# taz.de -- Ausstellung „1988“: Die Ruhe vor dem Sturm | |
> 1988 gilt als ein Jahr des Stillstands, das keine große Rolle in den | |
> Geschichtsbüchern spielt. Verkehrt! Wie Fotos von Ann-Christine Jansson | |
> und Texten von Uwe Rada zeigen. | |
Bild: Wiola zog ungerührt die Augenbrauen hoch und erklärte, dass der Märtyr… | |
Es gibt eine Stelle in Uwe Radas Roman „1988“, da freut sich der junge Held | |
und Erzähler Jan über ein sehr vielsagendes Transparent. Er entdeckt es auf | |
dem vom 26. Mai bis zum 1. Juli 1988 besetzten Lenné-Dreieck in Berlin. | |
„Herzlich willkommen in der Mitte der Welt“, steht darauf. Und: „Wir haben | |
den Zaubertrank“. | |
Das Zeltlager im Lenné-Dreieck schuf 1988 ein paar wilde, anarchische | |
Wochen lang wohl wirklich eine Art Traumland zwischen den Fronten, denn es | |
handelte sich um Ostberliner Territorium, das von der Westberliner Polizei | |
nicht betreten werden durfte, während die Behörden der DDR am Konflikt | |
zwischen Punks und Polizei überhaupt nicht interessiert waren. Das | |
Lenné-Dreieck war eine Art Vakuum im Vakuum Westberlin, eine Art wahr | |
gewordene Unmöglichkeit. | |
Doch als das passiert, ist Jan längst über beide Ohren verliebt in Wiola, | |
das rätselhafte Mädchen aus Polen mit den roten Pumps und dem kriegerischen | |
Pferdeschwanz – jene Person, die gar nicht recht passen will in Jans | |
selbstgerechte, linksalternative Westberliner Welt. Wiola, die Jan völlig | |
zu Recht einen Revolutionsromantiker schimpft, hat ihn längst davon | |
kuriert, Kreuzberg für den Nabel der Welt zu halten. Und so kommt es, dass | |
er das Transparent sehr lustig, ja ironisch findet. | |
1988 ist ein Jahr des Stillstands und der Ruhe vor dem großen Sturm, das | |
keine große Rolle spielt in den Geschichtsbüchern, das aber trotzdem umso | |
spannender gewesen sein muss, besonders in dieser Stadt. Man muss sich | |
Westberlin vorstellen, als hätte es eine Art Dornröschenschlaf gehalten, | |
sehr in sich selbst versunken, nur wenig über den Tellerrand blickend – | |
voller Selbstverliebtheit, die bis heute zu spüren ist. | |
## Rada und Jansson erzählen von einer Hybris | |
taz-Kollege Uwe Rada hat diese Stimmung sehr poetisch in „1988“ | |
beschrieben, Ex-taz-Kollegin Ann-Christine Jansson hat sie wunderbar | |
fotografiert. Ein kleines, aber wirklich nur ganz kleines bisschen | |
vergleichbar vielleicht mit Sven Regener, in seinem Roman „Herr Lehmann“. | |
In der Verfilmung des Romans erfährt Herr Lehmann vom Mauerfall in der | |
Kneipe, beim Bier. Als einer zu ihm sagt: „Das sollte man sich vielleicht | |
mal ansehen“, erwidert Herr Lehmann trocken: „Erst mal austrinken.“ Da | |
sieht man, was passiert, wenn man seinem Kreuzberger Schluffihelden nicht | |
einmal eine Begegnung mit einem schönen polnischen Mädchen gönnt. | |
Rada und Jansson erzählen von einer Hybris, einer Arroganz, die bis heute | |
nachwirkt in dieser Stadt und die auch Vorteile hat. Wenn es zum Beispiel | |
darum geht, selbstbewusst Sonderwege zu gehen, etwa wacker für die | |
Erhaltung von Freiräumen zu kämpfen, um die die Berliner in anderen | |
europäischen Metropolen nach wie vor beneidet werden. | |
Sie kann einem aber auch zum Verhängnis werden, wenn es gilt, die Relevanz | |
seiner Anliegen und Nöte zu gewichten. Einmal reicht Wiola Jan eine | |
Broschüre, die ihn an die Kreuzberger Autonomenblättchen zum 1. Mai | |
erinnern. Sie bezieht sich aber auf den 13. 12. 1981, als in Polen das | |
Kriegsrecht verhängt wurde, um die Demokratiebewegung zu zerschlagen. „Auf | |
einem der Fotos war ein Wasserwerfer zu sehen, der mit seinen Rohren nicht | |
nur in die Menge hielt, sondern auch mitten in die Menschentraube gefahren | |
war. Eine andere Aufnahme zeigte einen Mannschaftswagen der Polizei, der | |
einen Demonstranten überrollte. Polizisten mit Helmen und Knüppeln standen | |
Demonstranten gegenüber, die die Hände hochgerissen hatten. Es waren | |
