# taz.de -- Pränataldiagnostik und Abtreibung: Plötzlich ist da diese Falte i… | |
> In meiner Schwangerschaft zeigen Tests, dass mein Kind wahrscheinlich | |
> eine Behinderung haben wird. Nur sicher sagen kann es niemand. | |
Bild: Das Krankenzimmer | |
Alles, was ich von meinem Kind noch habe, ist ein Stapel Papier. Zettel mit | |
Telefonnummern, mit Ärztenamen draufgekritzelt, Befunde, Einwilligungen, | |
Broschüren und ein Blatt, auf dem ich „Sammelbestattung“ angekreuzt und | |
meine Kontaktdaten in Druckbuchstaben eingetragen habe. Die Papiere habe | |
ich unterschrieben. Die Mutter gebiert, die Mutter beendet. Auch ein | |
Umschlag ist dabei, braun und fest zugeklebt mit Fotoaufnahmen von 40 Gramm | |
und 14 Zentimetern Leben, abgetrieben, mit einer Tablette, geschluckt mit | |
Medium-Mineralwasser und hochgezogenem Rotz. | |
Dabei war das alles anders geplant. Ein normaler Kontrolltermin, 11. Woche | |
und ein paar Tage. Wieder einmal sehen, das lebt, was man kaum begreift. | |
Die Ärztin ist eine Urlaubsvertretung und schaut in den Computer. Vor ein | |
paar Wochen hatte ich das Herz schon schlagen gehört. Kaltes Gel, | |
Papierunterlage, nasse Augen. Auch diesmal strecken sich wieder zuckend | |
Arme und Beine in mir aus. Aber plötzlich ist da dieses Wort: „Da sehe ich | |
eine recht große Nackentransparenz.“ An irgendwas erinnert das Wort mich. | |
„Haben Sie schon mal über Pränataldiagnostik nachgedacht? Wie alt sind | |
Sie?“ – „35.“ | |
Beim ersten Kind war ich 30 und wir hatten uns gegen Pränataldiagnostik | |
entschieden. Weil wir nichts entscheiden wollten, was wir nicht hätten | |
entscheiden können. Weil wir nicht drüber nachdenken wollten. | |
Die Ärztin erklärt, dass sie nicht genügend Erfahrung habe, dass es nichts | |
bedeuten müsse, dass ich überlegen sollte, das abzuklären. Sie misst nach, | |
ohne vorher zu fragen: 5,5 Millimeter. Sie gibt mir das Foto, ohne es in | |
den Mutterpass einzuheften, dazu einen Zettel mit Ärztenamen und Nummer. | |
„Muss nichts bedeuten. Lassen Sie das abklären“, sagt auch die | |
Sprechstundenhilfe und guckt verunsichert. | |
Der Wind draußen war stark, Äste liegen auf dem Boden. Mein Sohn singt | |
hinten auf dem Fahrradsitz: „Hörst du die Regenwürmer husten?“ Ich schiebe | |
und google „Nackenfalte“. Es fühlt sich unheilbar an. Hatte ich nicht | |
sowieso Zweifel gehabt? Ein zweites Kind will man doch nur, weil man sonst | |
nichts mit seinem Leben anzufangen weiß. Die Stimmungsschwankungen der | |
letzten Wochen können doch nur einen Grund gehabt haben. | |
## „Es stimmt was nicht“ | |
Ich rufe die Ärztenummer an, spreche auf die Mailbox. Nach fünf weiteren | |
Telefonaten – 5,5 Millimeter, ich weiß auch nicht genau, was los ist – habe | |
ich einen Termin in zwei Wochen. Das beruhigt mich. Es gibt Bolognese zum | |
Mittag. Bis das Krankenhaus zurückruft und sagt, dass der Chefarzt mich | |
gleich sehen möchte. Mit diesen Werten. Ich rufe meinen Mann an. Ich | |
versuche, Luft zu kriegen: „Es stimmt was nicht.“ „Ich komme sofort.“ | |
„Musst du nicht.“ | |
Erst mit dem Internet verstehe ich langsam, was gerade zu schnell passiert. | |
„Nackentransparenz ist eine subkutane Flüssigkeitsansammlung im | |
Nackenbereich und tritt zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche auf. | |
Die Flüssigkeit kann noch nicht abgeleitet werden und es kommt zu einer | |
Lymphansammlung.“ Irgendwas bei 2 oder 3 Millimetern ist nicht so viel. | |
Über 5 schon. „Bei einer auffallenden Vergrößerung der Nackentransparenz | |
gilt die Wahrscheinlichkeit verschiedener Fehlbildungen als erhöht.“ | |
Ich fahre ins Krankenhaus. Der Chefarzt riecht nach diesem Parfüm, das man | |
