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# taz.de -- Hüttendorf im Schatten der Mauer: Der Senat springt im Dreieck
> 1988 errichtet die linke Szene ein Hüttendorf im Schatten der Mauer. Bei
> der Räumung fliehen 200 Besetzer in den Osten. Drei Beteiligte blicken
> zurück.
Bild: Alltag am Lenné-Dreieck im Juni 1988: Hütten vorne, hinten die DDR
Es ist der Rhythmus der Nacht, ein rauer Sound, eine Art Geistervertreibung
in der geteilten Stadt. „Wir haben mit allem, was zur Hand war, auf Metall
geschlagen“, erinnert sich Hans Georg Lindenau an diese Nacht auf den 1.
Juli 1988. Die Morgenpost schrieb damals, dass man glauben konnte, „man sei
im Urwald“.
Doch die Geister ließen sich nicht vertreiben. 900 Polizisten standen
bereit, um das Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz zu räumen. Dass die Räumung
bereits am 1. Juli stattfinden wird und nicht erst, wie viele vermuten,
einige Tage oder Wochen später, weiß Lindenau zu diesem Zeitpunkt schon.
„Meine Informanten im Abgeordnetenhaus haben mir das gesteckt“, freut er
sich noch heute, 30 Jahre später.
Lindenau und die anderen waren also vorbereitet. An der Mauer haben die
Besetzerinnen und Besetzer des Lenné-Dreiecks Absperrgitter und Leitern
angebracht. Sie planen nicht mehr und nicht weniger als die erste
Massenflucht über die Mauer – von West nach Ost.
Gut einen Monat zuvor, am 26. Mai, hatten die autonome Szene das
verwilderte Gelände in Beschlag genommen, Zelte und Holzhütten errichtet.
Es gibt Volksküche und Vollversammlungen, die nach außen sichtbaren
metallenen Absperrgitter sind verhängt mit Transparenten, darauf Parolen
wie „Bulle verpiss dich“, aber auch „Wir haben den Zaubertrank“. Was die
Republik Freies Wendland im Mai 1980 für Gorleben war und 1981 das
Hüttendorf an der Startbahn West für Frankfurt, das ist das Lenné-Dreieck
für die linke Szene Berlins.
Wolfgang W. war damals 30 Jahre alt und Offizier beim DDR-Grenzkommando
Mitte. In der Nacht auf den 1. Juli ist er, wie er sagt, „mit vorne
gewesen“. Einige der Besetzer kannte er schon vom Sehen, aber auch aus
Gesprächen. „Eigentlich war uns jede Kontaktaufnahme untersagt“, erinnert
sich W. „Aber nachts ist es schon vorgekommen, dass wir ein paar Worte
gewechselt haben.“
Anders als die meisten seiner Kollegen hat er sogar etwas Sympathie für die
Besetzerinnen und Besetzer empfunden. Seit einigen Jahren sammelt W. nun
alles, was er zum Thema Lenné-Dreieck und der Flucht über die Mauer in die
Hände bekommt.
Eberhard Diepgen wäre ein anderes Ende natürlich lieber gewesen. Schon
gleich nach der Besetzung hatte die Senatskanzlei des Regierenden
Bürgermeisters von Westberlin Kontakt aufgenommen zu den Stellen in der
DDR. Einfach war das nicht. „Der Regierende Bürgermeister eines
Bundeslandes konnte nicht einfach beim Oberbürgermeister in Ostberlin
anrufen.“ Aber auch mit Honecker war es nicht leicht. „Zweimal habe ich
mich mit ihm getroffen“, erinnert sich der heute 76-jährige Diepgen. „Aber
protokollarisch war es immer ein Treffen mit dem Generalsekretär der SED
und nicht mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR.“
Berlin, die geteilte Stadt, ist ein heikles Pflaster für Diplomaten. Zwar
gibt es zwischen der Senatskanzlei und der „Abteilung Westberlin“ im
Außenministerium der DDR einen Arbeitskontakt auf Staatssekretärsebene.
„Doch die wichtigen Sachen haben die Alliierten abgestimmt“, erklärt
Diepgen. Deswegen wird der Senat bei den Briten vorstellig, um das Gelände
räumen zu lassen. Doch die winken ab. Die Sowjets wiederum verweisen auf
die DDR-Behörden. „Aber die DDR hatte kein Interesse, uns zu helfen“, sagt
Eberhard Diepgen.
Die Vorgeschichte dieser vielleicht absurdesten Episode aus der Geschichte
der Berliner Teilung beginnt Ende März 1988. Für die DDR ist die vier
Hektar große Fläche am Potsdamer Platz nutzlos. Die Mauer war 1961 entlang
der Ebertstraße hochgezogen worden, das Dreieck zwischen Lenné- und
Bellevuestraße war dagegen bloß mit einem Bauzaun abgesperrt. Dann aber
einigten sich die beiden Seiten auf einen Gebietsaustausch. „Das war die
Zeit, in der wir versucht haben, pragmatische Lösungen zu finden“, weiß
Eberhard Diepgen.
