| # taz.de -- „Lebensschützer“ zeigen Ärztin an: Über einen veralteten Par… | |
| > Kristina Hänel muss bald vor Gericht, weil sie Frauen wissen ließ: Bei | |
| > mir könnt ihr abtreiben. Politiker*innen forden eine Gesetzesänderung. | |
| Bild: Sowohl für Frauen als auch für Ärzt*innen ist wichtig, dass es eine kl… | |
| Eigentlich sei sie ein vorsichtiger Mensch, sagt Kristina Hänel über sich | |
| selbst und fügt hinzu: „Aber anscheinend bin ich jetzt richtig mutig“. Wie | |
| viele ihrer Kolleg*innen wurde die 61-jährige Ärztin [1][von radikalen | |
| Abtreibungsgegner*innen angezeigt], weil sie Frauen auf ihrer Webseite | |
| darüber informiert, dass sie in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche | |
| durchführen lassen können. Nach deutschem Recht eine Straftat. Am kommenden | |
| Freitag muss Hänel vor dem Amtsgericht im hessischen Gießen erscheinen. | |
| Notfalls will sie sich durch alle gerichtlichen Instanzen kämpfen. | |
| Abtreibungsgegner*innen machen sich ein Relikt im deutschen Strafrecht | |
| zunutze – den [2][Paragrafen 219 a des Strafgesetzbuchs]. Dieser stammt aus | |
| dem Jahr 1933 und diente ursprünglich dazu, [3][jüdische und kommunistische | |
| Ärzte zu kriminalisieren]. Noch heute verbietet er die „Werbung für den | |
| Abbruch einer Schwangerschaft“ – auch sachliche Informationen und das | |
| Auflisten des Abbruchs im Leistungsspektrum einer Praxis werden als Werben | |
| „des Vermögensvorteils wegen“ verstanden. Bei einer Anzeige nach Paragraf | |
| 219 a können den Ärzten eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder eine | |
| Geldstrafe drohen. | |
| Es ist das dritte Mal, dass Abtreibungsgegner*innen Hänel anzeigen – zum | |
| ersten Mal muss sie auch vor Gericht. Sie sagt: „Jetzt, wo eine Veränderung | |
| tatsächlich greifbar scheint, sehe ich noch klarer, wie fürchterlich diese | |
| Situation eigentlich ist.“ | |
| Denn tatsächlich tut sich etwas: Hänels [4][Petition auf change.org] hatte | |
| bis Redaktionsschluss mehr als 69.000 Unterschriften, es gibt unzählige | |
| Unterstützergruppen, einen [5][offenen Brief], den bisher etwa 60 | |
| Ärzt*innen unterschrieben haben und eine Webseite mit einem | |
| [6][Spendenkonto für Hänel]. Pro Familia fordert „den Gesetzgeber auf, | |
| zeitnah das Defizit bei der Information zum Schwangerschaftsabbruch zu | |
| beheben“. Am Tag von Hänels Gerichtsverhandlung sollen zwei Kundgebungen | |
| vor dem Amtsgericht Gießen stattfinden, um die Ärztin zu unterstützen. | |
| Auch an der Politik geht der Paragraf 219 a nicht vorbei: Die Linksfraktion | |
| [7][hat einen Gesetzentwurf] erarbeitet. In dem Papier, das der taz | |
| vorliegt, fordert sie die „Aufhebung des Werbeverbots für | |
| Schwangerschaftsabbrüche“. Durch die „sehr weitreichende Formulierung“ d… | |
| Paragrafen und seinen Missbrauch durch Abtreibungsgegner*innen entstünde | |
| „ein Klima, das die Ärztinnen und Ärzte, Beratungsstellen und Schwangeren | |
| verunsichert und die Schieflage im geltenden Recht aufzeigt“. | |
| ## Verboten aber straffrei | |
| „Dieser unsinnige Paragraf hat lange ein Schattendasein geführt“, sagt | |
| Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. „Aber | |
| jetzt wird er genutzt, um Ärztinnen und Ärzte auf eine Weise zu | |
| stigmatisieren wie in Zeiten, die wir eigentlich lange hinter uns geglaubt | |
| haben.“ Möhring selbst wird auf einer der Kundgebungen in Gießen sprechen. | |
| Abtreibungsgegner*innen, die sich selbst gern als „Lebensschützer“ | |
| bezeichnen, nutzen den Paragrafen zunehmend systematisch, um Ärztinnen und | |
