| # taz.de -- Roman „Jahre später“: Ein halb verschleiertes Verhängnis | |
| > In ihrem Roman „Jahre später“ beschreibt Angelika Klüssendorf kaum | |
| > verhüllt ihre gescheiterte Ehe mit dem FAZ-Herausgeber Frank | |
| > Schirrmacher. | |
| Bild: Angelika Klüssendorf im Jahr 2014 | |
| Angelika Klüssendorfs romanhafter Bericht „Jahre später“ ist der dritte | |
| Teil einer autobiografischen Trilogie, die den Lebensweg einer jungen Frau | |
| aus toxischen, psychopathischen, gewalttätigen, alkoholisierten und | |
| bettelarmen DDR-Lebensverhältnissen in den Westen und in eine (wie auch | |
| immer brüchige und prekäre) lebenspraktische Normalität schildert. Mit | |
| diesem Buch schließt sich ein Kreis. Sein Schlusssatz lautet wie der | |
| Anfangssatz des ersten Bands, der „Das Mädchen“ hieß und 2011 den | |
| Durchbruch Klüssendorfs als Autorin markierte. | |
| Die anonyme Heldin des ersten Buchs, das sich im zweiten („April“) schon | |
| einen Namen gegeben hatte, beginnt am Ausgang des vorerst letzten Buchs | |
| dieses groß angelegten Entwicklungsromans damit, das Erlittene und Erlebte | |
| literarisch zu reflektieren. Die schlimme Geschichte ist zu Ende, ihre | |
| Beschreibung beginnt. | |
| Authentische Nachrichten darüber, wie es den „Verdammten dieser Erde“ | |
| tatsächlich geht und gegangen ist, sind selten in der Literatur. In | |
| Deutschland muss man bis Karl Philipp Moritz’ Roman „Anton Reiser“ | |
| zurückgehen, um eine einleuchtende Parallele zu Klüssendorfs Schilderung | |
| einer verwahrlosten DDR-Kindheit und Jugend in den ersten Büchern ihrer | |
| Trilogie zu finden. Der dritte Band, der das Leben im Westen und den | |
| Aufstieg der Heldin in das intellektuelle Establishment der Bundesrepublik | |
| behandelt, macht neugierig aus einem literarisch-technischen Grund und | |
| aufgrund eines außerliterarischen Umstands. Beide Neugiergründe hängen | |
| zusammen. | |
| Man möchte erstens wissen, wie sich die halbverschleiert-autobiografische | |
| Erzähltechnik Klüssendorfs bei der Schilderung gesellschaftlicher | |
| Verhältnisse bewährt, die westliche Leser – im Gegensatz zu den exotischen | |
| Lebensumständen der DDR-Unterschicht – detailliert kennen. Zweitens ist man | |
| gespannt darauf, was wir über den Ehemann der literarischen Figur April | |
| erfahren werden. Denn Angelika Klüssendorf war lange mit Frank Schirrmacher | |
| verheiratet, dem legendären Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen | |
| Zeitung, jenem charismatischen, interessanten und gefürchteten Mann, der | |
| bis zu seinem tragischen Tod als eine Art deutscher Howard Hughes seine | |
| Mitarbeiter zur Verzweiflung trieb und die Republik mit seiner oft genialen | |
| intellektuellen Unberechenbarkeit erstaunte und beeinflusste. Der | |
| psychologische Kindheits- und Coming-of-Age-Roman muss die Aufgaben eines | |
| Gesellschaftsromans der späten Bonner und frühen Berliner Republik | |
| übernehmen. Kann das gut gehen? | |
| ## Auf dem Weg nach oben | |
| „Doch dann kommt der Mann mit dem Kindergesicht, fordert ihren | |
| Gesprächspartner mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben, und nimmt wie | |
| selbstverständlich dessen Platz ein. Was für ein aufgeblasener Fatzke, | |
| denkt sie, während er sich vorstellt – Ludwig, Chirurg – und beginnt Fragen | |
| zu stellen. Verärgert von seinem Auftreten, antwortet sie knapp und mit | |
| unterdrücktem Groll: Ihr Lieblingsschriftsteller sei Beckett. Herr im | |
| Himmel, sagt Ludwig, Beckett sei auch sein Liebling, er habe ihn erst | |
| kürzlich besucht und könne, wann immer April wolle, ein Treffen für sie | |
| arrangieren.“ | |
| Die perspektivische Beschränkung auf das „Erzählmedium“ April, die | |
| sparsame, aber treffende Personencharakterisierung, die erfundenen Namen | |
| und die Unkenntlichmachung durch die – leicht zu durchschauende – | |
| Hinzufügung nicht stimmiger Details (ein Chirurg war Schirrmacher nun | |
| wirklich nicht) erinnern an die Erzähltechnik Hermann Lenz’ in seinen | |
| autobiografischen Stuttgarter Gesellschaftsromanen aus der Sicht des | |
| erfolglosen Schriftstellers Eugen Rapp. Zugleich aber werden – in genauen | |
| Milieuschilderungen aus dem Alltag eines sehr ehrgeizigen und | |
| machtbewussten jungen Mannes auf dem Weg nach oben und einer noch nicht | |
