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# taz.de -- 40 Jahre Anti-AKW-Selbstverbrennung: „Er wollte ein ultimatives Z…
> 1977 zündete sich der Atomkraft-Gegner Hartmut Gründler an und starb. Die
> Aktion fiel in den „Deutschen Herbst“ – und ist doch fast vergessen.
Bild: Hartmut Gründler während eines Hungerstreiks
Es ist ein nasskalter Tag in Hamburg im November 1977, als Hartmut Gründler
in Richtung des Hamburger Kongress-Ungetüms CCH läuft. Drinnen hält die
Bundes-SPD gerade ihren Parteitag ab. Der Regierungsflügel der Partei um
Kanzler Helmut Schmidt will mit einem Beschluss seinen Pro-Atom-Kurs
absichern – während im Land der Protest dagegen wächst. Auch Gründler
gehört zu den Gegnern. Aber der Protest reicht ihm nicht.
Der 47-Jährige hat einen Benzinkanister dabei. Wenige hundert Meter vor dem
Congresscentrum, vor der Petri-Kirche, übergießt sich Gründler mit Benzin
und zündet sich an. Neben ihm steht seine Aktentasche voller Flugschriften.
Die Einkaufsmeile an der Kirche ist wegen des Buß- und Bettags nur wenig
belebt. Eine Polizeistreife entdeckt den brennenden Mann und bringt ihn ins
Krankenhaus. 80 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Wenige Tage später
stirbt Gründler, am 21. November – genau vor 40 Jahren.
Die Tat fällt in den „Deutschen Herbst“. Die Ermordung Hanns-Martin
Schleyers durch die RAF, die Entführung der „Landshut“ und die Selbstmorde
von Andreas Baader und Co. sind hoch und runter erzählt worden. Die
Selbsttötung Hartmut Gründlers ist dagegen fast vergessen. Dabei drückt sie
auf genauso beklemmende Weise das damalige bleierne politische Klima aus.
Es ist der junge Umweltpolitiker Jo Leinen, den Hartmut Gründler vor seiner
Tat als letztes besuchte. Beide sind alte Bekannte. Leinen arbeitet beim
SPD-Vorstand als Europasekretär. Was ihn aber mehr umtreibt, ist seine
Arbeit für den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU). Gründler
kennt er von der Bauplatzbesetzung im badischen Whyl zwei Jahre zuvor. Dort
kämpfen Umweltschützer und Einheimische gegen ein geplantes Atomkraftwerk
am Rhein.
## Hauptberuflich Umweltschützer
Leinens Sinn für Kompromisse sowie seine Doppelrolle als Umweltaktivist und
SPD-Politiker machen ihn später zum Umweltminister von Oskar Lafontaine im
Saarland. Der protestantische Pfarrerssohn Gründler ist anders,
unbedingter. Er tritt mehrere Male in den Hungerstreik, kettet sich in
Kirchen an, verfasst unzählige Flugschriften gegen die Atompolitik der
Bundesregierung. Er wirft ihr Lügen und systematische Falschinformationen
im Umgang mit der Atomenergie und ihren Risiken vor.
Gründler, 1930 in Nordhessen geboren, hatte ursprünglich als Lehrer
gearbeitet. Seit Anfang der Siebzigerjahre führte er praktisch ein
hauptberufliches Leben als Umweltschützer. Gönner aus der
Umweltschutzbewegung unterstützten ihn finanziell. Das Wort
„Umweltschützer“ hätte Gründler nicht gefallen, er bevorzugte
„Lebensschützer“. Denn, so schrieb er: „Lebensfeindliche Umwelten verdie…
keinerlei Schutz.“ Der studierte Linguist prangerte die verharmlosende,
offizielle Sprache wie „Kernenergie“ und „Entsorgung“ an – als ob man…
der durch die atomare Nutzung hervorgerufenen „Sorgen“ einfach entledigen
könne.
„Er wirkte auf mich sehr verzweifelt“, erinnert sich Leinen, der heute, 69
Jahre alt, für die SPD im Europaparlament sitzt. „Er sagte mir noch, dass
er SPD-Bundesforschungsminister Hans Matthöfer zur Rede stellen wollte.“
Gründler hatte der Regierung unzählige Briefe mit seinen Argumenten
geschrieben, aber nie eine Antwort bekommen. Nach seinem Besuch bei Leinen
fährt Gründler nach Hamburg – und zündet sich an.
## Windelweicher Formelkompromiss
Nicht nur im Umgang mit sogenannten Linksextremisten fuhr die
SPD-FDP-Regierung unter Helmut Schmidt damals einen harten Kurs. Auch in
der Atom-Frage zeigte sie sich kompromisslos. Nach der Ölkrise 1973 hatte
sie in ihrem „vierten Atomprogramm“ den sofortigen Bau weiterer Meiler
beschlossen. Dazu gehörten Brokdorf, das niedersächsische Grohnde – und
Whyl, das am Ende nie gebaut wurde.
Schmidt hatte mit den Gewerkschaften und dem Arbeitnehmerflügel wichtige
Partner auf seiner Seite, denen es um Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze
ging. Willy Brandt, der SPD-Chef, vermied eine klare Positionierung, da
auch zu seiner Regierungszeit Atomkraftwerke gebaut wurden. Schmidt dagegen
verkündete vor dem Parteitag in Hamburg, dass er auch bei einem Gegenvotum
seinen Atomkurs fortsetzen werde.
Am Ende setzte sich ein windelweicher Formelkompromiss des
Regierungsflügels durch, in dem der Satz stand: „Es muss die Option,
künftig auf Kernenergie zu verzichten, geöffnet werden.“ Ansonsten galt der
Kohle der Vorrang, neue AKW sollten nur bei einer Energielücke gebaut
werden. Mit anderen Worten: Es blieb alles beim Alten.
