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# taz.de -- „Werbung“ für Abtreibungen: Notfalls durch alle Instanzen
> AbtreibungsgegnerInnen verklagen eine Ärztin. Sie führt
> Schwangerschaftsabbrüche durch und das steht auf ihrer Webseite.
Bild: Utensil der „Lebenschützer“ auf der Demo: weiße Kreuze (Archivbild …
Es ist ein einziges Wort, das Kristina Hänel in diese missliche Lage
gebracht hat: „Schwangerschaftsabbruch“. Dieses Wort steht auf der Webseite
der Ärztin, neben Begriffen wie „Familienplanung“ und
„Lungenfunktionsuntersuchung“. Und wegen dieses einen Wortes muss die
Gießener Ärztin sich am 24. November vor Gericht verantworten. Der Vorwurf:
Verdacht des Verstoßes gegen Paragraf 219a des Strafgesetzbuches (StGB),
der die „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ verbietet. Angezeigt
wurde sie von radikalen AbtreibungsgegnerInnen.
Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland verboten, aber straffrei. Wer
sich in einer anerkannten Beratungsstelle beraten, dann eine dreitägige
Bedenkfrist verstreichen und den Abbruch innerhalb der ersten zwölf
Schwangerschaftswochen nach Empfängnis vornehmen lässt, wird nicht
verfolgt. So regelt es der „Abtreibungsparagraf“ 218. Auch ÄrztInnen, die
den Abbruch unter diesen Bedingungen durchführen, handeln nach geltendem
Recht. Nicht so, wenn sie das in schriftlicher Form öffentlich mitteilen.
Paragraf 219a besagt unter anderem, dass, wer „öffentlich, in einer
Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften“ seines „Vermögensvorteils
wegen oder in grob anstößiger Weise“ Abtreibungen „anbietet, ankündigt“
oder „anpreist“, werde mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft. Eine Steilvorlage für AbtreibungsgegnerInnen.
Am Samstag werden die selbsternannten „Lebensschützer“ sich wieder in
Berlin versammeln und das Ende von „Abtreibung und Selektion“ fordern. Im
vergangenen Jahr zogen beim sogenannten „Marsch für das Leben“ etwa 6.000
Menschen mit weißen Holzkreuzen durch die Straßen, um ein striktes
Abtreibungsverbot zu fordern – getarnt unter dem Deckmantel der
Menschenfreundlichkeit und dem Einsatz für die Rechte etwa behinderter
Menschen.
„Es ist das dritte Mal, dass die ‚Initiative Nie Wieder‘ mich anzeigt“,
sagt Hänel. Die 61-jährige Allgemeinmedizinerin führt seit mehr als 30
Jahren Schwangerschaftsabbrüche durch. Doch es ist das erste Mal, dass sie
vor Gericht muss. Eine Statistik über alle Anzeigen und Verfahren in
Deutschland gibt es nicht – um ansatzweise einen Überblick zu erlangen,
muss man sich auf die Webseiten des „Nie-Wieder“-Vorsitzenden und
Abtreibungsgegners Klaus Günter Annen begeben. Auf Domains mit Namen wie
„Abtreiber.com“ oder „Babycaust.de“ listet Annen Namen und Anschriften …
ÄrztInnen, die Abbrüche durchführen, sowie seine Anzeigen gegen sie auf.
## Oft kommt es nicht zur Anklage
Die große Mehrheit der Staatsanwälte entscheidet demnach, keine Anklage zu
erheben. Nicht etwa, weil sie der Meinung sind, die ÄrztInnen handelten im
Recht. Tatsächlich legen die meisten den Paragrafen 219a so aus, dass schon
der sachliche Hinweis, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, als Werbung
zum eigenen Vermögensvorteil zu werten sei, weil der Arzt oder die Ärztin
ein reguläres Honorar erwarte. Sie beziehen sich dabei auf ein Urteil des
Landesgerichts Bayreuth aus dem Jahr 2006. Damals wurde ein Arzt verwarnt.
Dass die meisten Verfahren dennoch eingestellt werden, liegt daran, dass
die betreffenden ÄrztInnen die Rechtslage nicht kannten und den Eintrag
umgehend von ihrer Webseite entfernen.
Kristina Hänel hat das nicht getan. Weiterführende Informationen erhält
zwar nur, wer seine Email-Adresse angibt – aber das Wort
„Schwangerschaftssabbruch“ steht nach wie vor auf der Seite. Aus diesem
Grund entschied sich der zuständige Staatsanwalt, Anklage zu erheben, die
betraute Richterin am Amtsgericht Gießen ließ die Anklage zu. Bei der
vorangegangenen Anzeige aus dem Jahr 2008 sei noch von einem
„unvermeidbaren Verbotsirrtum“ ausgegangen worden, heißt es in der
Anklageschrift. Allerdings sei der Angeklagten damals der „Rahmen des
rechtlichen Dürfens“ vor Augen geführt worden – nun seien an ihr
„Unrechtsbewusstsein“ höhere Ansprüche zu stellen.
