Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Juristischer Umgang mit Abtreibung: Rechtsprechung mit Schimmelansa…
> Die Urteile zu Paragraf 219a basieren auf dem Strafrechtskommentar eines
> „Lebensschützers“ und eines umstrittenen Ex-BGH-Richters.
Bild: Das Gesetz stammt noch aus dem Nationalsozialismus
Paragraf 219 a ist für den Sprecher der Staatsanwalt Wuppertal unsicheres
Terrain. Fragt man Wolf-Tilman Baumert danach, wie der Paragraf zustande
gekommen ist, sagt er mehrmals Dinge wie: „Das ist mir persönlich nicht
bekannt, das müsste ich nachschlagen.“ Dabei ermittelte seine Behörde schon
zweimal wegen unerlaubter „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche gegen die
Wuppertaler Gynäkologin Eva Waldschütz.
Im Jahr 2007 wurde sie angezeigt, weil auf der Homepage ihrer
Gemeinschaftspraxis Schwangerschaftsabbruch genannt wurde. Und 2015 erneut,
weil ihr Name im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbruch in den Gelben
Seiten auftauchte. Die Hintergründe des Paragrafen schienen dafür nicht
relevant zu sein. Auf wessen Einschätzung sich die Rechtsprechung beruft,
ist bei genauerem Hinsehen aber durchaus interessant.
Beim Wuppertaler Amtsgericht hat man nachgeschlagen. Als die Amtsrichterin
2008 das erste Urteil über eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen à 90 Euro
gegen Waldschütz verfasste, argumentierte sie so, wie es das Landgericht
Bayreuth zwei Jahre zuvor schon getan hatte: Paragraf 219 a solle
verhindern, „dass die Abtreibung in der Öffentlichkeit als etwas Normales
dargestellt und kommerzialisiert wird“. Das Urteil aus Bayern von 2006, bei
dem ein Arzt verwarnt wurde, gilt als wegweisend. Beide Gerichte haben die
Formulierung ganz offensichtlich aus dem Strafrechtskommentar
„Tröndle/Fischer“ übernommen.
„Wie beim Friseur die Schere, so liegt der „Tröndle/Fischer“ bei jedem
Staatsanwalt und jeder Richterin griffbereit“, sagt der Bremer
Strafrechtsprofessor Felix Herzog. Seine Kollegin, die ihren Namen nicht in
der Zeitung lesen möchte, nennt Gründe: „Erscheint fast jedes Jahr in neuer
Auflage, ist handlich, kompakt und bezahlbar.“
## Prüfungen gerade so geschafft
Die deutsche Strafrechtscommunity gewöhnt sich im Studium an den Kommentar
und möchte sich später nicht umstellen. Andere Kommentare fristen im
täglichen Strafrechtsgeschäft eine Randexistenz. Wer wissen will, wie ein
Strafrechtsparagraf zu interpretieren ist oder wie üblicherweise geurteilt
wird, greift zum „Tröndle/Fischer“. So findet eine Vereinheitlichung von
Rechtsprechung statt, ohne dass in jedem Fall „höchstrichterlich“ geurteilt
wurde. Was bei „Tröndle/Fischer“ steht, lässt sich nicht mehr so leicht a…
der deutschen Juristenwelt schaffen. Die Wirkung des Kommentars, etwa bei
den Paragrafen zum Schwangerschaftsabbruch, sei „toxisch“, sagt
Strafrechtsprofessor Herzog.
Herbert Tröndle, Jahrgang 1919, war ausweislich seiner Todesanzeige Träger
des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse, des Infanteriesturmabzeichens und
des Deutschen Kreuzes in Gold für seinen Einsatz im Zweiten Weltkrieg.
Obwohl Tröndle sein Erstes Staatsexamen nur mit „vollbefriedigend“ bestand
und damit heute keine Stelle bei Gericht bekommen würde, und seine
mündliche Doktorprüfung erst im zweiten Anlauf mit „ausreichend“ schaffte,
stieg er zum führenden westdeutschen Strafrechtskommentator auf.