| besonders berühmten Frau – die Erzählstränge des psychologischen Romans aus | |
| Klüssendorfs Vorgängerbüchern weitergeführt. | |
| Nach Ludwigs stürmischer Werbung erweist sich die Ehe als Enttäuschung. Der | |
| Sohn aus einer ersten Beziehung verweigert sich der neuen Familie. Ein | |
| Halbbruder kommt zur Welt und wächst heran. Die Karriere Ludwigs nimmt | |
| Fahrt auf. Die vereinsamte April versteckt ihre Schreibblockade, ihre | |
| wachsende Verstörung und Selbstdestruktivität hinter der Fassade der | |
| Prominentengattin. Eine Psychotherapie verschafft keine nachhaltige | |
| Linderung der sich aufstauenden Frustrationen. April nimmt Psychopharmaka. | |
| Freunde halten ihr einen Spiegel vor: „Du siehst aus wie auf Besuch in | |
| deinem eigenen Leben, flüstert Keller ihr zu.“ Man kennt das. Eine Trennung | |
| ergibt sich, dann kommt das Paar wieder zusammen. Erst die endgültige | |
| Scheidung ermöglicht das freie Auftreten als Schriftstellerin. | |
| Es gehört zu den Qualitäten dieser Geschichte, dass Klüssendorf die | |
| Darstellung weiblichen Leids nicht in der narzisstischen | |
| Selbstbezüglichkeit einer „Vorwurfspersönlichkeit“ (Katharina Rutschky) | |
| ausstellt, sondern so genau analysiert, dass man durchaus auch die Motive | |
| der anderen Seite nachvollziehen kann. Mit einer April möchte man nicht | |
| verheiratet sein. Sie „muss alles zerstören, sodass es kein Zurück mehr | |
| gibt und sie sich im vertrauten Elend einrichten kann“. Das Verhängnis | |
| nimmt seinen Lauf mit der Zwangsläufigkeit eines Lawinenabgangs. Niemand | |
| ist schuld daran – oder alle miteinander machen sich schuldig. | |
| Es stimmt ja nicht, dass sich die gelungenen Familien gleichen und nur die | |
| unglücklichen auf ihre je eigene Weise unglücklich sind. In Wirklichkeit | |
| sind sich die unglücklichen Familien auf sehr deprimierende Weise ähnlich | |
| und jede, die einmal in einer war oder ist, wird sich in der Geschichte von | |
| April und Ludwig selbst entdecken können. Zum Schluss fallen Sätze wie „Du | |
| wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich | |
| abstrahlt“ oder „Ich werde dich zertreten wie einen Parasiten“. | |
| ## Ein gewisser Skandalwert | |
| Darf man eigentlich machen, was Angelika Klüssendorf in diesem Buch macht? | |
| Wie bereits erwähnt, ist die Serie der Eugen-Rapp-Romane von Hermann Lenz | |
| eine wichtige Referenz für halbverschleierte autobiografische Erzählwerke, | |
| die ihre Indiskretionen (und auch Grausamkeiten) aufgrund ihrer | |
| Gattungsgesetze gleichsam notwendigerweise begehen müssen. Ich habe mich | |
| bei der Lektüre von „Jahre später“ an eine Diskussion mit dem damals schon | |
| sehr erfolgreichen Hermann Lenz erinnert, Ende der Achtzigerjahre, bei der | |
| er gefragt wurde, wie sich wohl die realen Personen fühlen mögen, die er in | |
| seiner Eugen-Rapp-Serie oberflächlich fiktionalisiert schildert. Nach dem | |
| überraschenden Berühmtwerden Hermann Lenz’ hatten die Eugen-Rapp-Bücher | |
| durchaus einen gewissen Skandalwert (der inzwischen abgeklungen ist). | |
| Eine Diskussionsteilnehmerin redete sich in eine milde Empörung hinein und | |
| sagte: „Eigentlich kann man das gar nicht machen, was Sie da in diesen | |
| Büchern gemacht haben.“ Das Gesicht des zerbrechlich wirkenden, schüchtern | |
| auftretenden alten Manns mit dem Glasauge wurde plötzlich sehr hart und | |
| sagte es sehr schwäbisch: „Das kann man schon. Wenn man es kann.“ | |
| Auch Angelika Klüssendorf kann das, was man eigentlich nicht machen kann. | |
| Und zwar deshalb, weil sie sich selbst so wenig schont, wie sie ihre | |
| Figuren schont. Ihr Buch ist nämlich keine narzisstische Anklage – so wenig | |
| wie die Vorgängerbücher aus Vorwürfen und Anklagen bestanden haben. Es ist | |
| die genaue Analyse einer Reihe von zugleich gesellschaftlichen und | |
| psychologischen Katastrophen, die nicht anders ablaufen konnten, als sie | |
| abgelaufen sind. Und deren Bestandteil und Akteurin die Autorin selbst war. | |
| Man lernt mehr und Wichtigeres in „Jahre später“, als dass der Heldin | |
| Unrecht widerfahren ist. Angelika Klüssendorfs April-Trilogie ist so etwas | |
| wie der „Anton Reiser“ der wiedervereinigten deutschen Republik. | |
| 5 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephan Wackwitz | |
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