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# taz.de -- Film über Holocaust-Überlebende: Ausgangspunkt Birkenau
> Zum Holocaust-Gedenktag zeigt 3sat die Regisseurin Marceline
> Loridan-Ivens im Porträt. Der Film wurde bis kurz vor ihrem Tod gedreht.
Bild: Marceline Loridan-Ivens beim Dreh zum Film, in ihrer Pariser Wohnung
„Ich werde dir meine Nummer geben“, hat sie zu dem sehr muskulösen, sehr
jungen Mann gesagt, mit dem sie getanzt hat: 78750 – ist nicht ihre
Telefonnummer. 78750 – ist die Nummer, die sie ihr auf den linken Unterarm
tätowiert haben.
Die damals Fünfzehnjährige war 1944 mit ihrem Vater aus dem
Provence-Städtchen Bollène deportiert worden. Nach Auschwitz-Birkenau: „Ich
sehe die Nachricht wieder vor mir, die du mir dort hast zukommen lassen:
Ein zerknittertes Stück Papier, an einer Seite eingerissen. An die erste
Zeile erinnere ich mich: ‚Meine liebe kleine Tochter.‘ An die letzte auch:
‚Shloïme.‘ Und dazwischen weiß ich nichts mehr. Ich suche und erinnere mi…
nicht mehr.“
Der Vater wurde ermordet, sie hat ihn nie wiedergesehen, und es sind
etliche Jahrzehnte vergangen, bis sie ihm trotzdem eine Antwort geschrieben
hat. Als [1][Marceline Loridan-Ivens]’ „Et tu n’es pas revenu“ – „U…
bist nicht zurückgekommen“ – 2015 erschien, war das in Frankreich ein
Ereignis, wie es Ereignisse nur in Frankreich gibt. Die Veröffentlichung
der Tagebücher Victor Klemperers – „Ich will Zeugnis ablegen bis zum
letzten“ – war 20 Jahre zuvor in Deutschland ein Ereignis nach deutschen
Maßstäben gewesen.
Deutschland war beeindruckt und betroffen. Man wird im Unterschied nicht
sagen können, dass das ganze Land bewegt war. Man kennt hierzulande auch
keine Staatsakte wie den anlässlich des Todes der Holocaust-Überlebenden
[2][Simone Veil] im Juli 2017.
Marceline Loridan-Ivens hat teilgenommen, hat Präsident Macrons Hand
geschüttelt. Sie hatte Veil in Birkenau kennengelernt. „Für mich war es,
als ob alle Mädchen aus Birkenau in das Panthéon kamen“, erzählt sie ihrer
Friseurin.
## „Sind Sie glücklich?“
Wir Zuschauer sehen sie auch beim Kaffeekochen und beim Zeitunglesen in
ihrer kleinen Pariser Wohnung. An den Anfang ihres Filmporträts über
Marceline aber hat Regisseurin Cordelia Dvorák eine Signierstunde gestellt:
„Ich habe also wie viele Bücher signiert … 80?“ „Nein, mehr.“
Dvorák hat hier einen Dokumentarfilm gemacht, keine Dokumentation. Sie
spricht mit Loridan-Ivens; Loridan-Ivens spricht mit alten Freunden; neuere
Freunde – wie der Schauspieler August Diehl – sprechen über sie. Es gibt
keinen Off-Kommentar. Marcelines Mutter und ihre vier Geschwister, die alle
nicht deportiert wurden, bleiben unerwähnt.
Loridan-Ivens ist früh mit der Pariser Filmszene in Kontakt gekommen –
deshalb gibt es berückende Schwarzweiß-Aufnahmen von der jungen Frau,
winzig klein, aber mit um so größerem Haarschopf, in
Saint-Germain-des-Prés, bevor die Touristen kamen, das berühmte Cafe „Les
Deux Magots“ im Hintergrund: „Rate mal, was ich da gemacht hab, die
nächsten sechs Jahre?“, hat sie August Diehl gefragt, viel später: „Und i…
hab mit den Schultern gezuckt, und dann hat sie gesagt: ‚Gevögelt.‘ Und
dann hat sie gesagt: ‚Und rat mal, was für ’ne Art Mann? Groß. Blond.
Blauäugig.‘“
Sie fängt selbst an, dokumentarisch zu filmen, sie fragt die Menschen auf
der Straße: „Sind sie glücklich?“ Für ihren autobiografischen Spielfilm
„Birkenau und Rosenfeld“ (2003) besetzt sie Diehl. Dazwischen liegt die
lange, zweite Ehe mit der Dokumentarfilm-Legende Joris Ivens: „Was mich am
meisten verführt hat: Joris war ein Mann des 19. Jahrhunderts!“
## Ein Minirock in Vietnam
Sie meint damit gar nicht so sehr sein Geburtsdatum am 18. November 1898
und den Altersunterschied von 30 Jahren: „Joris brachte noch das wunderbare
Wissen der allerersten Filmemacher mit.“ Gemeinsam drehten sie Filme über
Maos Kulturrevolution und die Befreiungsbewegungen in Algerien und Vietnam.
Und sie hinterlässt Eindruck bei den Revolutionären: „Damals war das ein
Ereignis in Vietnam: ein Minirock!“, lacht die Übersetzerin Xuan Phuong,
als sie der neunzigjährigen Loridan-Ivens eine Einladung des
vietnamesischen Kulturministers überbringt.
Loridan-Ivens blickt auf ein langes, freies Leben, nicht frei von
Irrtümern, mit einem Fixpunkt: „Alles nimmt seinen Ausgangspunkt für mich
in Birkenau. […] Nur noch ein paar Jahre und die Überlebenden werden alle
nicht mehr da sein.“ Loridan-Ivens starb am 18. September 2018, ein Jahr
nach Simone Veil, sechs Wochen nach Ende der Dreharbeiten.
27 Jan 2020
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## AUTOREN
Jens Müller
## TAGS
Juden in Frankreich
Dokumentarfilm
Auschwitz
Holocaust-Gedenktag
Holocaustüberlebende
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Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Frankreich
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