Der Kommentar heißt seit 2008 zwar nur noch „Fischer“, ist aber weiterhin
als „Tröndle/Fischer“ geläufig. Wer auf dem Cover steht, ist verantwortli…
für den stetig aktualisierten Inhalt. Das Werk kostet derzeit 92 Euro und
erscheint im C. H. Beck Verlag.
Der Münchner Verlag erweiterte seine rechtswissenschaftliche Abteilung nach
der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von 1933 erheblich. Noch
im selben Jahr musste Otto Liebmann seinen renommierten juristischen
Fachverlag weit unter Wert verkaufen, weil er Jude war. Er verkaufte an den
Beck-Verlag. Der Historiker Stefan Rebenich [1][nannte den Vorgang]
„Gewaltlose Arisierung“. Zum Liebmann’schen Verlagsprogramm gehörte auch
ein Strafrechtskommentar, dessen erste Auflage Reichsgerichtsrat Otto
Schwarz 1932 abgeschlossen hatte. Schwarz gab den Kommentar die ganze
NS-Zeit hindurch heraus, im Nachkriegswestdeutschland übernahm Eduard
Dreher dessen Bearbeitung. Dreher war ab 1937 NSDAP-Mitglied und wurde
Staatsanwalt am Sondergericht in Innsbruck. In der Bundesrepublik machte er
als Ministerialbeamter Karriere.
## Ein fanatischer „Lebensschützer“
Mit Herbert Tröndle übernahm ab 1978 ein fanatischer „Lebensschützer“ das
einflussreiche Geschäft des Kommentierens. Nun konnte der erzkonservative
Katholik seine sittlichen Vorstellungen flächendeckend in der Justiz
verbreiten. Bei einer Bundestagsanhörung wandte sich Tröndle 1992 gegen die
Abschaffung von Paragraf 175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen
zwischen Männern unter Strafe stellte. Eine Abschaffung würde es der
„etablierten Schwulenszene“ erlauben, „die in der Pubertät und Adoleszenz
befindlichen Jugendlichen für ihre Zwecke zu rekrutieren“. Kein Gesetzgeber
sei „legitimiert, abweichendes Sexualverhalten dem normalen Sexualverhalten
gleichzustellen“, argumentierte Tröndle.
Vor allem aber kämpfte er gegen eine Liberalisierung der Rechtslage zum
Schwangerschaftsabbruch. Tröndle schrieb für das „Lebensschutzhandbuch“ d…
katholischen Bonifatiusverlags und engagierte sich an führender Stelle in
der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, einer Lobbyorganisation
selbsternannter Lebensschützer.
Im Jahr 1992 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zum
Schwangerschaftsabbruch, das die unterschiedlichen Regelungen in West- und
Ostdeutschland zusammenbringen sollte. Das deutsche Parlament votierte für
eine Fristenregelung mit Beratungspflicht, die der Frau die Entscheidung
überließ. Tröndle argumentierte vehement dagegen: „Allein ein sogenannter
Gewissensentscheid der Schwangeren soll letztlich darüber entscheiden, ob
ein ungeborenes Kind weiterleben darf oder nicht, schrieb Tröndle etwa in
einem Beitrag in dem 1993 erschienenen Buch „Das zumutbare Kind“.
Schwangere Frauen würden sich „einer natürlichen Aufgabe“ entledigen und
einer „durch ihr Vorverhalten“ – sprich: den Geschlechtsverkehr mit einem
Mann – begründeten rechtlichen Pflicht nicht nachkommen.
