| # taz.de -- Alexander Kluge im Museum Folkwang: Mitspinnen, so gelenkig es eben… | |
| > Chronist und Collagist Alexander Kluge hat seine erste Ausstellung und | |
| > stellt dabei kühne Verbindungen zwischen historischen Ereignissen her. | |
| Bild: Lebenszeit und Eigensinn ist alles, was der Mensch hat | |
| Wie ein Dirigent steht Alexander Kluge inmitten des von ihm selbst | |
| entworfenen „Pluriversiums“, lenkt mit Händen und Worten die | |
| Aufmerksamkeit: „Sehen Sie hier: Tiere im Bombenkrieg. Und da drüben: ein | |
| angefahrener Elefant. Hier: Berichte zum G20-Gipfel – [1][Afrika kommt | |
| nicht vor]. Dort: Trump trifft Araber – über den Bildern liegt übrigens | |
| Anselm Kiefers Elefantenhaut.“ Und sein Publikum fragt sich gegenüber der | |
| Flut der fünffachen Projektion von Bild- und Toncollagen: Wären wir ohne | |
| die vertraute Stimme hier nicht völlig aufgeschmissen? | |
| Der Chronist und Collagist Alexander Kluge, berühmt als Autorenfilmer und | |
| Fernsehmacher, versteht sich selbst in erster Linie als Schriftsteller und | |
| Erzähler. Nun hat er [2][im Essener Museum Folkwang] seine erste | |
| Ausstellung kuratiert. Mit 85 Jahren hat er sich also noch einmal einem | |
| neuen Medium zugewandt, um sein Gesamtkunstwerk fortzuführen. | |
| Dieses Gesamtkunstwerk ist in alle Richtungen offen, so wie seine | |
| Interviews im eigenen Fernsehkanal dctp bei Ablauf der Sendezeit nicht zu | |
| einem Ende kommen, zu einer abschließenden Pointe, Moral oder Conclusio. | |
| Alexander Kluge setzt der Geschichte der Mächtigen die Geschichten der | |
| Menschen und ihrer Gefühle entgegen, das ist seine Form, Adornos und | |
| Horkheimers „Kritische Theorie“ in die Gegenwart fortzuspinnen. Und der | |
| Besucher der Ausstellung, der muss mitspinnen, mitspielen, den Geist so | |
| gelenkig machen wie es eben geht. | |
| ## Die Klugheit der Fußsohle | |
| „Ausstellungen sind ideale Werkstätten für Neues“, findet Alexander Kluge. | |
| Nach der Einladung durch das Museum – „denn man bewirbt sich nicht selbst | |
| um eine Ausstellung“ – musste er selbst erst einmal Grundlagenforschung | |
| über das neue Medium betreiben: „Ich dachte, ich kann alles ausstellen, was | |
| ich schön finde. Das war ein Irrtum.“ Seine fertigen Bücher, Filme, | |
| Fernsehinterviews machten in diesem Kontext keinen Sinn mehr. „Die Menschen | |
| laufen in großer Freiheit umher.“ Also dachte er sich eine Philosophie der | |
| Klugheit der Fußsohle und produzierte alles neu. | |
| Herausgekommen sind sechs multimediale Rauminstallationen, die staunen | |
| machen – wenn man bereit ist, sich einzulassen. Der Eingang ist ein | |
| Sternenhimmel, an dem Begriffe prangen, mit denen Kluge seit Jahrzehnten | |
| jongliert. „Aber der Raum dient auch der Abrüstung der Angst vor diesen | |
| Begriffen“, sagt er. Der Blick des Besuchers schweift nach oben links. „Es | |
| gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen“, steht da. | |
| Die Worte eines Astrophysikers im Ohr, der Kluge fasziniert hat, weil er so | |
| selbstverständlich über die komplexen Zusammenhänge der Heisenberg’schen | |
| Unschärferelation spricht, schwebt der Besucher an zwei Zeichnungen von | |
