# taz.de -- Zum 100. Geburtstag von Mala Zimetbaum: Die Heldin von Auschwitz | |
> Mala Zimetbaum rettete viele Häftlinge im KZ, verliebte sich und floh | |
> schließlich – erfolglos. Sie starb als Heldin, ihren Namen kennen aber | |
> nur wenige. | |
Bild: „Ich sterbe als Heldin“: Als sie gehängt werden sollte, ohrfeigte Ma… | |
ANTWERPEN taz | Sie werde als Heldin sterben, er aber werde verrecken wie | |
ein Hund – das soll Gefangene Nummer 19880 dem SS-Mann, der sie bewachte, | |
ins Gesicht geschrien haben. Ob sie es genau so gesagt hat, ist nicht | |
verbrieft. Sie, die nur „Mala die Belgierin“ genannt wurde, sollte an | |
diesem Tag, dem 15. September 1944, öffentlich im Frauenlager von | |
Auschwitz-Birkenau hingerichtet werden. | |
Heimlich allerdings schnitt sich Mala Zimetbaum, auf der Lagerstraße | |
wartend, mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf. Wer sie ihr zugesteckt | |
hatte, ist nicht bekannt. Als der SS-Bewacher es merkte und sie hindern | |
wollte, schlug sie blutend auf ihn ein. Die Symbolik der Szene ist sehr | |
stark, denn nun klebte im Gesicht des Nazis, wie auch an seinen Händen, | |
Blut. Andere Internierte des Frauenlagers standen dabei, deshalb ist diese | |
Szene vielfach bezeugt. | |
Heldin, das ist etwas Großes, etwas, das in die Geschichte eingeht, um | |
Nachgeborenen Orientierung zu bieten. Möglich, dass Mala Zimetbaum sich | |
doch irrte: Ja, sie ist als Heldin gestorben, aber gekannt wird ihr Name | |
heute kaum. Keine Straße, kein Platz, keine Schule ist in Deutschland nach | |
ihr benannt. Ihres 100. Geburtstags am 26. Januar, einen Tag vor dem | |
Gedenktag für die Opfer des Holocaust, wurde nicht gedacht. Dabei hat sie | |
das Menschsein und die Liebe verteidigt, in Auschwitz, in der Hölle also. | |
„Ich hab sie gekennt“, sagt Leo Schumer. „Gekennt“, wie im Jiddischen. … | |
ruft es mehr, als er es sagt, ein paar Tage vor Mala Zimetbaums Geburtstag | |
ins Telefon. Und später auf seinem Sofa in der sonnendurchfluteten Wohnung | |
in einem kleinen Ort bei Antwerpen, sagt er es wieder, sagt es, und wenn er | |
an sie denkt, verändert sich sein Gesicht, sein Lachen wird weich: „Ich war | |
verliebt in das Fräulein. Sie war so schön. Und so blond.“ Seine Liebe zu | |
der jungen Frau war die eines Fünf-, Sechsjährigen, der er damals 1941/42, | |
war. „Ich sehe sie immer noch genau vor mir.“ | |
Mala Zimetbaum kam dreiundzwanzigjährig oft ins Haus der Schumers, um dort | |
zu essen. Warum? Leo Schumer erklärt es so: Als mit der deutschen Besetzung | |
Belgiens ab Mai 1940 und der darauf folgenden wirtschaftlichen Ausbeutung | |
durch die Nazis für viele, auch für die Familie Zimetbaum, die | |
Existenzgrundlage zusammenbrach, luden wohlhabende Antwerpener Juden – und | |
Schumers Eltern waren es – Ärmere zu sich nach Hause zum Essen ein. Sein | |
Vater hatte eine Diamantenschleiferei, Antwerpen ist Diamantenstadt. | |
Kennengelernt hatten die Schumers die Zimetbaums, weil sein Großvater in | |
der kleinen Synagoge betete, die Mala Zimetbaums Vater im jüdischen Viertel | |
unterhielt, das damals östlich der Bahntrasse zum Zentralbahnhof lag. | |
## Geblieben, der Eltern wegen | |
Mala Zimetbaum ist im Januar 1918 in Brzesko im polnischen Galizien | |