| Ärzte einzuschüchtern. Wie viele Fälle vor Gericht landen, ist unbekannt. | |
| Im Jahr 2006 wurde ein Arzt in Bayreuth verwarnt, 2008 eine Ärztin aus | |
| Nordrhein-Westfalen. 2015 kassierte Letztere sogar einen Strafbefehl, weil | |
| die Betreiber der Gelben Seiten sie ohne ihr Wissen unter | |
| „Schwangerschaftsabbruch“ verschlagwortet hatten. [8][Sie zahlte 8.200 Euro | |
| Strafe]. Auch 2010 gab es eine Verurteilung. Viele Verfahren werden unter | |
| Auflage von Zahlung mehrerer Hundert Euro eingestellt. Meistens raten | |
| Staatsanwaltschaften bei einer Anzeige dazu, den Eintrag von der Homepage | |
| zu nehmen. | |
| Viele Ärzt*innen verzichten lieber gleich auf den Hinweis. Für Frauen, die | |
| einen Abbruch brauchen und sich im Netz informieren, bedeutet das, dass sie | |
| fast zwangsläufig auf den Webseiten der Abtreibungsgegner*innen landen. | |
| Auf Babykaust.de und Abtreiber.com etwa werden Abbrüche mit dem Holocaust | |
| gleichgesetzt und als „Mord“ bezeichnet, Ärzt*innen werden mit Name und | |
| Anschrift zwischen den Bildern blutiger Föten öffentlich an den Pranger | |
| gestellt. Hänel wird dort als „Tötungsspezialistin für ungeborene Kinder“ | |
| bezeichnet. | |
| Der Paragraf 219 a soll verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in | |
| der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert | |
| wird“, erklärt die Gießener Staatsanwaltschaft. Für Hänel eine absurde | |
| Vorstellung. „Es ist doch niemand für Abtreibungen“, sagt sie. „Weder ich | |
| noch die Frauen, die zu mir kommen.“ Es gebe aber nun mal Situationen, in | |
| denen eine Frau eine Abtreibung brauche. „Es ist doch meine verdammte | |
| Pflicht, diese Frauen medizinisch zu versorgen.“ | |
| Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland verboten, aber straffrei. Wer | |
| sich in einer anerkannten Beratungsstelle beraten, dann eine dreitägige | |
| Bedenkfrist verstreichen und den Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen | |
| vornehmen lässt, wird nicht verfolgt. Dennoch zählen | |
| Schwangerschaftsabbrüche – und das „Werben“ dafür – zu den „Strafta… | |
| gegen das Leben“, im [9][Strafgesetzbuch verortet] hinter Mord, Totschlag | |
| und Tötung auf Verlangen. Das ist der Kompromiss, auf den sich Gegner*innen | |
| und Befürworter*innen einer Legalisierung im Bundestag 1995 geeinigt haben | |
| und an dem [10][seither nicht gerüttelt wurde]. Das liegt nicht zuletzt | |
| daran, dass auch Befürworter*innen einer Legalisierung fürchten, dass eine | |
| Neuregelung eher noch restriktiver ausfallen könnte. | |
| „Wir bekommen zunehmend Probleme mit dem Paragrafen 219 a“, sagt die | |
| SPD-Abgeordnete Eva Högl. „Wenn die Frage, ob eine sachliche Information | |
| Werbung ist, Sache der Auslegung ist, dann werden die Gerichte das klären. | |
| Wenn nicht, gibt es gegebenenfalls gesetzgeberischen Bedarf.“ Sowohl für | |
| Frauen in Notsituationen als auch für Ärzt*innen sei es ungemein wichtig, | |
| dass es eine klare Rechtsgrundlage gebe. | |
| ## Nur auf den ersten Blick vernünftig | |
| „Es ist natürlich schwierig, sich in laufende Prozesse einzumischen“, sagt | |
| die Grünen-Abgeordnete Ulle Schauws. „Aber hier geht es um eine politische | |
| Haltungsfrage. Paragraf 219 a ist veraltet und die Möglichkeit, ihn so zu | |
| nutzen, wie es einige Lebensschützer tun, ist höchst problematisch.“ Auch | |
| Schauws wird zum Prozess nach Gießen fahren. Kristina Hänel gebühre für | |
| ihren Mut „Respekt, aber auch unsere politische und feministische | |
| Solidarität“. Sie will den Prozess verfolgen und dann sehen, ob und in | |
