens gute Nachbarn, | |
die jederzeit neben ihr sitzen und ebenfalls ein Croissant essen könnten. | |
Man kann es sich leicht machen und ihren neuen Roman „Die Architektur des | |
Knotens“ als klassisches Midlife-Crisis-Epos lesen: Yvonne und Jonas, beide | |
noch gerade so in den 30ern; zwei Jungs, Mika und John; eine geräumige | |
Wohnung, eine Treppe führt nach oben, es gibt ein großes Bett. | |
Grundschullehrerin ist sie, er Physiotherapeut mit eigener Praxis, und das | |
Geld stimmt. | |
Und dann beginnt die Frau eine Affäre, einfach so. Wobei – das ist schon | |
etwas komplizierter und genauso auch nicht. Denn irgendwas ist los mit ihr, | |
da brodelt etwas und gärt, da ist dieser tiefe Wunsch, etwas | |
kaputtzuschlagen, einfach so. Nur warum? Es ist doch alles in Ordnung. | |
Fakt ist: Auf Seite 140 folgt Yvonne, angetrunken, aber Frau ihrer Sinne, | |
einem jüngeren Mann, dem der Schriftzug „Day and Night“ den Arm verziert, | |
dabei wollte er sich seinerzeit gar nicht tätowieren lassen. Wenig später | |
weiß Jonas Bescheid, weil Yvonne ihm erzählt, was passiert ist. Er bleibt | |
zurück, sie geht ins Hotel. Was soll nun geschehen? Yvonne hat keine | |
Antwort, sie weiß keine Lösung. Sie weiß nur, dass es so ist, wie es ist. | |
Wie heikel eine solche Liebesanordnung ist, welche Emotionen sie befeuert, | |
erfährt Julia Jessen derzeit auf ihren Lesungen. „Mir wird dann fast | |
vorgehalten, dass die beiden nicht miteinander reden; schnell fällt dann | |
auch das Stichwort Paartherapie“, erzählt sie. „Eine Paartherapie, das ma�… | |
ich mir mal jetzt an, hätte dem Paar nicht geholfen.“ Sie sagt: „Das | |
Problem ist: Wenn man sich selbst innerhalb des Systems befindet, Teil | |
davon ist, kommt man nur schwer aus dem System heraus, und sei es auch nur | |
gedanklich.“ | |
Dabei verweigert sich Julia Jessens Roman mit Verve jeder vorschnellen | |
geschlechterpolitischen Zuordnung: „Zu sagen, jetzt können die Frauen auch | |
mal gehen und nicht nur die Männer, ist überhaupt nicht mein Punkt“, sagt | |
sie. Ihr geht es um die Erkundung einer tiefen Erschütterung, der, hat sie | |
sich ereignet, nachgegangen werden muss: „Yvonne beschreitet einen Weg, von | |
dem sie nicht weiß, wohin er führt und der keinen Beifall findet.“ | |
Zugleich erzählt Jessen so kundig wie intuitiv von den täglichen | |
Verwerfungen, von den rat- und hilflosen Reaktionen aus Yvonnes und Jonas’ | |
Freundeswelt und wie sie zwischen Existenz und Alltag switcht, das sorgt | |
auch für viel Humor bis Komik. Und sie erzählt: „Mir fällt gerade ein: Mein | |
Ex-Mann hat einen Freund, von dem sich die Frau getrennt hatte, es war ganz | |
dramatisch; und dann sind die beiden Männer zusammen mit anderen Freunden | |
weggefahren, und als er wieder zu Hause war, habe ich natürlich gefragt: | |
Und? Was hat er erzählt? Und er: Ach, wir sind da gar nicht dazu gekommen, | |
darüber zu reden. Und wieder ich: Wie? Ihr seid nicht dazu gekommen? Das | |
spricht man doch an!“ Und sie lacht herzhaft und macht erst mal einen | |
Kaffee. | |
„Die Architektur des Knotens“ ist Julia Jessens zweiter Roman. Für ihr | |
Debüt „Alles wird hell“ war sie für den Michael-Kühne-Preis nominiert, d… | |
beim Harbour-Front-Literaturfestival vergeben wurde. Sie kam über einen | |
Umweg zum Schreiben: „Ich bin ein sehr großer Kopfmensch, komme aus einer | |
schreibenden Kopffamilie und habe als junger Mensch gedacht: Das muss doch | |
auch anders gehen; man kann doch das, was einen bewegt, auch anders | |
sichtbar machen.“ | |
Und so wird sie Schauspielerin; ist in Film und Fernsehen zu sehen, spielt | |
Theater, gründet das Kurswerk als Stätte für Schauspielunterricht. Bis dann | |
doch das Schreiben sich meldet, die Oberhand gewinnt und sie der | |
Schauspielerei adé sagt, wobei sie ihrer Schauspielerinnenherkunft | |
verbunden bleibt: „Ich habe Improvisation gelernt, und wenn ich eine Szene | |
brauche, baue ich die nicht wie nach einem Bauplan aus, sondern gehe hinein | |
– oft entsteht dann Dialog.“ | |
Sie sagt: „Es geht mir in den Szenen nicht darum, etwas zu erklären, | |
sondern etwas sichtbar zu machen.“ Und von hier aus sei es wiederum ein | |