geboren, das jüngste von fünf Kindern, eines starb früh. 1928, als sie zehn | |
war, siedelte sich ihr Vater mit seiner Familie in Antwerpen an. Warum er | |
in Mainz, wo die Zimetbaums von 1913 bis 1917 wohnten, nicht bleiben | |
konnte, ist nicht bekannt. Nur dass in der Familie, als sie zurück in Polen | |
ist, vor allem deutsch gesprochen wurde und sie „die Deutschen“ genannt | |
wurden. Das hat die vier Jahre ältere Schwester von Mala, die den Holocaust | |
überlebte, so berichtet. | |
Als die Familie nach Antwerpen zieht, ist der Vater bereits blind. | |
Finanziell über die Runden kommen sie nur, weil die Mutter und die älteren | |
Geschwister zum Familieneinkommen beitragen. In Antwerpen lebten vor dem | |
Zweiten Weltkrieg etwa 60.000 Juden und Jüdinnen, viele von ihnen | |
arbeiteten im Diamantengewerbe, so auch Geschwister von Mala und deren | |
Ehepartner. Mala, eine hervorragende Schülerin, die aufgrund der | |
angespannten Finanzlage nicht auf eine höhere Schule kann, wird Näherin. | |
Nebenbei macht sie Bildungskurse, interessiert sich, wie viele Teenager | |
damals, für die zionistische Bewegung, verliebt sich, verlobt sich (er wird | |
1944 in Auschwitz ermordet). | |
Sie wechselt später, aufgrund der Sprachen, die sie beherrscht, in die | |
Verwaltung der American Diamond Company. Das Leben könnte normal sein, wäre | |
da nicht die zunehmende Bedrohung durch die Nazis. Anders als viele, die | |
sich in Belgien noch sicher fühlen, spürt Mala Zimetbaum sie, knüpft | |
Kontakte zur örtlichen Widerstandsgruppe, hilft den Brüdern ihres Verlobten | |
in die Schweiz zu emigrieren. Als sich die American Diamond Company auf | |
Geheiß der Nazis auflösen muss und man ihr vorschlägt, wie die | |
Firmeninhaber in die USA auszureisen, bleibt sie wegen ihrer Eltern. | |
## Reiseführer durch die Vergangenheit | |
Leo Schumer ist jetzt der Reiseführer durch diese Vergangenheit, er zeigt | |
den ehemaligen Sitz der Gestapo in Antwerpen und das Denkmal für die | |
Holocaustopfer unweit davon. Die Straße liegt westlich der Bahnlinie zum | |
imposanten, dem Pantheon nachgebauten Zentralbahnhof und nun mitten im | |
neuen jüdischen Viertel. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die | |
Juden und Jüdinnen auf der anderen Seite des Bahndamms angesiedelt. In | |
Antwerpen ist die jüdische Gemeinde immer lebendig geblieben, jetzt gehören | |
etwa 25.000 Menschen dazu. Da viele von ihnen orthodox sind, sind sie im | |
Stadtbild sehr sichtbar. | |
Auf die östliche Seite der Bahnstrecke, da, wo das jüdische Quartier früher | |
war, fährt Schumer nicht gern. „Dorten erinnert mich alles an meine | |
verlorene Familie“ – zehn Menschen sind umgebracht worden. „Dorten“ sagt | |
er, wieder färbt das Jiddische sein Deutsch. | |
Trotzdem, er macht es, fährt unter der Eisenbahnbrücke durch auf die andere | |
Seite. Auf der Straße Plantin en Moretuslei zeigt er auf ein Haus, „da bin | |
ich geboren“. Es ist mit Stuck verziert und mit Balkonen. Kurz darauf biegt | |
er links in die Kroonstraat, und zeigt auf ein Haus, „da wohnte meine | |
Tante“ (ermordet mit Mann und Kindern in Auschwitz), er deutet nach vorne, | |
