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# taz.de -- Geldstrafe wegen „Abtreibungswerbung“: „Ein Schlag in die Mag…
> Im Prozess um „Werbung“ für Abtreibungen ist die Ärztin Kristina Hänel
> schuldig gesprochen worden. Sie soll 6.000 Euro Geldstrafe zahlen.
Bild: Die angeklagte Ärztin Kristina Hänel (r.) spricht mit ihrer Verteidiger…
Gießen taz | Es ist voll im Saal des Amtsgerichts Gießen. Die 71 Plätze
reichen bei Weitem nicht für die Menschen, die an diesem Freitag zur
Unterstützung der Ärztin Kristina Hänel erschienen sind. Am Ende verteilt
der Pressesprecher des Gerichts die letzten Platzkarten. „Ich fordere
Freispruch für meine Mandantin“, sagt die Hänels Verteidigerin Monika
Frommel. Kristina Hänel steht vor Gericht, weil sie auf ihrer Webseite über
Schwangerschaftsabbrüche in ihrer Praxis informiert – laut Paragraf 219a
Strafgesetzbuch, der das „Werben“ für Schwangerschaftsabbrüche verbietet,
eine Straftat. Am Ende wird das Gericht der Staatsanwaltschaft folgen und
Hänel verurteilen – zu 6.000 Euro Geldstrafe. (AZ: 500DS 501JS 15031/15)
Aktuell kann der Paragraf so ausgelegt werden, dass auch sachliche
Information wie auf der Webseite Hänels als solche „Werbung“ ausgelegt
werden kann. „Ich beantrage deswegen hilfsweise die Vorlage beim
Bundesverfassungsgericht“, sagt Frommel zu Beginn der Verhandlung. Von
draußen tönt lautes Rufen herein: „My body my choice“ – auf gleich zwei
Kundgebungen haben Menschen seit dem frühen Morgen ihre Solidarität mit
Hänel gefordert und die Abschaffung des Paragrafen 219a gefordert.
Ob der Hinweis auf der Webseite denn noch immer existiere, will die
Richterin wissen. „Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern“, antwortet
Frommel. Hänel selbst will sich vor Gericht nicht äußern. Der Hinweis sei
mit einem Link unterlegt, nur ein Klick auf diesen führe zu einem Dokument
mit Informationen über Abbrüche ganz allgemein, über die verschiedenen
Methoden und jeweiligen Risiken und über die Möglichkeit, den Abbruch in
der Praxis Hänels vorzunehmen.
„Es handelt sich also um eine Information über eine Information, und die
ist nicht strafbar“, sagt Frommel. „Es handelt sich nicht um eine
appellative Äußerung im Ton eines 'Kommen Sie zu mir, Verhütung ist viel zu
anstrengend’.“ Die Handlung des Anbietens erfülle keineswegs den
Straftatbestand des Werbens.
## „Relikt aus der Nazizeit“
Der Paragraf stamme aus dem Jahr 1933, führt Frommel weiter aus. Er sei
damals eingeführt worden, um jüdische und kommunistische Ärzte zu
kriminalisieren. „Der Paragraf 219a ist ein Relikt aus der Nazizeit, das
von der Reformgesetzgebung versehentlich mitgeschleppt wurde“, sagt
Frommel. Der Paragraf sei in seiner Formulierung „uferlos weit“ und
systemwidrig. Er passe nicht zur Gesetzesreform von 1995, wonach
Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland verboten, aber unter bestimmten
Bedingungen straffrei seien. Deswegen, so Frommel, sei es eine Möglichkeit,
die Norm dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.
„Wir haben uns jetzt angehört, warum Sie meinen, dass der Paragraf nicht
verfassungskonform ist“, sagt die Richterin. „Nun müssen wir aber ja erst
mal feststellen: Er existiert.“ Und auch der Staatsanwalt betont: „Die
Diskussion, die wir hier führen, ist eine rein rechtliche.“ Warum Hänel die
Information auf ihrer Webseite eingestellt habe, fragt der Staatsanwalt.
„Weil Patientinnen das Recht auf Information haben“, sagt Frommel.