76 Millionen Mark zahlt der Senat an die DDR. Kaum ist der Vertrag
unterschrieben, ergeht im Ministerium für Nationale Verteidigung der Befehl
Nr. 21/88. „Durch die Grenztruppen der DDR sind folgende Gebietsteile der
Übergabe an BERLIN (WEST) vorzubereiten“, heißt es darin, aufgelistet wird
auch das Lenné-Dreieck. Einen Tag später ist der Zaun um das Gelände, auf
dem das Gebüsch seit dem Mauerbau ungehindert wuchern konnte, verschwunden.
Zuerst sind es Umweltschützer, die hin und wieder protestieren. Denn der
Senat plant eine Verlängerung der Entlastungsstraße zur vorgesehenen
Westtangente: eine autobahnähnliche Trasse direkt entlang der Mauer, das
gehörte zur Normalität der geteilten Stadt. Ebenso wie die Proteste
dagegen. Am Todestag von Norbert Kubat, der sich nach den Maikrawallen im
Vorjahr im Knast das Leben genommen hatte, besetzt die linke Szene das
Gelände und nennt es in Kubat-Dreieck um.
Für Eberhard Diepgen kommt dieser 26. Mai nicht überraschend. „Das waren
wieder die, die einem zeigen wollten, was man in Berlin alles machen kann“,
sagt der ehemalige Regierende. „Die haben die komplizierte Rechtslage der
Stadt bewusst ausgenutzt.“ Zu dieser Rechtslage gehört es, dass die
Westberliner Polizei das Gelände bis zur Übergabe an die DDR am 1. Juli
1988 nicht betreten darf. Auch eine Kontrolle des Zugangs ist nicht
möglich: Das Staatsgebiet der DDR endet nicht an der Mauer, sondern erst
drei Meter dahinter auf Westberliner Grund. Jeder, der mit Zelten,
Bierkästen oder Molotowcocktails durch das sogenannte Unterbaugebiet im
Schatten der Mauern zum Kubat-Dreieck marschiert, kann den Polizisten eine
lange Nase zeigen.
Auf Ostberliner Seite beobachtet man das Treiben zunächst mit Skepsis,
erinnert sich Wolfgang W. „Am Anfang waren es nur wenige. Da hieß es wohl:
Lasst die mal machen. Dass die da ein Hüttendorf errichten, war nicht
abzusehen.“
W. ist zu dieser Zeit als Offiziersbeobachter eingesetzt und verfolgt das
Geschehen entweder direkt an der Mauer oder vom Haus der
Konsumgenossenschaften aus. „Vom Dach hatte man einen guten Blick.“ Dass
inzwischen die diplomatischen Drähte glühen, weiß W. nicht. Er weiß nur,
dass es keinen Befahl gab, das Gelände zu räumen.
Zu diesem Zeitpunkt nämlich ist bereits klar, dass die DDR, wie es Diepgen
nennt, kein Interesse hat, Westberlin zu helfen. Sehr zum Unmut des
CDU-Innensenators Wilhelm Kewenig. Der beklagt später an die Adresse von
Erich Honecker: „Ein anständiger Geschäftsmann putzt ein verkauftes Areal
vor der Übergabe mit der Zahnbürste.“
Hans Georg Lindenau ist sich sicher: Was danach kam, war eine bewusste
Eskalation. „Diepgen und Kewenig verfolgten eine harte Linie und wollten
damit die Wahlen im Januar 1989 gewinnen.“ Die harte Linie, das sind die
Nächte des 19. und 20. Juni 1988, in denen die Polizei fast tausend
Tränengasgranaten auf das Gelände schießt. Die Alternative Liste, wie die
Grünen in Berlin heißen und deren Sprecher Stephan Noë auch Sprecher der
Besetzer ist, redet von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“.
Die Polizei wiederum behauptet, bei den Besetzern sei eine Waffe gefunden
worden. Tatsächlich ist es eine Spielzeugpistole, die Christian Specht
gehört, dem Mann mit der Holzkamera, dessen Karriere als politisches Unikum
damals erst beginnt.
Wolfgang W. ist bei den Tränengasnächten nicht dabei. Aber er weiß von
anderen Grenzern, die einiges abbekommen haben. Einer von ihnen hat über
Lautsprecher die Westberliner Polizei aufgefordert, den Beschuss „sofort
einzustellen“. Die Bilder der DDR-Grenzer, die mit Gasmasken das Geschehen
von der Mauerkrone aus beobachten, gehen um die Welt.