„da wohnten meine Großeltern“ (ermordet in Auschwitz) und dann verliert er | |
die Orientierung bei der Suche nach der Marinisstraat. | |
Der Fotograf, der mit im Auto sitzt und vor nicht allzu langer Zeit in der | |
Gegend gewohnt hat, zeigt ihm den Weg. Unterwegs deutet Schumer auf ein | |
weiteres Haus, das einmal Rundbogenfenster gehabt haben muss, die jetzt | |
weiß überstrichen sind. „Dort hatte Mala Zimetbaums Vater seine Synagoge“ | |
(auch er, seine Frau, die drei Enkel, die bei ihnen wohnten, wurden in | |
Auschwitz ermordet). | |
Endlich biegt Schumer in die Marinisstraat, parkt vor dem Haus Nummer 7, | |
Knöterich rankt sich die Balkonbrüstungen hoch bis zum Dach. „Da wohnte | |
Mala Zimetbaum“, sagt er. Eine Bronzetafel an der Fassade erinnert an sie. | |
„Für Mala Zimetbaum, Symbol der Solidarität, die am 22. August 1944 starb�… | |
übersetzt der Fotograf. Das Datum irritiert. Es gibt mehrere Todestage von | |
Zimetbaum. Der 15. September ist der wahrscheinlichste. „Am Anfang“, | |
Schumer meint den Anfang nach dem Ende des Holocaust, „hat jeder was | |
anderes gesagt.“ | |
Das Haus ist schmal, drei Fenster in der Breite, vier Stockwerke hoch. | |
Plötzlich öffnet ein Mann die Haustür, tritt auf die Straße, Antwerpener | |
ist er, freundlich, aufgeschlossen. 1942 sei er geboren. Er wohnt jetzt im | |
dritten Stock, wo die Zimetbaums einst lebten. Ja, er kenne die Geschichte | |
und wisse, dass Mala in drei Tagen einhundert Jahre alt würde. | |
Seine Frau kommt kurz danach ebenfalls die Treppe herunter. Es stellt sich | |
heraus: eine Deutsche. Aus Berlin. Ihr gehört das Haus jetzt. Sie hat einen | |
weißblühenden Rosenstrauch unter die Gedenktafel gepflanzt und gebietet | |
scharf, dass kein Foto in der Zeitung gedruckt werden dürfe, auf der er | |
nicht blüht. Tags darauf entschuldigt sie sich per E-Mail für ihren Ton. | |
## Pogrom in Antwerpen | |
Mit der Okkupation durch die Deutschen werden auch in Belgien | |
Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung angeordnet. Allerdings waren | |
die Bewohner in Belgien nicht nach Religion registriert. Es wurde | |
nachgeholt. Mala Zimetbaum wurde im Dezember 1940 im amtlichen | |
Judenregister eingetragen. Als Staatenlose. | |
Im April 1941 kommt es in Antwerpen zu einem Pogrom. Deutsche und flämische | |
Nazis brennen zwei Synagogen nieder, plündern jüdische Geschäfte. Ab 1942 | |
wurde auch den Zimetbaums immer klarer: Es wird gefährlich. Malas Bruder | |
wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, flieht, taucht mit einer der Schwestern | |
unter. Mala überredet ihre Eltern, sich ebenfalls zu verstecken, sucht | |
einen Unterschlupf für sie, findet einen in Brüssel. | |
In Belgien ist die Bevölkerung in großem Maße bereit, Juden zu helfen. Es | |
kommt jedoch nicht mehr zum Umzug. Mala Zimetbaum wird, kurz bevor die | |
Familie untertauchen kann, am 22. Juli 1942 bei einer Razzia am | |
Zentralbahnhof verhaftet. Man bringt sie in die Kaserne Dossin in Mechelen, | |
30 Kilometer südlich von Antwerpen. Dort wurden Juden und Jüdinnen | |
interniert, bevor die Deportationen nach Auschwitz begannen. | |
Die Kaserne, ein von vier Seiten umbauter Appellplatz, ist heute | |
