# taz.de -- Tagung über den Tiergarten: Zwischen Planung und Wildwuchs | |
> So grün, so verträumt: Der Tiergarten ist Thema der interdisziplinären | |
> Tagung „Landscape of Transgression“ am Samstag im Haus der Kulturen der | |
> Welt. | |
Bild: Schatten, Bäume, Zwischenräume: Berlins Tiergarten. | |
Nachdem ihnen König Friedrich IV. den Zugang nach Berlin verwehrte, | |
versammelten sich 1848 die Verfechter der demokratischen Revolution im Park | |
vor der Innenstadt. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts | |
trafen sich hier erneut Widerstandskämpfer: Jetzt kamen die Kommunisten im | |
Tiergarten zusammen und bereiteten sich dort auf die Straßenkriege vor. | |
„Revolution und Reaktion“, stellt der Stadtsoziologe Bernhard Wiens fest, | |
kommen in der Geschichte des Berliner Tiergartens zusammen. Auf die | |
Revoluzzer im Park antwortet immer die Obrigkeit: 1895 gibt Kaiser Wilhelm | |
II. die Siegesallee in Auftrag, „die Kurfürsten, die Könige, die | |
Standbilder, 2,70 Meter hoch gestaltet“. Später werden die klobigen | |
Skulpturen entfernt, zum Teil im Garten des Schlosses Bellevue begraben, | |
symbolisch beerdigt. | |
Auf die Roten der Zwischenkriegszeit reagiert Albert Speer mit der breiten | |
Ost-West-Achse, die er als Generalbauinspektor im Zuge seiner Planungen für | |
die Reichshauptstadt Germania zwischen 1937 und 1943 durch den Tiergarten | |
zieht. Seither thront die einst vor dem Reichstag stehende Siegessäule im | |
Zentrum des Parks, und zwar um 7,50 Meter erhöht. | |
## Das Objekt der Begierde | |
Der Tiergarten war immer da. Er trägt die gesamte Geschichte Berlins, die | |
schöne und auch die unschöne. Deswegen neigt man wohl dazu, so viele | |
Deutungen um diesen grünen Park zu schnüren. Als „obskures Objekt der | |
Begierde“ bezeichnet Sandra Bartoli die urbane Parkanlage – „This obscure | |
object of desire“. Womöglich meint sie damit auch das „Objekt der | |
Sehnsucht“ oder „der Wünsche“. wwwBartoli kennt die vielen Erzählungen,… | |
sich um diese 210 Hektar große Grünfläche in der Stadt winden. Sie ist | |
Architektin, sie unterrichtet und forscht auch am Fachgebiet für Städtebau | |
und Urbanisierung der Technischen Universität Berlin und sie hat sich sehr | |
lange mit diesem Park auseinandergesetzt. Am Samstag veranstaltet sie ein | |
Symposium im Haus der Kulturen der Welt. Mit dem Titel „Landscape of | |
Transgression“ widmet es sich in 13 Beiträgen einzig dem Berliner | |
Tiergarten. | |
Schon im vergangenen Jahr publizierte Bartoli in einem Magazin mit dem | |
Titel „Architektur in Gebrauch“ gemeinsam mit ihrem Büropartner Silvan | |
Linden ihre eigene Deutung des Tiergartens. In Erzählfragmenten, Bildern | |
und losen Gedanken zählt sie verschiedene Motive auf. | |
Sie berichtet vom einstigen Hochbunker der Nationalsozialisten mit Depot | |
für Museumsstücke, Krankenhaus und Schützendach. Sie erzählt, dass schon in | |
den zwanziger Jahren der mit Rhododendren bewachsene Südwesten des Parks | |
eine Cruising Area für Homosexuelle war. Sie zeigt die Refugien obdachloser | |
Frauen, informelle Monumente, Drecklöcher, eine Hütte, Parasitenpflanzen. | |
Es wird deutlich: Sämtliche Strömungen und Nuancen des öffentlichen Lebens | |
kommen im Tiergarten zusammen. Nicht eine Erzählung, sondern viele einzelne | |
bündeln sich in diesem Park. | |
Für Bartoli ist der Tiergarten ein „Ort der menschlichen und | |
nicht-menschlichen Koexistenz und ein Ort der Verflechtung von | |
Naturgeschichte und Menschengeschichte“. Wie ist es möglich, fragt sie | |
sich, dass hier Massenevents stattfinden und zugleich daneben eine | |
Nachtigall singt? Eine sehr feine Balance zwischen Natur, Mensch und | |
Geschichte findet die Architektin hier. Eine, die Alexander von Humboldt | |
während eines Ausflugs in den Tiergarten von einer „einsamen Beschäftigung | |
mit der Natur“ schwärmen ließ, „so ganz im Genuss der reinsten, | |
unschuldigsten Freude, von tausend Geschöpfen umringt“. | |
## Einst sumpfiger Auenwald | |
Im 15. Jahrhundert wurde der eigentlich sumpfige Auenwald als Jagdgebiet | |
für die brandenburgischen Kurfürsten eingezäunt. Im 18. Jahrhundert ließ | |
der Architekt Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff den Zaun wieder abreißen | |
