| # taz.de -- Debatte um Atomenergie: Zu teuer, zu unflexibel | |
| > Atomkraftwerke als Helfer in der Klimanot? Das würde sich für die | |
| > Betreiber nicht rechnen – und den erneuerbaren Energien nicht helfen. | |
| Bild: Das AKW Brokdorf muss spätestens Ende des Jahres stillgelegt werden | |
| Neu sind die Vorstöße der Atomwirtschaft wahrlich nicht: Über Jahrzehnte | |
| hat es Tradition, dass sich die Branche als vermeintlicher Retter des | |
| Weltklimas ins Spiel bringt, wann immer sie um Anerkennung ringt. Das | |
| zeigte sich schon im Nach-Tschernobyl-Jahr 1987, als der akute Schock, den | |
| die Strahlenwolke in Deutschland ausgelöst hatte, verflogen war: Die | |
| Stromwirtschaft lud den [1][Bonner Klimatologen Hermann Flohn] aufs Podium, | |
| um den Zuhörern das Thema Klimawandel nahezubringen. Flohn hatte als einer | |
| der Ersten in Deutschland dazu gearbeitet. | |
| Dass nun Jahrzehnte später die Atomwirtschaft die aufbrandende Klimadebatte | |
| umso intensiver zu nutzen sucht, um sich als Helfer in der Not zu | |
| inszenieren, kann also niemanden überraschen, der die Energiediskussion | |
| schon lange verfolgt. Und ja, es scheint der Branche derzeit sogar ein | |
| wenig zu gelingen, in Deutschland den Eindruck zu erwecken, als wäre es | |
| besser gewesen, zuerst aus den fossilen Energien auszusteigen und dann erst | |
| aus der Atomkraft. Denn schließlich, so die Erzählung, verursacht | |
| Atomenergie kein CO2. | |
| Vordergründig mag die Sichtweise Charme haben, doch es gibt viele | |
| Argumente, die dagegen sprechen. Zum einen die systemische Frage: Die | |
| bestehenden Atomkraftwerke passen nicht zu einem massiven Ausbau von | |
| Windkraft und Solarstrom. Denn AKW sind für eine jährliche Laufzeit von | |
| rund 8.000 Stunden ausgelegt – also für alle Stunden des Jahres abzüglich | |
| der Wartungsintervalle. | |
| Künftig aber braucht niemand mehr Kraftwerke, die rund um die Uhr laufen. | |
| Es sind stattdessen solche nötig, die maximal 4.000 Stunden im Einsatz | |
| sind. Denn in der restlichen Zeit werden Sonne und Wind genug Strom | |
| liefern. Die konventionellen Kraftwerke können entsprechend flexibel sein – | |
| dafür sind Atomkraftwerke zu träge. | |
| Zwar verweisen die Freunde der Atomkraft darauf, dass die Meiler so | |
| unflexibel dann doch nicht seien. Die Praxis jedoch spricht eine andere | |
| Sprache: Die Reaktoren sind heute auch dann noch mit einem satten Teil | |
| ihrer Leistung in Betrieb, wenn gerade Photovoltaik und Windkraft die Netze | |
| fluten und die Strompreise an der Börse ins Negative fallen. Das ist dann | |
| doch ein hartes Indiz für begrenzte Flexibilität. | |
| Außerdem haben Atomkraftwerke einen hohen Anteil an Fixkosten und werden | |
| bei reduzierten jährlichen Laufzeiten immer unrentabler. Die | |
| Ausgleichskraftwerke für die Erneuerbaren müssen daher solche sein, deren | |
| Kostenstruktur mit geringen Laufzeiten harmoniert. Und das werden zumindest | |
| für den Übergang wiederum die Fossilen sein, solange nicht Speicheroptionen | |
| in großem Stil vorhanden sind. Während Frankreichs Präsident Macron | |
| [2][sogar den Neubau von Kleinreaktoren ankündigt], dreht sich in | |
| Deutschland die Debatte vor allem darum, ob man die bestehenden sechs | |
| AKW-Blöcke, von denen die Hälfte in diesem Jahr, die andere im nächsten | |
| abgeschaltet werden soll, nicht einfach länger am Netz lassen sollte. | |
| Doch diese Rechnung ist ohne die Betreiber gemacht: Wie groß war doch deren | |
