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# taz.de -- Wahlkampf in Berlin-Kreuzberg: Die drei Linken vom Kotti
> Canan Bayram ist die Favoritin in Berlin-Kreuzberg. Die Grünen haben in
> ihrer Hochburg aber mit starker Konkurrenz zu kämpfen.
Bild: Was Kreuzberg bewegt: bezahlbarer Wohnraum
Anfang Juli, zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl, beginnt im
alternativsten Wahlkreis der Republik der Wahlkampf ohne die Grünen. Wo ist
Canan Bayram? In ein paar Minuten soll in einem backsteinroten
Familienzentrum das Politiker-Speeddating losgehen – Wähler treffen und
interviewen ihre Kandidaten. Die Themen: Wohnungsnot und Kinder, die sich
kein Fahrrad leisten können. Doch um kurz nach drei ist die grüne
Kandidatin noch nicht da.
In dem Café des Familienzentrums hat sich eine Handvoll Frauen um Tische
verteilt, die man gut abwischen kann. Fast alle haben ihre Kinder an der
Hand. Sie wohnen im Kiez, kommen aus der Türkei, dem Libanon, engagieren
sich als Stadtteilmütter in der benachbarten Schule. Nicht alle dürfen
wählen. Fragen haben sie trotzdem.
Ihnen gegenüber sitzt Cansel Kiziltepe, die Kandidatin der SPD. Klein und
im roten Blazer. Sie kennt viele der Frauen persönlich. Hier ist sie nicht
Frau Kiziltepe, sondern Cansel. Cansel aus Kreuzberg. Die benachbarte
Schule: Dort hat sie Abitur gemacht. Die Stadtteilmütter: ein Projekt, das
sie seit Langem begleitet.
Sie schüttelt Hände, verteilt Küsschen, fragt nach der Familie. Pascal
Meiser, Kandidat der Linken, kommt etwas später. Die Leiterin des
Familienzentrums verhaspelt sich, als sie ihn vorstellt. Aus Meiser wird
Meier. Aber Kiziltepe, das sitzt. Canan Bayram kommt nicht mehr.
## Das einzige Direktmandat der Grünen steht auf dem Spiel
Später wird sich herausstellen: Sie saß im Innenausschuss im Berliner
Abgeordnetenhaus zum Fall Anis Amri, dem Terroristen vom Breitscheidplatz.
Bayram wird in den kommenden Wochen öfter Wahlkampfveranstaltungen absagen,
weil sie Termine im Abgeordnetenhaus hat. Bayram, die pflichtbewusste
Anwältin, steigt später in den Wahlkampf ein als ihre Kontrahenten.
Als Kiziltepe längst ein Hashtag etabliert hat, [1][#Kiezregiert], ist die
Kampagne für Bayram noch nicht richtig losgegangen. Im Juli erzählen
Parteifreunde von den Grünen, dass ihre Kandidatin an Wahlständen im
bürgerlichen Teil von Kreuzberg noch weitgehend unbekannt sei, und geben
zu: In den Medien ist sie auch nicht wirklich präsent.
Dabei hat Bayram viel zu verspielen. Das erste und einzige Direktmandat der
Grünen und [2][das Erbe des bekanntesten Direktkandidaten Deutschlands,
Hans-Christian Ströbele]. Im Dezember letzten Jahres hatte der 78-Jährige
erklärt, nach 19 Jahren im Bundestag nicht wieder anzutreten. Viermal
hintereinander hatte er das Mandat gewonnen.
Die Fußstapfen, oder besser: die Fahrradspur, die er hinterlässt, ist tief.