gerade auf allen Vernissagen riechen kann. Der Sohn will nicht draußen | |
warten, er freut sich über das Mini-Baby auf dem riesigen Ultraschallbild, | |
das auf die Wand projiziert wird. „Wie lustig“, sagt er, spielt mit dem Gel | |
und der Arzt sagt: hohe Nackentransparenz. Sagt: vielleicht schwerer | |
Herzfehler, vielleicht Trisomie 21. Sagt: eher ungünstige Prognose. | |
Überlebensfähig? Vielleicht nicht. Und jetzt? Er sagt: Wieder Ultraschall | |
nächste Woche, Fruchtwasseruntersuchung. Im Netz steht: „Eine große | |
Nackenfalte bedeutet nicht zwangsweise, dass Ihr Baby behindert sein wird.“ | |
Wenn man schwanger ist, erzählen einem die Ärzte, man solle nicht darüber | |
reden. Damit man nicht darüber reden muss, wenn das Kind stirbt. Eins von | |
fünf Kindern stirbt in den ersten Wochen, kann man im Netz lesen. Von | |
allein. Und man soll auch nicht darüber reden müssen, wenn man sie sterben | |
lässt. Ich will das nicht. Darüber nicht reden. Weil es falsch ist. Ich | |
muss darüber schreiben, damit man drüber spricht. Natürlich, sagt mein | |
Mann. Wie geht es den anderen? In den Foren lese ich vor allem von Kindern, | |
die trotz schlechter Prognose gesund zur Welt kamen. Ausnahmen, sagt der | |
Arzt. | |
Am Abend flüstert mein Sohn seinem Vater ein Geheimnis ins Ohr: „Mama hat | |
ein Baby im Bauch.“ Er gibt ihm einen Namen. Verabredet sich mit ihm zum | |
Fußball. „Weißt du, vielleicht ist das Baby nicht gesund.“ Ja, Mama. Mein | |
Mann erzählt von den Jahren, in denen er in einer Gemeinschaft mit | |
Gehandicapten lebte. Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt, warum | |
müssen wir ein krankes Kind bekommen? Vielleicht hat es ja nur vier Zehen, | |
ich kannte mal jemanden mit vier Zehen, dem ging es gut. Ein Kind mit einem | |
halben Arm weniger. Das wäre schön. Oder aber unser Kind bedeutet: Pflege, | |
24 Stunden, sieben Tage die Woche. Nicht die nächsten drei, sondern vierzig | |
Jahre. | |
Es darf nicht um die Bewertung gehen, ob das Leben des Kinds lebenswert | |
ist. Schon rechtlich nicht, sagt der Arzt. Ich kann das nicht beurteilen. | |
Ich habe Angst davor, das Kind zu verlieren, später, wenn das Leben realer | |
ist. Deswegen denke ich darüber nach, die Schwangerschaft abzubrechen. | |
„Wir wollen Leben retten“, sagt Professor Wolfgang Henrich, als ich ihn | |
Wochen nach der Abtreibung interviewe, weil ich Antworten suche, aber kaum | |
klare Fragen habe. Er ist nicht mein behandelnder Arzt, sondern Leiter der | |
Geburtsmedizin der Charité. Er gerät in eine Verteidigungshaltung, die mich | |
verunsichert. Er sagt, dass etwa ein Prozent der Neugeborenen einen | |
Herzfehler habe, bei dem es helfe, ihn früh zu entdecken und bei der Geburt | |
darauf reagieren zu können. Und es gehe darum, Frauen eine Selbstbestimmung | |
zu ermöglichen. „Keine Frau macht das leichtfertig.“ Ich nicke. | |
„Egal, was wir machen, das wird jetzt alles scheiße werden“, sagt mein Mann | |
irgendwann in diesen Sommerwochen, in denen kein Sommer ist. „Satz mit x, | |
war wohl nix.“ Seine Einschätzung ist auf absurde Weise beruhigend. Und | |
vielleicht auch die größte Erkenntnis aus dem Besuch bei der | |
Beratungsstelle. Da schicken sie einen hin. Sie sprechen dann leise: Gehen | |
Sie dahin, die helfen Ihnen. | |
Auch die Frau in der Beratungsstelle spricht leise. Und langsam. Ich bin | |
ungeduldig, weil sie all das erzählt, was ich schon im Internet gelesen | |
habe. Dass nach einem auffälligen Erst-Screening die Möglichkeit besteht, | |
eine nicht ganz risikofreie Fruchtwasseruntersuchung zu machen – oder gar | |
nichts zu tun und sich für das Kind zu entscheiden. Dass man die Belastung | |
aber nicht unterschätzen dürfe. | |