gespenstische Szenen.“ | |
## Kein Spiel, sondern bitterer Ernst | |
Jan resümiert: „Vielleicht war das der Moment, in dem ich begriffen hatte, | |
dass das in Polen kein Spiel war, sondern bitterer Ernst.“ | |
Im Grunde befindet sich Jan in diesem Jahr 1988 bereits an einem Punkt, an | |
dem die Stadt erst heute allmählich ankommt. Nur ein paar Schlaglichter: | |
Die Zahl der Willkommensklassen, die vor allem 2015 eingerichtet wurden, | |
ging Anfang des Jahres zurück, weil die Kinder aus Syrien, Afghanistan, | |
Irak, Kosovo und Albanien längst in Regelklassen unterrichtet werden. | |
Während unsere Wohnungen von Investoren aus Israel, Amerika und Schweden | |
aufgekauft werden, gehen wir in Shoppingmalls einkaufen, die von | |
Werkvertragsarbeitern aus Rumänien hochgezogen wurden. | |
Wo man geht und steht, hört man Menschen, die sich auf Chinesisch, | |
Schwedisch, Japanisch oder Arabisch unterhalten. Die Welt ist in diese | |
Stadt gekommen. Einfach so, ohne dass die Stadt etwas hätte tun müssen. | |
Und sie brauchte dazu nicht einmal ein geheimnisvolles Mädchen aus Polen, | |
das erst sämtliche Gewissheiten infrage stellt und dann für die nächsten 30 | |
Jahre verschwindet. | |
Dieser Text und die hier gezeigten Bilder (wegen des Internetformats leider | |
nur leicht beschnitten) sind Teil eines Schwerpunktes aus der Printausgabe | |
der taz Berlin am Wochenende vom 14./15. April 2018. | |
## Chronik des Jahres 1988 von Uwe Rada | |
17. Januar: Bei der Demonstration zum Jahrestag der Ermordung von Rosa | |
Luxemburg und Karl Liebknecht werden 120 Personen festgenommen. 54 werden | |
aus der DDR ausgebürgert | |
11. Februar: Treffen des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin, | |
Eberhard Diepgen, mit dem DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker in | |
Ost-Berlin. | |
31. März: Vereinbarung über einen Gebietsaustausch des Lenné-Dreiecks | |
zwischen dem West-Berliner Senat und der DDR | |
24. April: Beginn der Maistreiks der Solidarność in Polen: In Bydgoszcz | |
legen Beschäftigte der Verkehrsbetriebe die Arbeit nieder. Zwei Tage später | |
beginnt der Streik in der Lenin Hütte in Nowa Huta in Krakau | |
1. Mai: Revolutionäre Maidemo durch Kreuzberg und Neukölln. Randale am | |
Lausitzer Platz | |
25. Mai: Schriftstellerkongress im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas E | |
88. Schriftsteller aus Westeuropa und Mittel- und Osteuropa diskutieren in | |
der Kongresshalle über den „Traum von Europa“ | |
26. Mai: Beginn der Besetzung des Lenné-Dreiecks, das in Norbert | |
Kubat-Dreieck umbenannt wird | |
1. Juli: Die Berliner Polizei räumt das Lenné-Dreieck. 182 Besetzer | |
flüchten über die Mauer nach Ost-Berlin | |
19. Juli: Konzert von Bruce Springsteen in Weißensee | |
15. August: Beginn der Auguststreiks der Solidarność in Jastrzębie. | |
Ausdehnung auf Danzig eine Woche später | |
31. August: In Warschau treffen sich erstmals offiziell Lech Wałęsa und | |
Innenminister Czesław Kiszczak. Am Abend warb Wałęsa in Danzig für das Ende | |
des Auguststreiks | |
3. September: Vorbereitungen für den Runden Tisch in Polen 25. September: | |
80.000 Menschen bei einer Großdemonstration gegen dieTagung des | |
Internationalen Währungsfonds IWF | |
1. Oktober: Rio Reiser gastiert in der Werner-Seelenbinder-Halle in | |
Friedrichshain | |
2. November: Margaret Thatcher beginnt ihren dreitägigen Staatsbesuch in | |
Polen | |
11. November: 10.000 Menschen demonstrieren am polnischen | |
Unabhängigkeitstag in Krakau | |
26. November: Erstmalig wird im Rahmen von E 88 der Europäische Filmpreis | |
vergeben. Bester Film ist Krzysztof Kieślowskis „Kurzer Film über das | |
Töten“ ausgezeichnet. Den Preis für die beste Regie geht an Wim Wenders für | |
seinen Film „Der Himmel über Berlin“. | |
15 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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