Außerdem war für Tröndle klar, „daß immer schon ein signifikant hoher Teil
der Schwangeren vom Partner und einem hilfsunwilligen Umfeld zur Abtreibung
gedrängt oder sogar mit existentiellen Drohungen genötigt“ werde. Frauen,
die eigenständige Entscheidungen treffen, existierten in Tröndles Weltbild
offenbar nicht. Herbert Tröndle starb 2017 im Alter von 98 Jahren, die
wichtige Randnummer 1 in seiner Kommentierung zu Paragraph 219a lebt
weiter.
## Sexistische Sprüche
Im Jahr 1999 stieg Thomas Fischer in den Kommentatorenjob mit ein, neben
seiner Tätigkeit am Bundesgerichtshof, aus der er sich 2017 verabschiedete.
Bekannt wurde der Jurist als Kolumnist bei der Zeit und als Teilnehmer bei
Fernseh-Talkshows. Der Multitasker formuliert gerne zugespitzt, Frauen
bedenkt er obendrein mit sexistischen Sprüchen.
Jüngst beschrieb Fischer, wie er durch Fernsehberichte auf die
#MeToo-Debatte aufmerksam wurde, „allesamt von sehr betroffen blickenden
Moderatorinnen mit Push-up-Brüsten und auf mindestens 80-mm-Heels
‚anmoderiert‘.“
[2][Die Zeit hat sich mittlerweile von ihm getrennt], allerdings erst,
nachdem Fischer eine Journalistin des eigenen Hauses angegangen war, die
zum Fall Dieter Wedel berichtet hatte. An der Kommentierung zum Paragrafen
219 a hat der misogyne Exrichter an der für Gerichte offenbar
entscheidenden Stelle, nämlich gleich zu Beginn (Randziffer 1) des
Kommentartextes, nichts verändert außer der Rechtschreibung.
Und dann ist da noch der Paragraf 219 a selbst. Weil die Nazis die Geburten
deutscher, „arischer“ Kinder forcieren wollten, kam das „Werbeverbot“ f…
den Schwangerschaftsabbruch im Mai 1933 ins Strafgesetzbuch, nur wenige
Monate nach ihrem Machtantritt. „Insofern unterlag der Gesetzgeber dem
Standpunkt, dass bei Schwangeren oftmals erst […] der Entschluss zur
Abtreibung geweckt oder doch zumindest erheblich gefördert würde“, schreibt
der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in einem Papier mit dem Titel
„Entstehungsgeschichte des § 219 a“ vom Dezember 2017.
Es ist diese Geschichte, sowohl der Entstehung, als auch der Kommentierung,
die nun weitergeführt wird, wenn Befürworter*innen des Paragrafen 219 a
[3][aus den Reihen von CDU/CSU] und AfD Frauen unterstellen, sie würden
ihre Entscheidungen in der existenziellen Frage des
Schwangerschaftsabbruchs von einem Spiegelstrich auf Praxis-Homepages
abhängig machen. Und auf eben dieser Basis urteilt dann auch die Justiz.
Hinweis: In einer früheren Version des Textes hieß es über C.H. Beck: „Der
Münchner Verlag verdankt seine rechtswissenschaftliche Abteilung der
Machtübernahme durch die Nationalsozialisten von 1933.“ Der Verlag verlegt
allerdings bereits seit 1764 juristische Bücher. Wir haben den Satz
gestrichen.
5 May 2018
## LINKS
[1] /!5056670/
[2] /Zeit-und-Ex-Bundesrichter-trennen-sich/!5494193
[3] /Bundesrat-diskutiert-Paragraf-219a/!5499228
## AUTOREN
Gaby Mayr
## TAGS
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Abtreibung
Schwerpunkt Paragraf 219a
Thomas Fischer
Lebensschützer
Justiz
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
Lebensschützer
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
Lesestück Interview
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Abtreibung
Erzbistum
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Paragraf 219a
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urteil in Karslruhe: Erfolg für Thomas Fischer
Ex-Bundesrichter Fischer hat gegen die Journalistin Mayr vor Gericht im
Wesentlichen gewonnen. Es ging um ihre Kritik seiner Kommentierung zum §
219a.
