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# taz.de -- Pränatale Diagnostik: Gegen die Norm
> Abweichungen beim Fötus lassen sich früher und sicherer feststellen.
> Verfestigt wird ein Weltbild, das Behinderung als Belastung begreift.
Bild: Die Band „21Downbeat“ bei der Fête de la Musique
Die „Wahlarena“ mit Angela Merkel, eine ARD-Sondersendung am vergangenen
Montag. Eine junge Frau mit Trisomie 21 konfrontierte die Kanzlerin mit dem
Problem pränataler Diagnostik und möglichen Schwangerschaftsabbrüchen:
„Neun von zehn Babys mit Downsyndrom werden in Deutschland nicht geboren“,
sagt die junge Frau. „Sie werden abgetrieben.“ Der Applaus im Publikum ist
groß.
Wenn „Lebensschützer“ die Sendung gesehen haben, werden sie sich wohl
gefreut haben. Als die Erstwählerin Natalie Dedreux hinzufügte: „Ich will
nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben“, mögen sie gejubelt
haben: Etwas Besseres, als Menschen mit Behinderung, die Föten als Baby
bezeichnen und sich im Fernsehen so sehr mit diesen identifizieren wie
die junge Frau, kann ihnen wenige Tage vor der wichtigsten bundesweiten
Demonstration gegen Abtreibung in Deutschland nicht passieren.
Der „Marsch für das Leben“, bei dem an diesem Samstag mehrere tausend
Abtreibungsgegner durch Berlin demonstrieren, hat in den letzten Jahren
verstärkt Kritik an Pränataldiagnostik und Sterbehilfe artikuliert. Der
nichtinvasive pränatale Test auf Trisomie 21 – der Praenatest, ein
Bluttest, für den es keiner Fruchtwasserunter-suchung mehr bedarf – stand
bei der letztjährigen Auftaktkundgebung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Damit will der veranstaltende Bundesverband Lebensrecht (BVL) das
reaktionäre Fundi-Image der „Lebensschützer“ bekämpfen und die Bewegung …
die Interessenvertretung behinderter Menschen positionieren.
Der Beitrag der jungen Frau in der ARD-Sendung zeigt, dass Menschen mit
Behinderung sich recht gut selbst vertreten können. Dennoch geht die Kritik
von Dedreux am Kern des Problems vorbei und spielt so reaktionären
Anti-Abtreibungs-Positionen in die Hände, die die vermeintlichen Interessen
der Föten gegen die realen der Schwangeren in Stellung bringen wollen.
Menschen mit Behinderung ernst zu nehmen, heißt auch, sich mit ihren
Ansichten ernsthaft auseinanderzusetzen und sie nicht abzufeiern: Alles für
die pure Weisheit zu halten, weil es eine Person mit Behinderung gesagt
hat, wäre auch eine Form von Diskriminierung.
## Behinderung als Defekt
Die Angst der jungen Frau ernst zu nehmen, ist richtig und wichtig, ihre
Gleichsetzung von lebenden Menschen mit Behinderung und Föten ist falsch.
Das Leben von Menschen mit Trisomie 21 ist aufgrund der Tests nicht
gefährdet. Richtig aber ist: Das Angebot der pränatalen Suche nach
Behinderung und Normabweichung verstärkt ein Alltagswissen über
Behinderung, das diese nur als Defekt wahrnehmen kann; ein Leben, das
verbunden ist mit Leiden, Schmerzen und Verzicht.
Diese Annahme führt zu der Schlussfolgerung, dass ein Leben mit Behinderung
grundsätzlich schlechter sein muss als ein Leben ohne Behinderung. Das ist
ein behindertenfeindliches und ableistisches Vorurteil, das bekämpft und
nicht gefördert und normalisiert gehört.
Wenn jemand über Menschen des weiblichen Geschlechts oder einer anderen als
europäischer Herkunft behaupten würde, dass sie qua genetischer Disposition
ein eingeschränktes bedauernswertes Leben führen müssten – der Vorwurf des
Sexismus und Rassismus wäre nicht weiter erklärungsbedürftig.
Dass eine solche herabsetzende und diskriminierende Ansicht in Bezug auf
Behinderung weiterhin als normal gilt – auch unter Linken, Feministinnen
und Menschen in medizinischen und sozialen Berufen –, zeigt nur, dass die
gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Diskriminierung aufgrund von
Behinderung tiefergehend geführt werden muss, als das oft geschieht.
## Pränatale Suche nach Abweichungen ist leichter
Seit der Zulassung des Bluttest auf Trisomien und
Geschlechter-chromosomenabweichung auf dem deutschen Markt hat sich die
Suche nach bestimmten genetischen Abweichungen wesentlich vereinfacht. Die
in Deutschland ansässige Firma LifeCodexx bilanzierte anlässlich des
fünfjährigen Zulassungsjubiläums im August 2017 stolz, der Test habe die
Pränataldiagnostik in Deutschland „nachhaltig verändert“. Das ist
sicherlich richtig, wirft aber die Frage auf, ob diese Veränderung gut ist
oder ob sie das vorurteilbehaftete Denken über Behinderung befördert.
