# taz.de -- Ausstellung Wanderlust in Berlin: Das geht uns alle an | |
> Die Ausstellung „Wanderlust“ in der Alten Nationalgalerie zeigt alte | |
> Schinken rund um die Lust aufs zwecklose Herum-laufen. Und ist damit echt | |
> aktuell. | |
Bild: Läuft: Gemälde „Bergsteigerin“ des Künstlers Jens Ferdinand Willum… | |
Diese Ausstellung wird ein Blockbuster. Ja, gut: Sie zeigt 200 Jahre alte | |
Ölbilder von mittelalten Männern mit Spazierstöcken, die in die Berge | |
blicken. Und von Damen in langen Gewändern auf Blumenwiesen. Trotzdem wird | |
die Ausstellung „Wanderlust“, die ab Mittwoch in der Alten Nationalgalerie | |
zu sehen ist, von vielen Menschen besucht werden, von sehr vielen. | |
„Wanderlust“ ist ein Thema, das mit der Moderne entstand, erfunden wurde | |
das Wort von Dichtern der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Zeit | |
war eine anstrengende, mit der Französischen Revolution als Ausgangspunkt | |
wandelte sich die feudale Gesellschaft in eine bürgerliche. Die | |
Industrialisierung begann, mit ihr die moderne Lohnarbeit. | |
## Suche nach Entschleunigung | |
Die Romantiker begaben sich dagegen auf die Suche nach Entschleunigung. Das | |
zwecklose Wandern in der freien Natur – eine kulturelle Praxis, die es | |
zuvor gar nicht gegeben hatte – wurde zur Metapher für die Sehnsucht nach | |
Überschaubarkeit, auch nach Selbst- und Welterkenntnis. | |
Viele Gemälde in der Ausstellung sind erstmals in Berlin zu sehen – etwa | |
der 1818 entstandene berühmte „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar | |
David Friedrich. Aus heutiger Perspektive wirkt das ideale Naturbild, das | |
Bilder wie dieses konstruieren, anrührend, aber auch rührend naiv. Man | |
weiß, dass viele Romantiker eigentlich gar nicht selbst authentisch fanden, | |
was sie da beschworen. Das Absolute, das sie suchten, hielten sie selbst | |
für unerreichbar. | |
Und trotzdem sagt uns ihre Sehnsucht nach Besinnung und Entschleunigung | |
noch heute sehr viel. Wer nimmt sich die Zeit, sich einfach mal ziellos | |
treiben zu lassen, ohne dabei schnell die letzten News zu checken und Mails | |
zu beantworten? | |
Das Auto und das Fahrrad stehen zu lassen und selbst in der großen Stadt, | |
die, wie wir heute erkannt haben, mindestens so erhaben ist wie ein schönes | |
Bergpanorama, schlicht mal loszuschlendern, anstatt hektisch von A nach B | |
zu hasten und dabei auch noch so viele andere Verkehrsteilnehmer wie | |
möglich zur Hölle zu wünschen? Dabei haben Gehirnforscher längst | |
nachgewiesen, dass man beim willkürlichen Gehen meist die besten Ideen hat. | |
Kreativ ist man weniger in Zeiten der angestrengten Konzentration, als wenn | |
man die Gedanken schweifen lässt. | |
## Recht auf Müßiggang | |
In einem Interview hat der Berliner Philosoph des Müßiggangs, Guillaume | |
Paoli, der seit über zwanzig Jahren lautstark auf das Recht jedes Einzelnen | |
beharrt, ausführlich spazieren gehen zu dürfen, ein interessantes | |
Rechenbeispiel aufgemacht. In der Zeit, die der durchschnittliche | |
Mitteleuropäer für den Erwerb und die Unterhaltung seines Autos arbeitet, | |
könnte er im Schnitt auch locker alle seine Ziele zu Fuß erreichen – | |
unbequem wird das erst bei großen Entfernungen, aber dafür gibt es ja auch | |
noch Bus und Bahn, deren Kunden bekanntlich großes Interesse haben an | |
innerer Einkehr und Kontemplation. | |
Die Verherrlichung des Wanderns vor 200 Jahren hat allerdings auch ein | |
Geschmäckle – und davon erzählt die Ausstellung eben auch. Es ist | |
aufschlussreich zu sehen, dass Frauen auf den Bildern meist nur auftauchen, | |
wenn sie nicht vom Wandern handeln, sondern vom weniger strapaziösen | |
Spaziergang – das hier gezeigte Bild „Bergsteigerin“ von Jens Ferdinand | |
Willumsen aus dem Jahr 1912 ist insofern eine Revolution. | |
Auch, wie das Wandern in Form der Wandervogel- und Jugendbewegung von den | |
Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, ist in der Ausstellung Thema: | |
Ernst Barlachs Skulptur „Wanderer im Wind“ aus dem Jahr 1934 scheint sich | |
weniger der Natur zu öffnen, als sich vor ihr zu verschließen – 1933 | |
schrieb er an seinen Verleger: „[…] statt römische Armgesten zu vollziehen, | |
ziehe ich den Hut in die Stirn.“ | |
Und trotzdem: Wer heute das Gefühl hat, Teil des modernen Lebens sein zu | |
müssen, verspürt bei der Sichtung der Ausstellung in der Alten | |
Nationalgalerie einen nagenden Mangel. Aber keine Sorge: Man muss ja nicht | |
gleich Trekking-Rucksäcke und Funktionssocken beim Outdoor-Ausstatter | |
shoppen. Es reicht, wie gesagt, durch die Stadt zu wandern. Dort geht es | |
heute sowieso gesünder zu als am Rand von überdüngten Äckern, die von | |
Dieseltreckern bestellt wurden. | |
9 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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