## Warten oder entscheiden? | |
Und wenn die Fruchtwasseruntersuchung keine Diagnose bringt, dann müsse man | |
bis zum Feinscreening um die 22. Woche warten. Sicher sei eine genaue | |
Diagnose dann aber auch nicht. Ich will nur wissen, ob mein Kind gesund | |
sein kann. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr Kind nicht gesund ist.“ | |
Die Taschentücher liegen auf dem Beistelltisch, die Beraterin erklärt den | |
Unterschied zwischen einer zeitnahen Ausschabung und einem späteren | |
Abbruch. Sie sagt, dass die Kinder, wenn sie fast schon lebensfähig sind, | |
meist mit einer Spritze getötet würden, bevor man sie gebären müsse. Stille | |
Geburt heißt das. Ich denke, das könnte ich nicht durchstehen. Heute weiß | |
ich, man kann fast alles durchstehen. | |
Sie sagt, dass wir gefragt werden würden, ob wir das Kind danach sehen | |
wollen. Und dass eine Abtreibung kein Teppich sei, unter den man das | |
Problem kehren könne. Dass dieses Kind uns nun unser ganzes Leben | |
beschäftigen werde. Zumindest das war ja so geplant. | |
„Das Schlimmste wäre, es in ein paar Monaten zu verlieren oder kurz nach | |
der Geburt“, sage ich zu meinem Mann. Die Möglichkeit, dass wir | |
unterschiedlicher Meinung sein könnten, schließe ich aus. Was ist als | |
Nächstes zu tun? Planänderung alle paar Minuten. In einem Moment glaube ich | |
daran, dass das Kind gesund ist, im nächsten Moment weiß ich, dass es nicht | |
so ist. | |
Wir sind uns einig, dass wir kein schwer krankes Kind bekommen. Können. | |
Wollen. Unkontrollierte Tränen. Unser Sohn, dessen Existenz nun wie ein | |
reiner Glücksfall scheint, macht das erste Mal seit über einem Jahr wieder | |
ins Bett. Wir vereinbaren einen weiteren Termin beim Chefarzt. Ich | |
verbringe eine Menge Zeit im Internet, im Wartezimmer und gebe eine Menge | |
Blut ab. Für 299 Euro kann man testen, ob das Kind Trisomie 21, 18 oder 13 | |
hat. Nur diese drei Anomalien. Was machen Frauen, die weniger Geld und | |
keine flexiblen Arbeitszeiten haben? | |
Wir werfen eine Matratze ins Auto und fahren nach Italien. Es ist der | |
schönste Urlaub seit Jahren. Wie verzweifelt wir sind, merke ich, als mein | |
Mann eine Kerze in der Kirche von Bellagio anzündet. Und unser Sohn will | |
immer über Jesus reden. | |
## Je früher der Befund, desto häufiger wird abgetrieben | |
Professor Henrich wird einige Wochen später sagen, dass etwa 150.000 bis | |
200.000 Schwangerschaftsabbrüche im Jahr bei gesunden Kindern vorgenommen | |
würden. Und nur etwa 1.600 bis 2.000 mit medizinischer Indikation. | |
Er sagt, je früher innerhalb der Schwangerschaft der Befund da sei, desto | |
eher würden die Föten abgetrieben. Und er sagt, dass es zwei Peaks gäbe, in | |
der 13. und 14. Woche, sowie dann nach dem Organscreening um die 22. Woche | |
herum. | |
Ich bin in der 12. Woche. Das Ergebnis des Bluttests ist nicht nach drei | |
Werktagen da, wie versprochen, sondern nach fünf. Ich sitze auf einem | |
Campingplatz am Lago Maggiore, eine Ente läuft vorbei, und ich stelle mich | |
auf alles ein. „So wie ich das hier sehe, ist der Test unauffällig“, sagt | |
die Frau am Telefon. Mir wird schwindelig. Keine der drei Trisomien | |
bedeutet, es könnte eine der unzähligen anderen haben. | |
Wir werden darüber entscheiden müssen, ob wir ein vielleicht lebensfähiges | |
Kind abtreiben, weil es wahrscheinlich schwer krank ist. Wir gehen wieder | |
zum Chefarzt. Das sind die sicheren Momente, weil wir nicht abwägen müssen, | |
nur zuhören. Ich mag den Arzt. „Unauffälliger Blut-Test bedeutet erst mal | |
Durchatmen“, sagt er. Ich atme durch. Dann schaut er sich das Herz unter | |
dem Ultraschall an: unauffällig. Frequenz durchschnittlich. „Wenn ich einen | |