Für die Herstellerfirma ist es eine Erfolgsgeschichte: Die Wartezeit auf
die Testergebnisse hat sich von einigen Wochen auf wenige Tage verkürzt,
die Preise sind rapide gesunken. Kostete ein Test anfangs noch über tausend
Euro, gibt es die Basisvariante auf Trisomie 21 und Geschlecht mittlerweile
für knapp 200 Euro. Auch die Angebotspalette wurde massiv ausgeweitet.
Während der Test zuerst nur die relativ häufige Trisomie 21 (Downsyndrom)
feststellen konnte, wird mittlerweile die Bestimmung von acht
unterschiedlichen Chromosomenstörungen angeboten: die Trisomien 21, 18 und
13, bei denen ebendiese Chromosomen dreifach statt doppelt vorhanden sind;
die Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen X und Y und damit das
Turner-, Triple X-, Klinefelter- und XYY-Syndrom sowie das
DiGeorge-Syndrom, dessen Ursache eine Mikrodeletion, also das Fehlen eines
Chromosomenteils ist.
## Kein Fehlgeburten-Risiko mehr
In der Logik der Testanbieter und auch vieler Feministinnen sind die Tests
gut, weil sie anders als die bisherigen Screeningmethoden mit großer
Sicherheit die gesuchte Behinderung vorhersagen können und anders als die
bisherigen sicheren Diagnoseverfahren nichtinvasiv sind. Die invasiven
Verfahren wie Fruchtwasser-untersuchungen bergen das Risiko einer
Fehlgeburt „gesunder“ Föten. Die neuen Bluttests können also dann als gut
gelten, wenn man das Wissen über vorliegende Behinderungen grundsätzlich
für sinnvoll für die Entscheidungsfreiheit von Frauen hält.
Eine mögliche – und wahrscheinliche – Folge dieser Entscheidungsfreiheit
ist ein Schwangerschaftsabbruch nach der Feststellung einer Behinderung.
Diese Tests sind ab der neunten Schwangerschaftswoche anwendbar, bis zur
zwölften Schwangerschaftswoche gilt die Beratungsregelung: eine Frau kann
nach einer Beratung und einer dreitägigen Wartefrist entscheiden, die
Schwangerschaft zu beenden.
Nach der zwölften Woche benötigt sie die Erlaubnis eines Arztes, die dieser
erteilen kann, wenn durch die Aussicht auf ein behindertes Kind die
körperliche oder psychische Gesundheit der Schwangeren in Gefahr scheint.
## Menschen mit Behinderung als Mehrbelastung
Warum aber sollte die mögliche Behinderung des werdenden Kindes überhaupt
eine Gefahr für die psychische Gesundheit der werdenden Mutter sein? In
einer Gesellschaft, die genügend inklusive Kindergärten, Schulen,
Universitäten, Arbeitsplätze geschaffen hat, so dass alle entsprechend
ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten lernen, leben und arbeiten können, in
einer Gesellschaft, die Behinderung nicht als Normabweichung, sondern als
normalen Teil der menschlichen Vielfalt wahrnimmt, wäre das wohl eine
absurde Annahme.
In so einer Gesellschaft wären allerdings auch große Teile der heutigen
pränatalen Diagnostik überflüssig, die nichts zur Gesundheit der werdenden
Mutter oder des werdenden Kindes beitragen, sondern nur nach der
Normabweichung suchen. In einer Gesellschaft wie der unseren, in der auch
das Leben mit nichtbehinderten Kindern häufig zu unerträglichen
Mehrfachbelastungen führt und Behinderung als Synonym für Mehrbelastung
gilt, liegt es hingegen nahe, zumindest diese vermeiden zu wollen.
Eine Gesellschaft, in der alle ohne Angst verschieden sein können, ist aber
nicht das Ziel der „Lebensschützer“. Verschiedenheiten im sexuellen
Begehren sind ihnen genauso ein Gräuel wie Frauen, die über ihren Körper
selbst entscheiden wollen.
Der feministische Kampf für eine lebenswerte Gesellschaft muss also in
beide Richtungen geführt werden: Gegen die reaktionären Abtreibungsgegner
und ihre Vereinnahmungs- und Bevormundungsabsichten. Gegen die Ausweitung
der behindertenfeindlichen Testlogik und einen menschenfeindlichen
Normalitätsbegriff. Und für eine inklusive Gesellschaft, die nicht nur die
Barrieren in den Straßen, sondern auch die in den Köpfen abbaut.
16 Sep 2017
## AUTOREN
Kirsten Achtelik
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