großenteils in Eigentumswohnungen aufgeteilt. Der Platz im Innenhof, von wo | |
aus die jüdischen Männer, Frauen und Kinder deportiert wurden, ist nun ein | |
in die Erde eingelassenes Parkhaus, dessen Dach der etwas erhöhte Park der | |
Wohnanlage ist. Parken, das bedeutet: bleiben. | |
Das Museum, das neben der Kaserne errichtet wurde, wo über die Geschichte | |
des Holocaust in Belgien informiert wird, sieht dagegen wie ein hohes, | |
kastiges Silo ohne Fenster aus. Die Architektur ist absichtlich so gewählt. | |
Es gab kein Entrinnen. Auch Fotos von Mala Zimetbaum – und Postkarten, die | |
sie von Auschwitz schrieb, sind dort ausgestellt. | |
## Sie unterläuft die Befehle | |
In der Kaserne Dossin wird Mala Zimetbaum eine Arbeit bei der Registrierung | |
der eintreffenden Juden und Jüdinnen zugeteilt. Schon da nutzt sie alle | |
Möglichkeiten, um die Befehle zu unterlaufen. Sie findet Wege, Nachrichten | |
nach außen zu schmuggeln, auch Schmuck Internierter, der hätte abgegeben | |
werden müssen. Ein Bote bringt ihn zu ihrer Mutter, die ihn den Familien | |
zurückgibt. Mala Zimetbaum schafft es zudem, Kinder vor dem Abtransport ins | |
KZ zu bewahren, indem sie sie von den Deportationslisten streicht. Ihre | |
Flucht plant sie auch, sie will mit ihrem Verlobten in die unbesetzte Zone | |
in Frankreich. Kurz zuvor aber kommt sie selbst auf die Liste und wird am | |
15. September 1942 nach Auschwitz deportiert. | |
„Wenn du Jude warst, musstest du damals jeden Tag Glück haben“, sagt | |
Schumer in seinem Wohnzimmer. Er gehört zu denen, die aus allen brenzligen | |
Situationen gerettet wurden. Acht, neun Jahre alt war er, als er mit seiner | |
Schwester und seinen Eltern versuchte, über Frankreich in die Schweiz zu | |
gelangen. Über ein Jahr dauerte die Flucht, mitunter waren die Kinder von | |
den Eltern getrennt; immer war im entscheidenden Moment jedoch jemand da, | |
der ihnen half. In der Schweiz wohnten die Eltern seiner Mutter. Die | |
Großmutter war die Schwester Rosa Luxemburgs. In der Familie habe man sich | |
ein wenig unwohl gefühlt wegen ihr, erzählt er. Warum? „Weil sie | |
Kommunistin war.“ | |
Mala Zimetbaums Glück war anders als Schumers. Sie kam nicht sofort ins | |
Gas, als sie zwei Tage nach der Abfahrt aus Belgien in Auschwitz ankam. Sie | |
wurde einem Arbeitskommando zugeteilt. Da sie viele Sprachen beherrschte, | |
bekam sie sogar eine bessere Arbeit als die meisten ihrer Mitinternierten. | |
Sie wurde Läuferin, lebende Post, Botin also im Lager. Dabei lernte sie | |
viele Leute, aber auch das Lager selbst und die Hierarchien gut kennen. Das | |
kommt ihrer eigentlichen Absicht und ihrem Selbstverständnis zugute, | |
nämlich: so vielen Menschen wie möglich helfen, Widerstand leisten, auf | |
Unmenschliches mit Menschlichem reagieren. | |
Widerstand im KZ ist unsichtbares Handeln. Überlebende haben vielfach | |
bestätigt, dass sie durch Mala Zimetbaum gerettet wurden. Sei es, dass sie | |
ihnen Essen organisierte oder anständige Kleidung. Dass sie Medikamente | |
auftrieb oder dafür sorgte, dass Schwache leichtere Arbeit zugeteilt | |
bekamen. Auch soll sie Informationen von außen über die Weltlage | |