| welcher Form gesetzgeberisches Handeln sinnvoll erscheint. „Das sollte über | |
| die Fraktionen hinweg forciert werden“, sagt Schauws. | |
| Auch in den Reihen der Liberalen sieht man Änderungsbedarf. „Für uns Freie | |
| Demokraten gehören sowohl das Angebot, wie auch die Durchführung von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen zu einer flächendeckenden ärztlichen | |
| Grundversorgung. Frauen sollten einen wohnortnahen Zugang zu sicheren | |
| medizinischen Schwangerschaftsabbrüchen haben“, erklärt der FDP-Abgeordnete | |
| Hermann Otto Solms. „Wir treten für die freie Arztwahl ein und die | |
| ärztliche Freiberuflichkeit ist für uns ein hohes Gut.“ | |
| Skeptischere Töne kommen aus den Reihen der Union. Die nötigen | |
| Informationen erhielten betroffene Frauen durch die Ärzt*innen und die | |
| Beratungsstellen, erklärt Marcus Weinberg, frauenpolitischer Sprecher der | |
| Unions-Fraktion. „Das Werbeverbot soll Geschäftsmodelle mit Abtreibungen | |
| verhindern. Insofern halte ich es grundsätzlich für richtig.“ | |
| Elisabeth Winkelmeier-Becker, rechtspolitische Sprecherin der Fraktion, | |
| befürchtet bei einer Abschaffung des Werbeverbots eine Verharmlosung von | |
| Abtreibungen. „Man kann aber sicherlich darüber streiten, ob schon die | |
| sachliche Information auf der Homepage eines Arztes den Tatbestand | |
| erfüllt.“ | |
| Rein juristisch erfülle die sachliche Information auf der Webseite die | |
| Definition des Werbens zum eigenen Vermögensvorteil, sagt Maria Wersig, | |
| Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes. „Der Schwangerschaftsabbruch | |
| ist eine Gesundheitsdienstleistung für Frauen. Darüber muss informiert | |
| werden dürfen und der tatsächliche Zugang muss gewährleistet sein.“ Der | |
| Fall und die große öffentliche Aufmerksamkeit dafür hätten das Potenzial, | |
| „grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen zu diesem Thema neu | |
| aufzurollen“. | |
| „So ein Werbeverbot wirkt nur auf den ersten Blick vernünftig“, sagt Häne… | |
| „Aber wenn man die Auswirkungen dieses Paragrafen begreift, dann muss | |
| eigentlich für jeden demokratisch denkenden Menschen klar werden, wie | |
| anachronistisch er ist.“ | |
| Sollte ihr Fall tatsächlich bis zum Bundesverfassungsgericht gehen, könnten | |
| die Richter dort das auch so sehen; diese hatten nämlich schon 2006 im Fall | |
| eines Arztes, der durch Flugblätter von Abtreibungsgegner*innen belästigt | |
| wurde, [11][erklärt]: „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von | |
| Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne | |
| negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen | |
| seine Dienste in Anspruch nehmen können.“ | |
| Mitarbeit: Eiken Bruhn | |
| 17 Nov 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Werbung-fuer-Abtreibungen/!5444891 | |
| [2] https://dejure.org/gesetze/StGB/219a.html | |
| [3] http://www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-am-pranger-1.3747191 | |
| [4] https://www.change.org/p/deutscher-bundestag-informationsrecht-f%C3%BCr-fra… | |
| [5] https://solidaritaetfuerkristinahaenel.wordpress.com/offener-brief-an-aerzt… | |
| [6] https://solidaritaetfuerkristinahaenel.wordpress.com/spenden/ | |
| [7] http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/000/1900093.pdf | |
| [8] /Werbung-fuer-Abtreibungen/!5444891 | |
| [9] https://dejure.org/gesetze/StGB/219a.html | |
| [10] /Abtreibung-in-Deutschland/!5386152 | |
| [11] http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20060524_1bvr10600… | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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