„Die Umweltbewegung war nicht seine Kultur“, sagt Jo Leinen über Helmut
Schmidt. Nicht nur deren Inhalten, sondern auch deren Lebensstil stand
Schmidt mit völligem Unverständnis gegenüber. Leinens bittere Bilanz: „Zwei
SPD-Kanzler haben zwei neue Parteien produziert. Schmidt hat die Grünen
gemacht und Gerhard Schröder die Linkspartei“. Er meint die Agenda-Politik
des letzten SPD-Kanzlers.
## Knappe Mehrheit für Schmidt
Erhard Eppler war der prominenteste Gegenspieler Schmidts und verkörperte
jahrzehntelange das linke Gewissen der Sozialdemokraten. Eppler traf
Gründler zwei Mal, nachdem der ihn um ein Gespräch gebeten hatte. Er
erinnert sich an einen „zutiefst aufgewühlten, redlichen Mann“.
Der ehemalige Entwicklungshilfeminister, heute 90 Jahre alt, erinnert sich,
dass der Schmidt-Antrag in Hamburg mit 60 Prozent nur eine knappe Mehrheit
bekam. „Von den 60 Prozent waren sicherlich viele darunter, die eigentlich
Zweifel hatten, den eigenen Kanzler jedoch nicht beschädigen wollten.“
Eppler erinnert sich auch an eine denkwürdige Begegnung vor dem Parteitag.
„Schmidt lud mich ins Kanzleramt. Vier Stunden lang redete er auf mich ein,
während er hinter seinem großen Schreibtisch saß und ich auf meinem
Stühlchen. Er sagte, dass er auf keinen Kompromiss mit den Atom-Skeptikern
eingehen werde. Wie er mich da vier Stunden sitzen ließ, das war als
Demütigung für mich gemeint.“
Auf dem Parteitag war der Tod Gründlers nur inoffiziell ein Thema. „Man
raunte sich das so zu. Ich war natürlich perplex.“ Am Rednerpult wurde die
Selbstverbrennung nicht erwähnt, wie aus dem Parteitagsprotokoll
hervorgeht. „Wir Atomgegner wollten es vorne am Pult nicht zum Thema
machen. Ich hätte es als unfair empfunden, seinen Freitod zum Argument
gegen den Kurs von Schmidt zu machen“, sagt Eppler.
## Das „ultimative Zeichen“
Roland Vogt ist einer der Mitbegründer der Grünen, er hat das
Sonnenblumen-Logo der Partei erfunden. Vogt kennt Gründler aus Whyl. „Er
war ein Alleingänger“, erinnert er sich. „Ich hatte Mitleid mit ihm, so wie
er seine Ideen allein umsetzte.“ In Whyl trat Gründler in einen
unbefristeten Hungerstreik. Er war ein Anhänger Gandhis und dessen Idee der
Satyagraha. Demnach kann ein Mensch am besten seine Gegner überzeugen,
indem er gewaltlosen Widerstand ausübt und gleichzeitig bereit ist, Leiden
auf sich zu nehmen.
Roland Vogt und Jo Leinen konnten Hartmut Gründler zum Abbruch des
lebensgefährlichen Essensentzugs in Whyl bewegen. Sie vermittelten zwischen
ihm und Forschungsminister Matthöfer. Im Gegenzug sagte Matthöfer zu, einen
„Bürgerdialog Kernenergie“ einzurichten.
Eigentlich wollte Gründler auch in Hamburg in einen unbefristeten
Hungerstreik treten. Der aber klappte nicht, weil Gründler den Wohnwagen,
den er vor das Kongressgebäude stellen wollte, nicht organisieren konnte.
„Ein Hungerstreik ist ja eine Verbrennung von innen – die Fettreserven
werden langsam aufgezehrt. Er wählte die schnelle Verbrennung, so lese ich
das. Er wollte ein ultimatives Zeichen setzen“, sagt Vogt.
Das Hamburger Abendblatt verglich Gründlers Tat einen Tag danach mit den
Selbstverbrennungen des DDR-Pfarrers Oskar Brüsewitz und des tschechischen
Studenten Jan Palach. Wenn Freunde Gründlers vor der Petrikirche eine
Gedenktafel anbringen wollten, sei das menschlich verständlich, hieß es
dort. „Wenn sie damit aber Parallelen zu Brüsewitz und Palach im
Bewusstsein verankern wollen, so dürften sie wenig Resonanz finden. Wem
soll es einleuchten, die Situation der Kernenergie-Gegner in der
Bundesrepublik mit Prag unter Sowjetbesatzung oder mit der Lage der Kirchen
in der ‚DDR‘ zu vergleichen?“ Will heißen: Wer sich im Osten verbrennt, …
dies aus nachvollziehbaren Motiven. Wer es im Westen macht, hat ein
persönliches Problem.
Einige Tage später fand in Tübingen die Trauerfeier statt. Auf Gründlers
Sarg wurde, so hatte er es gewollt, ein Buch von Helmut Schmidt genagelt.
Das Buch hieß „Als Christ in der politischen Entscheidung“. An Gründlers
Geburtshaus im nordhessischen Hümme hängt seit einigen Jahren eine
Gedenktafel: „Er stritt und litt für Schöpfung und Umwelt bis zum
freiwilligen Tod durch Selbstverbrennung. Ein Leben für die Wahrheit – ein
Tod gegen die Lüge.“
21 Nov 2017
## AUTOREN
Gunnar Hinck
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