| Erleichterung, als sie im Juli 2017 mit Milliardenzahlungen das | |
| Kostenrisiko des Atommülls [3][an einen staatlichen Fonds übertragen] und | |
| so das Entsorgungsrisiko elegant aus ihren Büchern verbannen konnten. Jede | |
| Verlängerung von Laufzeiten würde das Entsorgungsthema erneut aufwerfen, | |
| die Firmenbilanzen aufs Neue belasten und damit womöglich auch Aktienkurse | |
| und Rating. Schwer vorstellbar, dass sich auch nur einer der ehemals vier | |
| Atomkonzerne nochmals auf dieses wirtschaftliche Abenteuer einlassen mag – | |
| zumal sich längst mit den Erneuerbaren (und künftig wohl auch mit | |
| Speichertechniken wie Wasserstoff) gutes Geld verdienen lässt. | |
| Unterdessen würde manch einer auch in Deutschland gerne neue Atomkraftwerke | |
| bauen – sich dabei natürlich auf den Klimawandel berufend. Nur: Die beiden | |
| Neubauten in der EU – in Frankreich und Finnland – sind seit 14 | |
| beziehungsweise 16 Jahren in Bau und immer noch nicht fertig. Schon alleine | |
| diese Zeiträume machen klar, dass ein Ausbau der Atomkraft für einen | |
| zügigen Klimaschutz keine Option ist. | |
| Und sollte dennoch jemand neue Reaktoren bauen wollen, ist das Thema | |
| spätestens dann tot, wenn man einfordert, dass die Investition dann bitte | |
| auf eigenes Kostenrisiko und nur mit ausreichender Haftpflichtversicherung | |
| erfolgen möge. Eine Förderung, wie sie den Erneuerbaren zuteil wurde, | |
| sollte hier tabu sein. Solarstrom und Windkraft hat man allein deswegen | |
| üppig bedacht, weil man darauf vertraute, dass sie billiger würden. Und sie | |
| haben sich bewiesen: Photovoltaik kommt heute schon in vielen Fällen ohne | |
| garantierte Vergütung aus; erste Windparks, die am Markt agieren, werden | |
| längst projektiert. | |
| Bei der Atomkraft hingegen ist schwer vorstellbar, dass sie eines Tages – | |
| Entsorgung eingerechnet – auf eigenen Beinen wird stehen können. Denn | |
| Atomstrom wurde im Gegenteil immer teurer. Wer betriebswirtschaftlich | |
| denkt, lässt daher die Finger von neuen Atomkraftwerken. | |
| Hinzu kommt: Energiepolitik lebt von langfristiger Verbindlichkeit, weil | |
| die Investitionen auf Jahrzehnte angelegt sind. In Deutschland dürfte sich | |
| daher derzeit kein Energiekonzern finden, der die Atomkraft erneut anfassen | |
| und somit alte Gräben wieder aufreißen möchte. Schließlich sind alle froh, | |
| diesen gesellschaftlichen Großkonflikt nach Jahrzehnten befriedet zu haben. | |
| Und zur Erinnerung: Atomkraftwerke geben auch im Normalbetrieb Strahlung | |
| ab, dies war einer der Gründe dafür, [4][dass die Anti-AKW-Bewegung in | |
| Deutschland in den siebziger Jahren so stark wurde]. | |
| Wer die gewaltigen Herausforderungen der Energiewende sieht, sollte lieber | |
| mithelfen, dass die Erneuerbaren vorankommen und Energie effizienter | |
| genutzt wird. Statt Nebelkerzen zu zünden im Stil von „Atom rettet das | |
| Klima“. | |
| Bernward Janzing arbeitet als freier Journalist für Energie- und | |
| Umweltthemen in Freiburg. Sein Buch „Vision für die Tonne. Wie die | |
| Atomkraft scheitert“ erschien 2016 (Picea Verlag). | |
| 21 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Flohn | |
| [2] /Atomkraft-in-Frankreich/!5808214 | |
| [3] /Staatsfonds-zur-Atommuell-Entsorgung/!5670171 | |
| [4] /40-Jahre-Anti-AKW-Selbstverbrennung/!5461228 | |
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| Bernward Janzing | |
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