Das macht den Kampf um das Direktmandat für den Wahlkreis 83,
Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, in diesem trägen Wahlsommer
zu einem der spannendsten im ganzen Land. Nirgendwo sonst kämpfen gleich
drei linke Kandidaten mit guten Chancen um ein Mandat. Eine Prognose sieht
die SPD im Bezirk bei etwa 20 Prozent, die Linke bei 24 und die Grünen bei
25 Prozent.
## Schimpfen auf die Mietpreisbremse
Die erste Runde Speeddating beginnt, die Kandidaten verteilen sich an die
Tische. Pascal Meiser, Pferdeschwanz und Kapuzenpullover, verteilt seine
Broschüren. Rot. Mit der Überschrift: Bewerbung. Vier Frauen wollen von ihm
wissen, wie die Linke zum Thema Wohnungsnot steht. Eine erzählt, dass sie
keine Wohnung für ihre Familie findet. „Ich wohne auch in Kreuzberg, kenne
das Problem also“, sagt Meiser und schimpft auf die Mietpreisbremse, die
nicht funktioniert. Zustimmendes Nicken bei seinen Zuhörerinnen. Er rät:
„Gehen Sie wählen, wenn sich was verändern soll.“
Gong, die nächste Runde. Kiziltepe rückt auf Meisers Platz und sitzt nun
vor den vier Frauen. „Mein Name ist Programm“, beginnt sie. Kiziltepe heißt
auf Türkisch roter Berg. Sie erzählt von ihren zwei Kindern, von ihrer Zeit
an der benachbarten Schule und dass Bildung ihre Chance zum Aufstieg war.
„Mein Vater hat uns jeden Tag zu dieser Schule gebracht“, eine der ersten
Ganztagsschulen in Berlin. „Das war unsere Rettung.“
Kiziltepes Eltern sind Gastarbeiter der ersten Generation. Sie sei immer
mit dem Gefühl aufgewachsen: Morgen geht es zurück in die Türkei. Ihre
Eltern wohnen noch immer in Kreuzberg. Viele ihrer Freunde von damals haben
das Abitur nicht geschafft, sind stecken geblieben auf dem Weg nach oben.
Kiziltepe nicht. Das macht sie für die Frauen hier interessant. Sie ist
Vorbild, Kiziltepe weiß das. Ihr Wahlkampf basiert auf ihrer Geschichte.
Das Kind aus dem Kiez, das es nach ganz oben geschafft hat. Eine gute
Geschichte.
Wenn Berlin die Spielwiese für die privilegierte Jugend der Welt geworden
ist, dann ist der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das Miniatur-Wunderland
der deutschen Linken. Hier leben Altlinke und Neulinke und Exlinke, Linke
aus dem Osten und dem Westen. Es gibt türkische und kurdische Linke, genau
so wie Grüne, Kommunisten, Antifas. SPD, Grüne und Linke bekamen 2013 hier
über 70 Prozent der Stimmen.
## Wo Kreuzberg kein Szenebezirk, sondern noch Grenzstadt ist
Auf kleinstem Raum lässt sich beobachten, wie sich die gesellschaftliche
Linke in Deutschland verändert – und was das für die drei großen Parteien
mit irgendwie linkem Anspruch bedeutet: Cansel Kiziltepe kämpft darum, jene
Wähler zurückzugewinnen, die ihre Partei erst an die Grünen und dann an die
Linken verloren hat. Wenn sie scheitert, bleibt die SPD auf ewig die
20-Prozent-Partei. Sie sagt: „Kreuzberg soll wieder rot werden.“
Pascal Meiser kämpft in dem Bezirk um die Stimmen der vielen Berliner, die
nicht Meiser oder Meier heißen. Wenn er scheitert, bleibt seine Partei eine
für den Osten. Er sagt: „Das Mandat wäre ein riesiger Erfolg.“ Canan Bayr…
muss beweisen, dass es auch linke Grüne noch schaffen, Wahlen zu gewinnen.
Wenn sie scheitert, bleibt ihrer Partei nur das Modell Kretschmann. Sie
sagt: „Klar, ich muss die retten.“
Sechs Wochen nach dem Speeddating sitzt die selbsternannte Retterin der
Grünen in einem kleinen Versammlungsraum in der Otto-Suhr-Siedlung am Rande
Kreuzbergs und spricht über Wärmedämmung. Hier ist Kreuzberg kein
Szenebezirk, sondern immer noch Grenzstadt. Das Viertel ist der ärmste Kiez
der Stadt, 70 Prozent der Kinder leben von Hartz IV. Hier zeigt sich das
drängende Thema des Wahlkampfs: die hohen Mieten. Einst gab es hier
sozialen Wohnungsbau am Mauerstreifen, dann wurden die Wohnungen unter
Rot-Rot privatisiert. Sie liegen im Herzen Berlins, in Laufweite zur
Friedrichstraße. Investoren würden sagen: Toplage.