Für Kristina Hänel ist die Anklage ein Skandal. „Wenn der Paragraf 219a
heutzutage tatsächlich so restriktiv ausgelegt wird, dann muss er weg. Oder
geändert werden.“ Mit dem Paragrafen 218 sei geregelt, unter welchen
Umständen Frauen abtreiben können. „Wenn der Gesetzgeber sagt, dass das
straffrei ist, muss er den Frauen auch die Möglichkeit geben, sich selbst
umfassend über Methoden und Ärzte zu informieren“, sagt Hänel. „Es gibt …
Deutschland ein Recht auf freie Arztwahl.“
Der Paragraf 219a StGB soll verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch
in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert
wird“, erklärt die Gießener Staatsanwaltschaft. Für Hänel eine absurde
Vorstellung. „Es ist doch niemand für Abtreibungen“, sagt sie. „Weder ich
noch die Frauen, die zu mir kommen.“ Es gebe aber nun mal Situationen, in
denen eine Frau eine Abtreibung brauche. „Es ist doch meine verdammte
Pflicht, diese Frauen medizinisch zu versorgen.“
„Anbieten und werben sind nicht gleichzusetzen“, sagt die Kieler
Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel, eine Expertin wenn es um die
Paragrafen 218 und 219 geht. Sie vertritt Hänel vor Gericht. „Die Auslegung
der Staatsanwaltschaft widerspricht der Reform des Abtreibungsrechts. Ärzte
handeln rechtmäßig, wenn sie die gesetzlichen Anforderungen einhalten.“
Deswegen müssten sie über den Eingriff auch informieren dürfen.
## Unterbundene Infos für Frauen
Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen Paragraf 219a StGB sind sehr
selten – aber sie existieren. Da ist der bereits erwähnte Fall aus Bayreuth
aus dem Jahr 2006, der mit einer Verwarnung endete. Eine andere Ärztin aus
Nordrhein-Westfalen musste zwei Mal vor Gericht. Das erste Verfahren im
Jahr 2008 endete mit einer Verwarnung gegen sie und ihre zwei
PraxiskollegInnen: Weil auf ihrer Webseite ein PDF mit Hinweisen für den
OP-Termin abgerufen werden konnte, musste sie eine Geldbuße von 1.800 Euro
zahlen.
Sieben Jahre später waren es schon 6.400 Euro. Dieses Mal bekam ein
Abtreibungsgegner bei der Internet-Suche nach „Schwangerschaftsabbruch“
ihre Praxis empfohlen. Das Gericht wertete dies als „Inserat“ und verhängte
einen Strafbefehl. Seitdem gilt sie als vorbestraft. Und das, obwohl auf
ihrer eigenen Webseite die Leistung nicht aufgeführt war und sie den
Betreiber der Gelben Seiten gebeten hatte, den nicht von ihr veranlassten
Eintrag zu korrigieren.
Viele ÄrztInnen seien heute abgeschreckt von der Aussicht, mit Anzeigen der
LebensschützerInnen überzogen zu werden – [1][und führten die Abbrüche
lieber gar nicht erst durch], sagt Christian Albring, Präsident des
Berufsverbands der Frauenärzte in Deutschland. Frauen sind durch den
Paragrafen 219a zudem von MittlerInnen wie ihren ÄrztInnen oder
Beratungsstellen abhängig. Von Pro Familia etwa bekommen Frauen auf Wunsch
am Ende einer Beratung eine Auswahl an Adressen, an die sie sich wenden
können.
Recherchieren sie selbst im Netz, landen sie aber fast zwangsläufig auf den
Seiten der AbtreibungsgegnerInnen. Eine der wenigen verfügbaren
Alternativen ist eine Liste mit ÄrztInnen in Deutschland, die der Wiener
Gynäkologe Christian Fiala ins Netz gestellt hat. „Ich halte es für
unsäglich, dass Frauen diese wichtige Information und die damit verbundene
Selbstbestimmung vorenthalten wird“, sagt Fiala.
Auch Kristina Hänel will diese Situation nicht länger hinnehmen. „Es ist ja
nicht so, dass durch diese Regelungen irgendwelche Abtreibungen verhindert
würden“, sagt sie. Wenn es sein muss, will Hänel sich ihrer Anwältin Monika
Frommel durch alle Instanzen klagen. „Ich bin jetzt 61 Jahre alt, meine
Kinder sind groß – ich bin nicht mehr so leicht unter Druck zu setzen wie
früher“, sagt Hänel. Und: „Ich bin bereit, da jetzt so lange dran zu
bleiben, bis das Recht auf Information für diese Frauen da ist.“
15 Sep 2017
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## AUTOREN
Dinah Riese
Eiken Bruhn
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