weitergegeben haben. Sie hat versucht, über Verwandte von Insassen in | |
anderen Lagerblöcken etwas zu erfahren und Austausch hergestellt. Sie hat | |
Tote auf Selektionslisten gesetzt, um so noch Lebende zu retten. | |
Sie hat auch Sachen von Kameradinnen versteckt, etwa wenn eine | |
Entlausungsaktion anstand. Bei Entlausungen wurde die Kleidung in ein | |
Entlausungsbad geworfen, die die Insassinnen dann nass zurückbekamen. Zogen | |
sie sie nicht nass an, blieben sie nackt. Da Zimetbaum offenbar zudem gute | |
Innensichten ins Krankenrevier hatte, wusste sie oft, wann Selektionen | |
bevorstanden. Dann warnte sie Kranke, damit sie sich gesundmelden konnten, | |
denn Selektion bedeutete: ab ins Gas. | |
## Mala und Edeks Wahnsinnsliebe | |
Irgendwann im Jahr 1943 passiert etwas: Die Jüdin Mala Zimetbaum, | |
Häftlingsnummer 19880, und der fünf Jahre jüngere polnische Katholik Edward | |
Galinski, genannt Edek, Häftlingsnummer 531, verlieben sich ineinander. Er | |
kam schon 1940 als politischer Häftling ins KZ. Als Schlosser war er öfters | |
auch im Frauenlager tätig. Es muss eine Wahnsinnsliebe zwischen den beiden | |
gewesen sein, gepaart mit großer Leidenschaft. Sie berührten sich nicht und | |
dennoch schienen sie vereint, berichten überlebende Mithäftlinge. Sie | |
erzählen auch, dass sich die beiden im Röntgenraum der Krankenbaracke oft | |
trafen, dass der Tisch, auf dem der Lagerarzt Josef Mengele tagsüber seine | |
Versuche machte, abends das Liebeslager der beiden war. | |
Im Frühsommer planen Edek Galinski und Mala Zimetbaum ihre Flucht. Etwa 900 | |
Menschen sind aus Auschwitz geflohen, wie viele wieder gefangen und in der | |
Regel sofort hingerichtet wurden, ist nicht klar, manche sagen: zwei | |
Drittel wurden wieder gefasst, andere gehen von mehr aus. Für die Flucht | |
organisierte sich Edek eine SS-Uniform, Mala wird den Anzug eines | |
KZ-Arbeiters überziehen und ein Waschbecken über dem Kopf tragen, das ihr | |
Gesicht verdeckt, so der Plan. Ein Passierschein wird wohl mit Hilfe einer | |
Freundin, die als Häftling in der Verwaltung arbeitete, besorgt. Der | |
falsche SS-Mann (Edek) bringt den falschen Arbeiter (Mala) angeblich zu | |
einem Auftrag außerhalb des KZs. | |
Am 24. Juni 1944 gelingt den beiden die Flucht. 13 Tage sind sie in | |
Freiheit. Mala Zimetbaum ist die erste Jüdin, die aus Auschwitz flieht. Am | |
6. Juli aber werden sie, die genauen Umstände sind unklar, von einer | |
Patrouille gefasst und wieder nach Auschwitz gebracht. Sie werden verhört, | |
sie werden gefoltert, die SS will Namen von Mitwissenden haben. Sie | |
verraten niemanden. | |
Und bekommen heimlich Unterstützung: Einigen Quellen zufolge soll eine | |
Wache es ihnen ermöglicht haben, sich nachts in einer Bunkerzelle zu | |
treffen, um sich abzusprechen. Zu umarmen. Abschied zu nehmen. Andere | |
Quellen sagen, dass nur dabei geholfen wurde, Nachrichten zwischen Edek und | |
Mala zu übermitteln. Noch heute sind in den Bunkern in Auschwitz, in denen | |
sie einsaßen, ihre Namen, die sie in die Wand ritzten, zu sehen. Edek | |
Galinski stirbt am 15. September 1944. Seine letzten Worte: „Lang lebe | |
Polen.“ | |
Nach der missglückten Hinrichtung im Frauenlager, ziemlich sicher am | |