Etwa 20 Bewohner der Siedlung sind in den kleinen Versammlungsraum
gekommen. Sie treffen sich regelmäßig, seit ihr Vermieter, der
Immobilienriese Deutsche Wohnen, Sanierungen und Mieterhöhungen angekündigt
hat. Hier sitzt das alte, weiße Kreuzberg. Die Frauen tragen geföhnte
Frisuren, die Männer Karohemden und Schirmmützen auf roten Köpfen. Es geht
um Wasserschäden und Mietminderungen. Keine Revolution, aber echte Politik.
Die Mieter reden wild durcheinander, sagen „Ach, halt die Klappe“
zueinander. Die Protokollantin schüttelt den Kopf und resigniert.
## Stiller Wahlkampf im Stuhlkreis
Bayram sitzt am Rand und hört lange still zu, bis sie angesprochen wird.
Ihre Augen sind so wach, als gebe es nichts Schöneres, als am Montagabend
nach einem langen Tag noch eine Mieterversammlung zu besuchen und über
Schimmel zu reden. Bayram beantwortet Fragen zum Mietrecht, sie sagt, dass
es wichtig sei, sich zu wehren, und bietet ihre juristische Hilfe beim
Verfassen eines Briefs an.
Die Mieter nicken. Das ist der Wahlkampf, der Bayram liegt. Eher leise als
laut. Nicht auf dem Podium, sondern im Stuhlkreis. Konkret etwas machen,
nicht reden. Das ist ihre Stärke, das ist auch ihr Nachteil. Denn Bayram
nutzt die Gelegenheit nicht, um nach der Mieterversammlung noch Flyer zu
verteilen. „Das ist nicht meine Art“, sagt sie später. Nur das grüne
T-Shirt unter ihrem Blazer verrät, zu welcher Partei sie gehört.
Seit elf Jahren sitzt sie im Abgeordnetenhaus. Bayram ist
Friedrichshainerin, dort wird sie von Passanten auf der Straße umarmt. In
Kreuzberg ist sie weniger bekannt. Bayram, 1966 geboren, kam mit sechs
Jahren aus Anatolien ins Rheinland. Erst als Anwältin kam sie aus Bonn nach
Berlin. „Trotzdem halten mich alle für eine Kreuzberger Türkin“, sagt sie.
Im März hatten die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg sie als Kandidatin
nominiert. [3][Die „neue Ströbelin“, schrieb die taz.]
Bayram ist nicht die Erste, die als Nachfolgerin im Gespräch war. Schon vor
vier Jahren wollte Ströbele aufhören und fragte in seiner Partei, wer sich
vorstellen könne, ihm nachzufolgen. Doch andere Grüne schlugen das Angebot
aus. Während für die Linke oder die SPD das Direktmandat eine Überraschung
wäre, hat Bayram viel zu verlieren. Angst vor dem Erbe habe sie trotzdem
nicht, sagt Bayram. „Es ist eine Ehre, nach Ströbele anzutreten.“ Wie
Ströbele steht sie innerhalb der Partei weit links. Zu weit für einige.
## Wie geht Erfolg? Die Partei klein-, seine Person großmachen
Erst distanzierte sich die Parteiführung von einem Plakat Bayrams mit dem
alten Hausbesetzerspruch „Die Häuser denen, die drin wohnen“. Dann wurde
öffentlich, dass Realo-Grüne in einem internen Diskussionsforum davon
abrieten, die eigene Kandidatin zu wählen. Die Begründung: Ein Direktmandat
für Bayram würde bei einem schlechten Zweitstimmenergebnis für die Grünen
dafür sorgen, dass Renate Künast nicht über die Landesliste in den
Bundestag einziehen kann.
