# taz.de -- Debatte um AKW-Laufzeitverängerung: Ein vorübergehendes Übel | |
> Die politischen Gegner blicken mit Häme auf die Grünen. Aber die | |
> Zugeständnisse in der AKW-Frage zeigen eine nötige Annäherung an unschöne | |
> Realitäten. | |
Bild: Der Winter kommt: eingeschneiter Aufkleber 2009 | |
Die Woche verging unter allgemeinem Starren auf die Grünen. Logisch: Die | |
sitzen scheinbar in der Streckbetrieb-Falle, aus der sie unmöglich heil | |
herauskommen können. Werden sie den Atomausstieg wirklich noch einmal | |
verschieben? Spannend ist diese Frage unter anderem für Menschen, die sich | |
traditionell provoziert fühlen von allem, was grün ist, und die danach | |
gieren, „Siehste!“ zu rufen. Nach dem Motto: Haben wir doch immer gesagt, | |
es waren zu viele Ideale und außerdem die falschen. | |
Politisch äußert sich das vor allem bei FDP und Union, die sofort mehr | |
rausschlagen wollen als die kurzzeitig verlängerte Nutzung vorhandener | |
Brennstäbe. Da wird mit fiktiven neuen Ausstiegsjahren gehandelt oder | |
gleich mit ganz vagem Ziel: [1][„Bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt | |
ist“, nannte es Friedrich Merz.] Ein klassischer Fall von „Nachtigall, ick | |
hör dir trapsen“. | |
Die Streckbetrieb-Frage treibt aber vor allem die Grünen selbst um. | |
Natürlich, man könnte sagen: [2][Am Atomausstieg hat bei den Grünen noch | |
nie jemand gerüttelt]. Sich wie Robert Habeck bereit zu erklären zu noch | |
einem Stresstest, der vielleicht ein „Sonderszenario“ ergibt und zum | |
sogenannten Streckbetrieb führt, ist für viele eine Umdrehung zu viel. | |
„Wir hatten schon Waffenlieferungen, vielen Dank. Und seid wenigstens so | |
ehrlich, es Laufzeitverlängerung zu nennen“ – das könnte man sagen, und | |
viele Grüne sind entsprechend skeptisch bis wütend über Berliner | |
Atomkraft-Annäherungsäußerungen. Aber ist deshalb jetzt wirklich die | |
ureigene Identität in Gefahr? Zerfällt alles, worauf die Grünen ihr | |
Selbstverständnis als Anti-Atomkraft-Partei gründen, wenn die noch aktiven | |
deutschen Atomkraftwerke etwas länger laufen als bis zum 31. Dezember? | |
Aber nein. Sowohl für diejenigen, die schadenfroh auf die heikle Situation | |
blicken, als auch für diejenigen, die unter ihr leiden, ist offenbar dieses | |
schwer zu erkennen: Die Grünen stecken nicht hilflos in der Falle. Habecks | |
Zugeständnisse sind kein alles veränderndes Einknicken, sondern eine | |
weitere, durchaus harte Begegnung zwischen Idealen und den Anforderungen | |
der Realität. Zur Erinnerung: Ohne ihre Prinzipien wären die Grünen nicht | |
dort, wo sie heute sind. Sie haben Deutschland längst, Entschuldigung, | |
nachhaltig geprägt. | |
Aber sie hätten das nicht ohne die Realos geschafft, die die Ziele manchmal | |
kürzer stecken, je nachdem, mit welchen neuen Unwägbarkeiten die | |
Wirklichkeit sie überfällt. Das wissen alle. Trotzdem ist mal wieder der | |
Zeitpunkt gekommen, daran zu erinnern. Diesmal kommt die Wirklichkeit also | |
mit einem energieversorgerischen Schreckensszenario um die Ecke. | |
Dafür gibt es so viele miteinander verwobene Gründe, dass einem beim | |
Aufdröseln schwindelig werden könnte: zu viel Abhängigkeit vom russischen | |
Gas, zu wenig Ausbau Erneuerbarer Energien, zu viel Klimakrise, zu viel | |
Energiebedarf der Überflussgesellschaft, zu viel ignorante Unbekümmertheit. | |
Und ein Krieg, der zeigt, wie wackelig das ganze Konstrukt war. So. Hier | |
sind wir jetzt. Zu spät, um uns besser vorbereitet zu haben. | |
Dass die Klimakrise in Frankreich zeigt, wie schlecht sich Atomkraft für | |
die Zukunft eignet, ist da nur eine zusätzliche Ironie des Schicksals. | |
Wegen Hitze und Trockenheit ist dort Kühlwasser gefährlich knapp, deutscher | |
Atomstrom soll aushelfen – haha. Auch das nächste Problem war wohl vorher | |
noch nicht eingepreist: Weil die Leute Heizlüfter kaufen, als würden sie | |
von Putin gejagt, könnte der deutsche Stromverbrauch über die Maßen | |
steigen. | |
## Krise ist nicht schön | |
Und so könnte also das für die Grünen bislang Undenkbare denkbar werden | |
müssen. Wenn, ja, wenn der zweite Stresstest dies zeigt. Das wäre nicht | |
schön. Wenig ist schön gerade, es ist Krise. Aber auch, wer in der Partei | |
mit dem Streckbetrieb liebäugelt, will nicht zurück zu einer regulären | |
AKW-Nutzung, [3][will keine neuen Brennstäbe und kein erneutes Hochfahren | |
von bereits abgeschalteten Kraftwerken]. | |
Um aus dem Schlamassel herauszukommen, müssen alle, nicht nur die Grünen, | |
sich merken, wie wir hier gelandet sind, die entsprechenden Schlüsse ziehen | |
– und akzeptieren, dass dieser unangenehme Streckbetrieb zu einem | |
notwendigen Übel werden könnte. Es wäre ein vorübergehendes. | |
30 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anne Diekhoff | |
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