| Paul Klee vorbei: „Angelus Novus“ hat Walter Benjamin die Erzählung des | |
| Engels der Geschichte angeheftet, der in die Vergangenheit blickt und ihre | |
| Trümmer nicht zusammenfügen kann, weil ein Sturm vom Paradiese her weht. | |
| Ihm zur Seite steht „Stachel, der Clown“, die Trümmer ebenfalls vor Augen. | |
| Er ist bereit, dem Kollegen von Fall zu Fall Hacke und Spaten zu leihen. | |
| Auch, wenn dies auf den ersten Blick so wirken mag, hat man es hier nicht | |
| mit einem Sammelsurium von Merkwürdigkeiten eines Messie-Intellektuellen zu | |
| tun. Alle Gegenstände und Bilder sind Spezialfälle und umkreisen Alexander | |
| Kluges Themen. „Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren | |
| Eigensinn“, heißt es in seinem schriftstellerischen Hauptwerk, der „Chronik | |
| der Gefühle“ – und damit sind zwei Hauptthemen benannt. | |
| Lebenszeit: Im ersten Film der Ausstellung folgt auf die Chronik von 4,5 | |
| Milliarden Jahren, in der die Kontinente im Zeitraffer auseinanderdriften, | |
| die Chronik der Sekunde, in der Kluges Vater geblendet vom Licht der | |
| Straßenlaterne auf dem nassen Pflaster ausrutschte und sich dabei einen | |
| Oberschenkelhalsbruch zuzog. | |
| Eigensinn: eine Zweite-Weltkrieg-Bombe als Leihgabe in der Mitte des Raums. | |
| In Kluges eigenem Denken und Erinnern steht sie für einen Tag im April | |
| 1945, als er mit seiner Schwester im Keller saß und Ohnmacht erfahren hat: | |
| „Die Lösung dieser Situation lag in der Vergangenheit. Man hätte sich 1929 | |
| organisieren können gegen Hitler. In Mecklenburg und Sachsen lagen seine | |
| Wahlergebnisse unterhalb denen der AfD heute.“ | |
| Kluge zieht aus dem Stream der Gegenwart, was ihm wichtig scheint; Bilder | |
| und Geschichten, von denen aus es ihm möglich scheint, Linien in | |
| Vergangenheit und Zukunft zu ziehen – mit dem Ziel einer besseren | |
| Gesellschaft. „Das Bild des Kindes, das tot an der Ägäis liegt, das berührt | |
| uns, das muss die Kunst bewahren gegen den ständigen Wechsel der | |
| Aktualität.“ | |
| ## Alles kreist um die Bombe | |
| Der Lebenszeit, die der Besucher in diese Ausstellung investieren kann, | |
| sind keine Grenzen gesetzt. In den Raum „Arbeitszimmer“ hat er doch noch | |
| alle seine Bücher und weiterführende Literatur geschummelt, an eine | |
| Pinnwand Gedanken zur Fortführung von Walter Benjamins „Passagenwerk“ | |
| geheftet. Der Raum „Archiv“ wird beherrscht von Thomas Demands Fotografie | |
| „Backyard“. Sie zeigt einen Hinterhof, in dem Kirschblüten blühen, die den | |
| Frühling symbolisieren, die Hochzeit. Aber es ist der Hinterhof, in dem der | |
| Attentäter des Boston-Marathons festgenommen wurde. Fernsehbilder an der | |
| nächsten Wand zeigen die Explosionen. | |
| Das Präfix „Pluri“ im Ausstellungstitel „Pluriversum“ täusche, sagt | |
| Alexander Kluge. Es gehe um einen einzigen Kern: „Nämlich um die Frage, wie | |
| antworten wir auf die Bombe. Unsere Welt ist gewissermaßen die Zeitbombe.“ | |
| 19 Sep 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Max Florian Kühlem | |
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