# taz.de -- Gemälde-Tausch mit Chicago: Supermoderne Perspektive | |
> Dem Pariser Boulevard ganz nah: Ein berühmtes Gemälde von Gustave | |
> Caillebotte ist jetzt in der Berliner Nationalgalerie zu bestaunen. | |
Bild: Caillebottes „Straße in Paris“: Seine Straßenszene kommt dem Betrac… | |
Am Tag der Pressevorbesichtigung, am 16. Mai, regnet es in Berlin. Überall | |
laufen die Leute mit Regenschirmen durch die Gegend. Wie in dem berühmten | |
Bild des Art Institute of Chicago. Das jetzt aber in Berlin hängt, in der | |
Alten Nationalgalerie, im Austausch gegen Édouard Manets „Im Wintergarten“ | |
(1879): Gustave Caillebottes „Straße in Paris, Regenwetter“ aus dem Jahr | |
1877. Fast jeder kennt diese Ikone des Impressionismus, wenn auch nur | |
wenigen der Name des Malers geläufig ist. | |
Zur Ikone wurde das Gemälde freilich erst in der zweiten Hälfte des 20. | |
Jahrhunderts, als es 1964 erstmals wieder das Licht der Öffentlichkeit | |
erblickte, nachdem es das Art Institute of Chicago aus einer Privatsammlung | |
erworben hatte. In Chicago fotografierte es 1990 Thomas Struth für seine | |
Serie der Museumsbilder. Tatsächlich kennen viele Menschen Caillebottes | |
Pariser Straße von Struths großformatiger Fotografie, in der sehr deutlich | |
wird, was Caillebottes Gemälde so bemerkenswert und extrem modern macht: | |
Seine Straßenszene kommt dem Betrachter oder der Betrachterin aus der Tiefe | |
des perspektivischen Bildraums in den Ausstellungsraum entgegen. | |
Caillebotte bezieht den Betrachter mit ein, er ist für ihn – wie es Struths | |
Foto zeigt – Teil des Kunstwerks. Also meint man die junge Mutter im | |
rot-blau karierten Mantel, die in Chicago zentral vor dem Gemälde steht, | |
ihren Kinderwagen in den gemalten Regen von Paris schieben zu sehen, wo ihr | |
ein elegantes Paar unter dem Regenschirm entgegenkommt. So verwegen hatte | |
sich das Caillebotte gedacht und auf der Leinwand inszeniert. Als einen aus | |
der Hüfte geschossen Schnappschuss im Vorübergehen, in Straßen der von | |
Baron Haussmann erst niedergerissenen und dann wieder radikal neu und | |
konsequent als Metropole aufgebauten Pariser Innenstadt. | |
Nass glänzt das neu verlegte Straßenpflaster der breiten Boulevards, die im | |
Bild auf einem Platz zusammenlaufen, in Blockrandbebauung umstanden von | |
hohen Häusern, deren bewusst einheitlich gestaltete Fassaden durch ihre | |
eleganten, schmiedeeisernen Balkon- und Fenstergitter charakterisiert sind. | |
Nur ein Pferd und eine Kutsche sind zwischen den Passanten zu entdecken, | |
denen der Raum gehört. Und die sich seiner erfreuen. Dieses Bild zelebriert | |
die Ästhetik der modernen Stadt und ihrer Bewohner und weiß gerade das zu | |
feiern, was einer zivilisationsfeindlichen Modernekritik ein besonderer | |
Dorn im Auge ist: die Anonymität und Uniformität der Großstadt. | |
## Ungewöhnliche Blickachsen, extreme Fluchtpunkte | |
Mit seiner zeitgenössischen Motivik von neuer Architektur, neuen Straßen | |
und Brücken in Eisenkonstruktion, vor allem aber mit seiner der Zeit weit | |
vorauseilenden experimentellen Sichtweise, die ungewohnte Blickachsen, | |
extreme Fluchtpunkte und willkürliche Bildausschnitte suchte, war | |
Caillebotte wohl der modernste unter seinen Freunden, den Impressionisten. | |
Ganz sicher war er der reichste, weswegen er sie finanzierte und so für | |
Renoir, Pissaro oder Monet zu ihrem ersten Sammler wurde. Als der Sammler | |
bedeutender ihrer Werke und der von Cezanne, Manet und Degas war er denn | |
die längste Zeit berühmt. Da trifft es sich, dass auch der Direktor der | |
Nationalgalerie in Berlin, Hugo von Tschudi, ganz früh und gegen den | |
Widerstand des Kaiserhofs die Impressionisten kaufte. | |
Naheliegend der Gedanke, Caillebottes Sammlerstücke (in Form kleiner | |
Fotografien) mit den eigenen Impressionisten zu paaren, um Letztere noch | |
einmal groß herausstellen und davon abzulenken, dass es von Caillebotte | |
einfach nur das große Bild aus Chicago gibt und dazu einige Studienblätter | |
und Ölskizzen, über die die Entstehung des Gemäldes nachzuvollziehen ist. | |
Leider kein besonders guter Gedanke. Denn wieder ins alte Narrativ vom | |
Sammler zurückzufallen, damit die Schau größer ausschaut, als sie ist, das | |
hat einen provinziellen Hautgout. | |
13 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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