An Bayrams Wahlkampfstand im Betonschatten des Kottbusser Tors regen sich
die jungen Wahlkämpfer auf: „Vollkommen bescheuert“ sei der Aufruf der
Realos. Ein gutes Ergebnis für Bayram sei auch gut für die Zweitstimmen und
damit für Künast. Bayram tut, als würde sie der Gegenwind aus der eigenen
Partei nicht stören. Die Mail habe sie gar nicht gelesen, sagt sie, und
Renate Künast, „deren Mann ich sehr schätze, einer der besten
Strafverteidiger in Berlin“, sei die Geschichte sicher genauso peinlich.
Nicht nur Teile der Partei distanzieren sich von der Kandidatin. Auch die
Kandidatin bemüht sich um Abstand zur Partei. Das Parteilogo der Grünen
sucht man lange auf den Wahlbroschüren und Flyern, die das Team von Canan
Bayram im Stadtteil verteilt. Statt einer Sonnenblume sieht man einen
stachligen Igel, das Symbol der Grünen im Bezirk.
Bayram betont, dass sie nicht über die Landesliste abgesichert ist. Die
Botschaft: Wer Bayram wählt, wählt nicht die Grünen. Schon Ströbele hat so
Wahlkampf gemacht. Vielleicht ist das die größte Nähe Bayrams zu ihrem
inhaltlichen Gegenpol bei den Grünen, zu Winfried Kretschmann. Für seinen
Erfolg machte auch er die Partei klein und seine Person groß.
## Die Krux mit den Privilegien
Wer in diesem Wahlkampf Sonnenblumen sucht, findet sie in Kreuzberg nicht
bei den Grünen, sondern bei der Linken. Anfang September steht Pascal
Meiser im Abendlicht auf der Kottbusser Brücke. Den Kapuzenpullover von
seinem Wahlplakat hat er abgelegt, er trägt ein gebügeltes weißes Hemd.
Seine Genossen vom Arbeitskreis Rote Beete haben hinter ihm auf einen
Grünstreifen, der vorher als Pissoir für Junkies herhalten musste,
Sonnenblumen gepflanzt.
Meiser verteilt Blumensamen an Passanten, mittelerfolgreich. Die einen
Passanten nehmen ihre iPhone-Stöpsel nicht aus den Ohren, andere schütteln
mit dem Kopf und sagen: „Darf nicht wählen.“ Der Ausländeranteil liegt hi…
bei über 30 Prozent, und jene Kreuzberger Türken, die einen deutschen Pass
haben, wählen vielleicht lieber eine Bayram oder eine Kiziltepe.
Selbst die CDU und die FDP haben Kandidaten mit Migrationshintergrund
aufgestellt. Es gibt Kreuzberger, die sagen: Die Linke würde ich wählen,
aber nicht diesen „weißen Dude“. Glaubt Meiser selbst, dass er dadurch
einen Nachteil hat? Er zögert, dann findet er seine Antwort nicht
zitierfähig. Verständlich: Wer will schon darüber jammern, Privilegien zu
haben.
Meiser, 1975 geboren, stammt aus dem Saarland und lebt seit Ende der 90er
in Kreuzberg. Er machte schnell in Gewerkschaft und Partei Karriere und
leitet heute die Kampagnenabteilung der Linken. Von den drei linken
Kandidaten in Kreuzberg ist er der größte Wahlkampfprofi. Für die letzten
Wochen vor der Wahl wurde er freigestellt, um sich auf das Direktmandat zu
konzentrieren. Und trotzdem: Am Wahlkampfstand auf der Kottbusser Brücke
fragen Leute: „Ich kenn dich nicht, warum soll ich dich wählen?“ Einer
sagt: „Dich würde ich ja wählen, aber das mit der Stasi.“
## In ihrer Hochburg viele Anhänger verloren
Für die Linke wäre der Gewinn des Direktmandats ein großer Sieg: Es wäre
das erste in einem Bezirk, der auch im Westen liegt. Und ein Symbol dafür,
dass die Linke den Grünen die Rolle als Partei der urbanen Mittelschicht
abnehmen könnte. Auch wenn man dafür ein paar Sonnenblumen braucht. „Seit
ein paar Wochen merken wir: Es könnte ja wirklich klappen“, sagt Meiser und
verweist auf eine Prognose für den Wahlkreis, die einen Zweikampf von
Bayram und Meiser voraussagt. Er glaubt, dass es am Ende um wenige 100
Stimmen gehen wird.