Am Ende fordert der Staatsanwalt eine Strafe von 40 Tagessätzen à 150 Euro.
„Das Plädoyer könnte hier vorbei sein“, sagt er. Er wolle aber doch
ausführen, warum die Norm vielleicht doch einen legitimen Sinn erfülle. Im
Vorfeld der Verhandlung sei viel darüber gesprochen worden, dass das Gesetz
nicht mehr zeitgemäß sei und Frauen unrechtmäßig in ihren Rechten
beschränke. „Die Verteidigung würde gerne eine Gesetzesänderung
herbeiführen“, sagt er. „Dabei wird aber die aktuelle Rechtslage verkannt.
Für die Gesetzgebung ist die Legislative zuständig. Die gesetzliche Norm
hat hier Anwendung zu finden – wenn nicht, wäre das Rechtsbeugung.“
„Sie reden von Wortlaut und Rechtsbeugung“, erwidert Frommel. „Wir wissen
alle, dass es solche Staatsanwälte wie Sie gibt und als Hochschullehrerin
weiß ich, dass es Jurastudenten gibt, die über die Wortlautauslegung nicht
hinauskommen.“ Über fehlende Information sei noch nie ein einziges Leben
geschützt worden – „Das Gegenteil ist der Fall.“
Am Ende folgt das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft: Hänel wird zu
40 Tagessätze zu 150 Euro verurteilt und trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Gesetzgeber habe sich klar ausgedrückt, sagt die Richterin: „Er wünscht
nicht, dass Schwangerschaftsabbrüche öffentlich diskutiert werden, als
wären sie etwas Alltägliches.“
## „Sehr deprimierend“
Nach der Verhandlung drängen sich Journalist*innen um Verteidigerin
Frommel. Sie habe eigentlich eine hohe Meinung von deutschen Gerichten,
sagt sie: „Aber ich erwarte, dass eine Richterin weiß, dass das Auslegen
von Gesetzen Teil ihres Berufs ist.“ Sie und Hänel werden in Revision gehen
– der Fall läge dann als nächstes beim Oberlandesgericht.
„Heute ist eine Chance verpasst worden“, sagt Ulrike Lembke vom Deutschen
Juristinnenbund. Das Gericht habe in mehreren Aussagen erkennen lassen,
dass es bereit sei, dass eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht möglich
sei. „Deswegen ist es schade, dass heute vor Gericht nicht über
Verfassungsrecht gesprochen wurde“, sagt Lembke. Die dafür entscheidenden
Punkte seien nicht diskutiert worden.
Mit der Presse will Kristina Hänel nicht mehr sprechen. Aber sie wird
weitermachen. Und eines hat sie schon heute geschafft: Eine breite
gesellschaftliche wie politische Debatte anzustoßen. Vor Beginn des
Prozesses wurde sie am Gerichtsgebäude von rund 400 Unterstützer*innen
empfangen. „Dieses Urteil ist ein Schlag in die Magengrube für alle, die
heute hier sind, um ihre Solidarität mit Kristina Hänel zu bekunden“, sagt
Ulle Schauws, Bundestagsabgeordnete der Grünen nach dem Prozess. „Aber nun
ist umso mehr klar: Die Politik muss hier für gesetzliche Klarheit sorgen.“
„Sehr deprimierend“ nennt auch Nora Szasz das Urteil. Die Frauenärztin aus
Kassel ist derzeit selbst mit einer Anklage konfrontiert. Die
Staatsanwaltschaft habe vorgeschlagen, aus pragmatischen Gründen den
Hinweis von der Webseite zu nehmen; Szasz will dem nicht zustimmen. Szasz
steht vor dem Gerichtsgebäude. „Aus dem heutigen Tag habe ich gelernt, dass
da strafrechtlich wenig rauszuholen ist“, sagt sie. „Wir müssen uns dem
politisch oder verfassungsrechtlich annehmen.“
24 Nov 2017
## AUTOREN
Dinah Riese
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Paragraf 219a
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Sexismus
Frauenrechte
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Unwort des Jahres
Kristina Hänel
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