gleichen Tag, wird Mala Zimetbaum zusammengeschlagen, schwerst misshandelt | |
und auf einem Handkarren davongeschoben. Ob sie noch lebte, als sie ins | |
Krematorium geworfen wurde, oder doch schon tot war, ist nicht klar. | |
„Dieses Vieh kommt lebend in den Kamin“, soll Maria Mandl, die | |
Oberaufseherin des Frauenlagers von Auschwitz-Birkenau, gebrüllt haben. | |
## Warum kennen Deutsche Mala Zimetbaum nicht? | |
Leo Schumer sitzt im Versammlungsraum der jüdischen Organisation B’nai | |
B’rith in der Lamorinierestraat in Antwerpen, den sie Mala Zimetbaum | |
gewidmet haben. Ein Bild von ihr steht groß im mit Teppichen ausgelegten | |
Saal. Jedes Jahr beten sie an ihrem Todestag das Kaddisch, das jüdische | |
Totengebet. „Das ist wichtig für uns“, sagt Schumer. Und dann sagt er noch, | |
dass man nicht denken solle, es gab nach dem Krieg nur Traurigkeit. | |
„Niemand hat über das gesprochen, was war. Erst in den 80er Jahren begannen | |
die Leute zu erzählen.“ Traumatisierte, das bestätigt die Forschung, können | |
jahrzehntelang nicht über das sprechen, was sie erfahren haben. Sie | |
verdrängen, um sich im normalen Leben überhaupt zurechtfinden zu können. | |
Ganz allerdings kann das nicht stimmen, wenn es um Mala Zimetbaum geht. | |
Immerhin sammelten die Frauen, die überlebt hatten und ihr Überleben Mala | |
verdankten, bald nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz Geld für ein Denkmal für | |
ihre Retterin. Vor einer Synagoge in Antwerpen wurde es aufgestellt. Der | |
Rabbi jedoch duldete es nicht, es wurde zerstört. Schumer sagt, er sei | |
dabei gewesen, als es geschah. Die orthodoxe Gemeinde konnte es damals | |
nicht akzeptieren, dass sie einen Christen liebte, meint er. | |
Und in Deutschland? Warum kennt man Mala Zimetbaum hier nicht? Weil sie | |
nicht nur Opfer sein wollte, sich den Nazis nicht unterwarf, die Würde des | |
Menschen verteidigte und liebte, wo Liebe nicht erlaubt war? „Ja“, | |
antwortet die italienische Journalistin Francesca Paci von La Stampa in | |
einer E-Mail. | |
Sie ist an jeden Ort gefahren, wo Zimetbaum und Galinski ihren Fuß | |
hingesetzt hatten, und hat vor zwei Jahren in Italien ein Buch über sie | |
veröffentlicht, für das sie keinen deutschsprachigen Verlag findet. „Mala | |
war ein einsamer Wolf. Edek auch. Sie kämpfte als Frau, nicht als Gruppe. | |
Sie war Jüdin, aber nicht beim jüdischen Widerstand, sie arbeitete mit | |
kommunistischen Gefangenen zusammen, war aber keine Kommunistin, sie floh | |
aus Auschwitz, um der Welt davon zu berichten, aber sie floh auch aus | |
Liebe. Sie half allen, arbeitete für die Deutschen, war jedoch niemals eine | |
Kollaborateurin. Sie war schön, klug und dann hatte sie auch noch Sex.“ | |
Lorenz Sichelschmidt, Sprachwissenschaftler aus Bielefeld, der 1995 ein | |
kleines Buch über Zimetbaum schrieb, das kaum Beachtung fand, sieht es | |
faktischer: Man erinnere sich nicht an sie, weil das, was sie hinterlassen | |
hat – Solidarität, Leidenschaft, Widerstand, Würde und Liebe –, nicht | |
materiell ist, nicht greifbar. | |
26 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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