Umso verwunderlicher ist es, dass die Linke keinen bekannteren Kandidaten
aufgestellt hat. Das Gerücht: Der Soziologe und Gentrifizierungsexperte
Andrej Holm soll als Direktkandidat der Partei im Gespräch gewesen sein.
Holm bestätigt das auf Nachfrage der taz. Er sei vor einem Jahr gefragt
worden, noch bevor er Staatssekretär in Berlin wurde. Holm entschied sich
dagegen, weil er glaubte, in der Berliner Landespolitik mehr bewegen zu
können. Meiser sagt dennoch: „Ich habe die Unterstützung meiner gesamten
Partei. Und das ist bei uns nicht selbstverständlich.“
Begleitet man die drei Direktkandidaten durch den Wahlkampf, wird deutlich,
dass sich die deutsche Linke verändert hat. Die Grünen haben in ihrer
einstigen Hochburg viele Anhänger verloren. Am Stand der Grünen hört Bayram
immer wieder: Früher standet ihr noch für etwas. Die einen kritisieren die
Religiösität von Parteichefin Katrin Göring-Eckardt, andere die
Wirtschaftsnähe von Cem Özdemir. Man könnte auch sagen: Die Enkel der 68er
wählen nicht mehr die Grünen, sondern die Linke.
Die war nach Zweitstimmen bereits 2013 stärkste Partei im Bezirk. Die
Grünen verloren über sechs Prozentpunkte, Ströbele konnte sein Direktmandat
aber halten, weil er genug Wähler anderer Parteien überzeugen konnte.
Bayram muss das Gleiche gelingen. Hoffnung darf sich auch die SPD machen,
sie gewann 2013 dazu und wurde hinter der Linken stärkste Kraft im Bezirk.
## Vom Kuschelkurs zum Kampfmodus
Auffällig ist bei aller Konkurrenz, dass sich die drei Kandidaten
inhaltlich nicht besonders unterscheiden. Alle drei stehen innerhalb ihrer
Parteien links und wollen sich für bezahlbare Mieten einsetzen. Nur: Meiser
ist mit seinen Positionen auf Parteilinie, Bayram und Kiziltepe sind eher
Außenseiterinnen.
Spricht man die drei auf Unterschiede an, gibt Kiziltepe zu, dass da mehr
Verbindendes als Trennendes sei – und viele ihrer SPD-Genossen sie fragten,
warum sie nicht bei der Linken sei. Das soll sich jetzt ändern. Sie sei
bisher zu kuschelig mit ihren Konkurrenten gewesen, sagt sie. „Ich bin
jetzt im Kampfmodus.“ Kiziltepe will sich abgrenzen. Sie will zeigen:
Bayram und Meiser sind die Neuen, sie dagegen ist schon immer Kreuzberg.
Es ist Mittwochnachmittag, noch drei Wochen bis zur Bundestagswahl, als die
Kandidaten in einer Schulaula aufeinandertreffen. Etwa 100 Schüler schauen
zu den Kandidaten hoch, die auf der Bühne Platz genommen haben. Viele der
Mädchen im Publikum tragen Kopftuch, viele Jungs gehen offenbar gern ins
Fitnessstudio.
Ein einziger junger Mann mit blonden Haaren sitzt in der Aula, doch der
entpuppt sich später als Mitarbeiter des CDU-Kandidaten, der auch auf der
Bühne sitzt. „Tschuldigung“, flüstert ein Schüler im Publikum, „geht es
hier um den Bürgermeister von Kreuzberg?“ Das ist, betrachtet man Ströbeles
Außenwirkung in den letzten Jahren, nicht ganz falsch.