Für den Senat ist es ein Drahtseilakt. Einerseits gilt es, harte Hand gegen
die Besetzer zu zeigen. Auf der anderen Seite will man das Erreichte mit
der DDR nicht aufs Spiel setzen. „Aus der Insel eine Halbinsel machen“,
lautet die Devise von Eberhard Diepgen. „Wir wollten vor allem beim Verkehr
eine bessere Anbindung erreichen.“
Also gibt es im Senat eine Arbeitsteilung: Kewenig ist als Innensenator der
Mann fürs Grobe, Diepgen bleibt auf diplomatischem Parkett der verlässliche
Staatsmann. Rückendeckung für den Innensenator gibt es trotzdem. „Er hat
das alles selbst verantwortet“, lächelt Diepgen, „aber mein Veto habe ich
nicht eingelegt.“
Die Vehemenz, mit der sich Besetzer und Polizei seit den Tränengasnächten
im Juni 1988 bekriegen, lässt für den Tag der Übergabe nichts Gutes
erahnen. Einen Tag vor der Räumung ruft Hans Georg Lindenau auf dem
Kubat-Dreieck „die Weltpresse“, wie er sagt, zu einer Pressekonferenz
zusammen: „Ich hab denen angekündigt, dass wir bei der Räumung das Gelände
über die Mauer nach Ostberlin verlassen werden.“
Die Idee von der Mauerflucht hat schon einige Tage zuvor die Runde gemacht.
Doch weder Lindenau noch andere wissen, wie viele sich tatsächlich in die
Obhut von DDR-Grenzern wie Wolfgang W. begeben würden. Unklar ist auch, ob
es Absprachen gegeben hat und welche. Lindenau behauptet, dass Till Meyer,
damals taz-Reporter und zugleich IM der Stasi, die Mauerflucht eingefädelt
habe.
Andere wiederum sagen, es sei die SEW gewesen, der Ableger der
Sozialistischen Einheitspartei der DDR in Westberlin. Doch der ehemalige
Grenzoffizier W. winkt ab. „Die Akten, die ich kenne, sagen, dass es
keinerlei Absprachen gegeben hat. Das Einzige, was wir wussten, war, dass
das auf uns zukommen kann.“ Deshalb stellen die Grenztruppen Lkws bereit,
um den Fliehenden von der Mauerkrone zu helfen.
Die Flucht ist auch bei den Besetzern nicht unumstritten. AL-Mann Stephan
Noë bekennt später: „Ich fand es absurd, mich in den Schutz eines Staates
zu begeben, für den die Verletzung der Menschenrechte zum Alltag gehörte.“
Auch Hans Georg Lindenau hegt nicht gerade große Sympathien für die DDR.
„Mein Vater saß dort im Knast“, sagt er. Für ihn war das Ganze eher eine
Performance. „Mit der Flucht haben wir demonstriert, wie einfach es ist,
Mauern zu überwinden.“
Wolfgang W. sieht das alles heute eher nüchtern. Er selbst hat einer alten
Frau auf den Lkw geholfen und sie mit den anderen Mauerspringern zum Haus
der Konsumgenossenschaften gebracht. „Dort bekamen sie von uns ein
Frühstück.“
194 Personen werden nach ihren Motiven befragt, sagt W. und zeigt ein
Dokument der Stasiunterlagenbehörde. Daraus geht hervor, dass darunter 131
Personen aus Westberlin waren, 63 aus der Bundesrepublik und auch einige
„Touristen“, wie W. sie nennt: aus Chile, Spanien, Österreich, Portugal.
„Später wurden sie über die Friedrichstraße und die Oberbaumbrücke wieder
nach Westberlin gelassen.“ Selbst Fahrscheine für die BVG wurden ihnen in
die Hand gedrückt.
„Erste Massenflucht über die Mauer nach Osten“, titelten nicht nur Berliner
Zeitungen nach dem 1. Juli 1988, sondern auch internationale Blätter. Einen
Propagandaerfolg für die DDR will Wolfgang W. darin aber nicht erkennen. Er
zeigt Artikel, die das Neue Deutschland veröffentlicht hat. „Alle sind sehr
sachlich“, sagt er und versucht sich an einer Erklärung. „Wenn wir das
aufgeplustert hätten, hätte es vielleicht einen Nachahmereffekt gegeben.“
Zu dieser Zeit hatte die Polizei Probleme mit Jugendlichen, die zur Mauer
strömten, um Konzerte am Reichstag zu hören.
Auch Eberhard Diepgen sieht das heute gelassen. „Natürlich haben mich die
Zeitungsüberschriften geärgert“, erinnert er sich. Aber schon am nächsten
Tag habe er sich gedacht: So what?! „Die sind ja alle zurückgekommen“,
lacht er und fügt schelmisch hinterher. „Leider.“
Hans Georg Lindenau glaubt dagegen an einen großen Erfolg. „Wir haben Ost
und West gegeneinander ausgespielt.“ Noch heute nennt Lindenau den 1. Juli
1988 in einem Atemzug mit dem 9. November 1989.
Uwe Rada war bei der Besetzung dabei. Das Lenné-Dreieck ist auch ein
Schauplatz in seinem Roman „1988“.
30 Jun 2018
## AUTOREN
Uwe Rada
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