und wandelte den Jagdgrund zu einem barocken Lustgarten um. Der Park wurde | |
zu einer geplanten Anlage mit Bassins, breiten Alleen und grünen Salons, zu | |
einer öffentlichen Bühne für Bürger und Adel der Stadt. Doch trotzdem muss | |
der Park dicht bewachsen gewesen sein. | |
Als Peter Joseph Lenné ihn um 1840 zu einem Landschaftsgarten nach | |
englischem Vorbild umwandelte und Sichtachsen freilegte, sollen die Bürger | |
gegen den Kahlschlag protestiert haben. Planung und Wildwuchs haben seitdem | |
den Tiergarten im Wechsel- oder Zusammenspiel geprägt. Seine Abholzung nach | |
dem Krieg, seine Wiederbepflanzung in den fünfziger Jahren, die bewusste | |
Verwilderung in den Siebzigern, die teilweise Rekonstruktion barocker | |
Partien seit der Wende. | |
Undurchdringliche Buschgewächse und kühle, dunkle Waldpartien stehen heute | |
wilden Wiesen und gemähten Rasenflächen gegenüber. Eine einzigartige | |
Tierwelt, mitunter eines der größten Vogelbiotope Europas, hat sich hier | |
mitten in der Stadt angesiedelt. | |
Zerfallene Architekturen, umwucherte Mauerwerke, mattes, zersplittertes | |
Glas, das von etwas Einstigem erzählt. Im Zusammenhang mit dem Tiergarten | |
klingt die Bezeichnung „Broken-Window-Theory“ zunächst romantisch. In der | |
Tat gehörte die Inszenierung von verlassenen Architekturen zu der | |
Gartenbaukunst eines Peter Joseph Lenné. In den Landschaftsgärten des 19. | |
Jahrhunderts wurden sie als romantisch erhabene Kulissen errichtet. | |
Doch die „Theorie der zerbrochenen Fenster“ beschreibt ein ganz anderes | |
Konzept und scheint unterschwellig die feine Balance im Tiergarten zu | |
gefährden. Es geht auf die US-amerikanischen Sozialforscher James Q. Wilson | |
und George L. Kelling aus den achtziger Jahren zurück und beschreibt, wie | |
ein harmloses Phänomen, etwa ein zerbrochenes Fenster, zur Verrohung eines | |
ganzen Stadtviertels führen kann. | |
## Ästhetik versus Soziales | |
Das bloße Symbol der Verwahrlosung, so die Theorie, führt sie auch herbei. | |
Im Tiergarten zwischen Planung und Wildwuchs sehnen sich die einen nach dem | |
zerbrochenen Fenster und die anderen verfluchen es. Anscheinend kollidieren | |
in diesem Park ästhetische und soziale Vorstellungen. | |
In den letzten Jahren wurden von Vertretern des Senats, des Bezirksamts | |
Mitte, von Planern und Experten die Tiergarten-Dialoge veranstaltet, um | |
Strategien für die Zukunftsfähigkeit des großen Tiergartens zu entwickeln. | |
Dabei ging es um Funktionszuweisungen und eine Erfassung der | |
Besucherzahlen. Henrik Michalski von der Arbeitsgemeinschaft des | |
Planungsbüros Topos und Gruppe F führt eine Studie auf, in der die | |
schlechte Sichtbarkeit des Parks, seine Uneinheitlichkeit und | |
Zerschnittenheit bemängelt wird. Man fordert bei den Dialogen ein | |
„definiertes, positives Image“. | |
## Das Überschreiten | |
Von „hegemonialen Erzählungen der Stadt“ spricht Sandra Bartoli im | |
Zusammenhang mit solchen Forderungen. Von Erzählungen, die einen Glauben an | |
Kontrollierbarkeit oder Planung des urbanen Raums beinhalten. Doch „der | |
Tiergarten ist etwas anderes“, sagt Bartoli, „er ist seltsam und deswegen | |
so wertvoll“. | |
Mit einem spekulativen Ansatz bringt Sandra Bartoli für das Symposium im | |
Haus der Kulturen der Welt Wissenschaftler und Experten aus verschiedenen | |
Disziplinen zusammen. Es geht um eine höhere Bedeutung des Tiergartens. Er | |
wird eigentlich nur zu einem Fallbeispiel: Wie kann man der | |
Nichtgreifbarkeit und daher Unbehandelbarkeit des Parks überhaupt begegnen? | |
Wann verlässt ein von Menschen gemachter Ort die menschliche | |
Einflusssphäre? | |
Daher kommen an diesem Samstag auch Vertreter der Animal Studies (Eva | |
Simone Hayward) oder der Botanik (Stefano Mancuso) mit Denkmalpflegern | |
(Luise Rellensmann) oder Künstlern (Fahim Amir) zusammen. Mit dem Titel | |
„Landscape of Transgression“ soll es im positiven Sinne um das | |
Überschreiten gehen zugunsten einer Idee des städtischen Raums, der das | |
Übertreten von Grenzen in sich trägt. | |
4 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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