Pläne des Gesundheitsministers: Fünf Millionen gegen Abtreibung
KritikerInnen halten die von Gesundheitsminister Spahn geplante Studie für
Geldverschwendung. Und für ein Geschenk an AbtreibungsgegnerInnen.
Buch über die „Lebensschutz“-Bewegung: Marsch durch die Institutionen
Sie nutzen Lücken in der Gesetzgebung und versuchen, ihr eigenes
Rechtsverständnis zu etablieren. Ein neue Studie widmet sich den
„Lebensschützern“.
Paragraf 219a und der Fall Kristina Hänel: Gericht verhandelt im September
Die Ärztin Kristina Hänel war vergangenes Jahr wegen des Paragrafen 219a
verurteilt worden. Im September verhandelt das Landgericht Gießen die
Berufung.
Streit über Schwangerschaftsabbrüche: Bereitschaft zu Kompromiss bei §219a
Ein alternativer Verfassungsschutzbericht: In Karlsruhe wurde der
Grundrechtereport vorgestellt. Zentrales Thema war der Paragraf 219a.
Schwangerschaftsabbrüche in Bremen: Ärzteliste im Kommen
Ärzt*innen dürfen über Abtreibungen nicht informieren. Frauenbeauftragte
Wilhelm fordert deshalb, dass Behörden aufklären. Alle Fraktionen sind
dafür – außer der CDU.
Gynäkologin über Abtreibung in Italien: „Um vier Uhr früh anstellen“
Seit 40 Jahren ist Schwangerschaftsabbruch in Italien legal. Silvana
Agatone erzählt, wie Gesetz und katholische Realität aufeinanderprallen.
Ländervorhaben zum Paragraf 219a: Berlin als Vorbild
Politikerinnen aus Niedersachsen und Bremen wollen die Information über
Schwangerschaftsabbrüche neu regeln. Dabei orientieren sie sich am Vorbild
Berlin.
Kolumne Liebeserklärung: Norwegens tolles Gesetz
Die Norweger nerven mit ihrem Ölreichtum. Auf das Recht auf
Schwangerschaftsabbruch aber können sie wirklich stolz sein.
Beraterin zu Schwangerschaft und Kirche: „Es kann nie um Zwang gehen“
Nach Kritik von „Lebensschützern“ wurde die kirchliche
Schwangerschaftsberatung eingestellt. Das übernimmt nun ein Verein, von dem
sich die Kirche distanziert.
„Lebensschützer“ gegen Berliner Bistum: Im Visier der Fundamentalisten
„Lebensschützer“ werfen dem Erzbistum Berlin vor, Jugendlichen Tipps für
Abtreibungen zu geben. Mit einer Petition gehen sie gegen die Diözese vor.
Ärztekammer-Chef zum Paragraf 219a: Kritik an Montgomerys Vorschlag
Ärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgomery schlägt einen Kompromiss zum
Abtreibungsgesetz vor – SPD, Grünen und Linken geht das nicht weit genug.
Umgang mit Paragraf 219a: Selbstbestimmung ist Ländersache
Die Hamburger Gesundheitsbehörde veröffentlicht Adressen von ÄrztInnen, die
Abtreibungen durchführen. Andere Länder halten diese Informationen bislang
zurück.
Landesärztekammern zu Paragraf 219a: Drei weitere für die Gesetzesreform
In der Diskussion um den Abtreibungsparagrafen 219a fordern weitere
Ärztekammern eine Reform. Inzwischen sind sieben gegen das Werbeverbot.
Bundesrat diskutiert Paragraf 219a: Abschaffungsstimmung verpufft
Die Union sperrt sich gegen die Abschaffung, die SPD stellt ein Ultimatum.
Auf Bestreben des Landes Berlin debattiert der Bundesrat das Thema erneut.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.