## Eine absolute Mehrheit ist gar nicht immer wünschenswert
Nico aus der zwölften Klasse moderiert die Veranstaltung. Er ist gerade 18
geworden, für ihn ist es die erste Bundestagswahl. Zu Beginn sollen sich
die Kandidaten mit drei Attributen vorstellen. Meiser fängt an, er beugt
sich zum Mikro und sagt: „Ich bin extrem ungeduldig, wohne am Kotti und bin
Fußballer.“ Die Schüler klatschen laut. Dann ist Bayram dran, sie sagt:
„Ich bin Mutter, Politikerin und Anwältin.“ Die Schüler klatschen höflic…
Dann kommt Kiziltepe, sie sagt: „Ich bin Mutter, Ökonomin – und habe hier
an der Schule mein Abitur gemacht.“ Einige Schüler jubeln.
Auf dem Podium zeigen die drei aussichtsreichen Kandidaten in den nächsten
eineinhalb Stunden in kondensierter Form, was sie unterscheidet. Pascal
Meiser will mit einfach verständlichen, linken Forderungen überzeugen.
Canan Bayram, die Kümmererin, will den Bewohnern bei ihren Problemen im
Alltag, mit Rassismus und der Miete helfen. Und Cansel Kiziltepe setzt auf
ihre Biografie, die sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch
Bildung: Ich bin eine von euch.
Die Schüler fragen, was die Kandidaten tun würden, wenn ihre Partei die
absolute Mehrheit im Parlament hätte. Meiser verspricht, Millionären ihr
Geld wegzunehmen und keine Waffen mehr zu exportieren, und bekommt dafür
Applaus. Kiziltepe spricht über die lokalen Initiativen im Kiez, ohne
klarzumachen, was das mit der absoluten Mehrheit zu tun hat. Und Bayram
erklärt den Schülern, dass eine absolute Mehrheit für eine Partei gar nicht
wünschenswert sei. Das mag demokratietheoretisch sympathisch sein, verfängt
aber im Publikum nicht.
Bayram wird stark, als es um die doppelte Staatsbürgerschaft geht. Da
erzählt sie, wie sie mit sechs Jahren aus Anatolien nach Deutschland kam
und dass es zwar auf Deutsch Vaterland heiße, auf Türkisch aber anavatan,
Mutterland: „Und warum sollte man nicht einen Vater und eine Mutter haben?“
„Çüş“, murmeln viele Schüler anerkennend.
## Gar nicht zu wählen, ist auch eine Option
Meiser spricht von den drei Kandidaten am mitreißendsten, Bayram ist
zurückhaltend, klingt oft wie die Juristin, die sie ist. Als der
CDU-Kandidat auf Sozialisten losgeht, die keine Ahnung von Wirtschaft
hätten, legt Bayram ihrem Konkurrenten Meiser die Hand auf die Schulter.
Auf die Frage, welchen der Kandidaten sie wählen würden, wenn sie nicht
selbst zur Wahl stünden, sagt Kiziltepe, sie würde Meiser wählen. Nur
Bayram sagt: „Man kann ja auch nicht wählen.“ Ganz so entspannt, wie sie im
Wahlkampf rüberkommen möchte, ist sie nicht.
Nach dem Ende der Podiumsdiskussion ist Kiziltepe gleich weg. Bayram gibt
einem Lehrer Feedback zur Veranstaltung, dann wendet sie sich einem
Parteifreund zu. Nur Meiser wird von Schülern umringt, die ihn fragen, wo
sie denn mitmachen könnten. Nico, der Moderator, der in diesem Jahr zum
ersten Mal wählen darf, will Meiser wählen. „Obwohl er die einzige
Kartoffel ist.“ Dann fahren sowohl Bayram als auch Meiser mit dem Fahrrad
davon. Ströbele würde sich freuen.
19 Sep 2017
## LINKS
[1] https://twitter.com/search?q=%23kiezregiert
[2] /Christian-Stroebele-zu-seinem-Abschied/!5366711
[3] /Gruene-waehlen-Stroebele-Nachfolgerin/!5388034
## AUTOREN
Gesa Steeger
Kersten Augustin
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Canan Bayram
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Friedrichshain-Kreuzberg
Kreuzberg
Deutsche Wohnen
Neukölln
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Tim Renner
Jung und dumm
FDP
Canan Bayram
Canan Bayram
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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