kurzer Weg zum Schauspielen: „Wenn ein Schauspieler seine Figur erklärt, | |
ist das immer gruselig. Er sollte sie einfach handeln lassen.“ | |
„Wir sind gehalten und auch gefangen“, sagt Jessen wie nebenher, setzt | |
sich, mit einem Becher frischen Kaffees in der Hand. Und ist gedanklich | |
wieder in der Durcheinander-Welt ihres Heldenpaares angekommen: „Es ist nie | |
das Was, sondern das Wie. Also: Ich kann jemanden betrügen und es ist der | |
Verrat, und ich kann mit einem anderen schlafen und es kann meine Ehe | |
retten. Das weiß jeder für sich – die Sache an sich ist es nicht.“ Sie sa… | |
mit fester Stimme: „Das soll mir niemand sagen, dass er das nicht kennt.“ | |
Ihr Buch ist auch eine Hommage an das Aufbrechen, an das Durcheinander und | |
an die Chancen, die darin liegen. Denn auch Jonas, der überraschte, der | |
ratlose, der vielleicht auch zunächst übertölpelte Mann, wird auf ganz | |
eigene Weise herausfinden aus dieser Situation, für die er genauso wenig | |
kann wie seine Frau, die nun nicht mehr seine Frau ist. | |
„Er muss seinen Stolz und seine Wut in den Griff kriegen und akzeptieren, | |
er sieht ja auch ihre Not“, sagt Jessen. Die in ihrem neuen Buch auch die | |
Frage stellt, was es denn mit dem Ideal der eindeutigen Liebe, der | |
unbedingten Treue auf sich hat: „Ich höre dann oft: Ach, offene | |
Beziehungen, das funktioniert doch nicht. Aber das andere funktioniert ja | |
auch nicht“, lacht sie. Denn werden nicht am Ende die Hälfte aller Ehen | |
geschieden? Und nicht sogar mehr als das? | |
Von der Macht des Chaos, der Offenheit, auch von der Kraft der Kunst | |
erzählt zudem ihr Roman. Es geht zwischendurch nach Dänemark, auch nach | |
Sylt. Ein Kind wird getauft, ein Paar heiratet, eine Beerdigung muss | |
ausgerichtet werden; eine Galerie wird immer mal wieder betreten, wo ein | |
Bild mit dem Titel „Eva hysterisch“ hängt: Eine Frau steht in einem Garten, | |
drumherum Reste von Möbeln. Zu erwerben für den stolzen Preis von 3.900 | |
Euro, unerschwinglich für eine Frau wie Yvonne, die nur bedingt bis gar | |
nicht weiß, wie es weitergeht – wobei auch hier nicht das letzte Wort | |
gesprochen ist. | |
## Schreiben zwischen neun und 13 Uhr | |
„Ich muss mit der Zeit, die ich zum Schreiben habe, sehr sorgsam und | |
diszipliniert umgehen, und ich schreibe, wann immer es geht, mal abgesehen | |
davon, dass ich zwischendurch noch Geld verdienen muss“, wechselt Jessen | |
erzählend in ihren Alltag, sie meint damit die Zeit zwischen kurz nach neun | |
Uhr und kurz nach 13 Uhr. | |
Was nicht immer einfach sei: Ganz bei ihren Helden und genauso für ihre | |
beiden Kinder da sein: „Manchmal springe ich auf, suche einen Zettel, suche | |
einen Stift, und meine Kinder sagen dann: Mama muss nur noch einen Gedanken | |
aufschreiben.“ Und dann geht das Familienleben wieder weiter. Also müsste | |
sie eigentlich Kurzgeschichten schreiben, aus Effektivitätsgründen, aber so | |
lässt sich das Schreiben nicht rechnen. Sie sagt: „Ein Roman ist eigentlich | |
Irrsinn.“ | |
„Ich hätte längst mit dem neuen Buch anfangen müssen“, sagt sie noch. Ab… | |
dann schaue sie sich dabei zu, wie sie abends auf dem Sofa sitzt und | |
Netflix-Serien schaut. Auch weil sie weiß, das wird schon: „Ich mag es, | |
Zeit zu schinden, weil wenn ich ins Schreiben einsteige – und ich werde | |
einsteigen – dann bin ich wieder drin und komme die nächsten zwei Jahre | |
nicht raus aus der Sache.“ | |
Worum es inhaltlich gehen soll, muss naturgemäß offen bleiben. Auffällig | |
ist nur, dass recht viele Magazine in ihrer Wohnung aufgeschlagen | |
herumliegen, die sich historischen Epochen, Glaubensfragen und auch | |
Religionsgeschichte widmen. Und Jessen erzählt: „Neulich hat meine Tochter | |
in einer der Zeitschriften eine Jesus-Abbildung betrachtet, so sacht über | |
das Papier gestreichelt und gesagt: ‚Armer, armer Jesus.‘“ Sie lacht und | |
sagt: „Vielleicht sollte ich hier nicht so viele gekreuzigte Männer | |
rumliegen lassen.“ | |
22 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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Frank Schirrmacher | |
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