Tipp abgeben darf, es ist ein Junge.“ Das Gehirn: unauffällig. Man sieht | |
das Blut dadurch fließen. Nabelschnur, Nasenbein, Wirbelsäule, Blase, alles | |
da. Alles gut, oder? | |
Ich freue mich. Mein Mann scheinbar nicht. „Aber die Nackentransparenz ist | |
deutlich sichtbar.“ Sie ist noch größer geworden. 5,9 mm. Und: am Nacken | |
seien große Zysten zu sehen, das Kinn sei nicht wirklich darstellbar. Im | |
Befund steht hinterher, dass die Stirn auffällig hoch sei. Der Arzt sagt, | |
dass Organfehler sich also noch entwickeln könnten und dass eine geistige | |
Beeinträchtigung möglich wäre. Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden | |
abgetrieben? „95 Prozent.“ | |
„Was hast du gedacht, als du das Baby gesehen hast?“, fragt mein Mann, als | |
wir aus dem Krankenhaus gehen, das ich nicht mehr sehen mag, mit seinem | |
orangefarbenen Linoleum, mit seinen leblosen Pflanzen. Ich denke: Das ist | |
mein Baby. Ich antworte nicht. Mein Mann sagt: „Es ist nicht in Ordnung.“ | |
Ich rufe bei Ulrich Sancken an. Wenn man im Internet, das der | |
Pränataldiagnostik eher zu misstrauen scheint, nach ebenjener sucht, landet | |
man rasch bei ihm. Er ist Biologe mit genetischer Ausrichtung, arbeitet in | |
einem Labor für Humangenetik, ist Vater einer Tochter, die mit offenem | |
Rücken zur Welt kam, und schreibt in Foren. Er tauscht sich aus mit Frauen, | |
die Befunde gehört haben wie ich. Er sagt, er habe viele Eltern | |
kennengelernt, die eine ungünstige Prognose hatten, deren Kinder aber | |
gesund zur Welt kamen. Man müsse sich die Softmarker angucken, sagt er. Das | |
sind bei uns die Zysten, die aber auf kein Krankheitsbild eindeutig passen. | |
## Entscheidung für Abtreibung nennt der Arzt „sinnvoll“ | |
Es ist Mittwoch, wir vereinbaren zwei Termine für Montag. Entweder nehmen | |
wir den einen wahr oder den anderen. Ein Termin für die | |
Fruchtwasseruntersuchung und einen für eine Kürettage – ein schönes Wort | |
für den unschönen Vorgang der Ausschabung. Die Fast-Entscheidung zu einem | |
Abbruch nennt der Arzt „sinnvoll“. Er füllt einen gelben Zettel aus. „As… | |
Martin Race“ steht auf seinem T-Shirt. Es wird nicht mehr viel geredet. | |
Papierkram. „Sammelbestattung dann?“, fragt er. „Äh“, sagt mein Mann, | |
„können wir das später entscheiden?“– „Natürlich.“ Eine Gewebeprob… | |
dann in die Genetik geschickt. | |
Eine befreundete Gynäkologin rät, eine zweite Meinung einzuholen. Wir gehen | |
zum Humangenetiker, mit der Drohung des nahenden Abbruchs bekommt man | |
schnell einen Termin. In der großen Pränatalpraxis hängen viele Babyfotos. | |
Fische im Aquarium werden gefüttert. Also werden hier doch gesunde Kinder | |
geboren. Er sagt uns, dass wir wahrscheinlich nicht herausfinden werden, ob | |
und welche Chromosomen-Anomalie das Kind habe. Dafür sei die Forschung noch | |
nicht weit genug. Die Untersuchung des Fruchtwassers würde drei Wochen | |
dauern. Ferienzeit. Danach bleibt nur noch eine vaginale Geburt. | |
Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden abgetrieben? Er überlegt: | |
„Über 50 Prozent.“ Das klingt schon besser. Aber irgendwann sagt er es: �… | |
ist sehr unwahrscheinlich, dass Ihr Kind gesund ist.“ Man habe ausreichend | |
Daten, um das sagen zu können. Wir gehen. Erleichtert. Wenn man | |
Entscheidungen trifft, weiß man irgendwann, es gibt nur die eine, die | |
richtige. Das soll alles aufhören. Die Verantwortung scheint größer als | |
ich. Der eine Weg erträglicher als der andere. | |
Zwei Tage vor dem Abbruch wieder ins Krankenhaus. Ich fahre allein. Es ist | |
Samstag. Ich finde niemanden. Nur ein paar Schwangere, die auf die Geburt | |
warten. Ich bin nicht neidisch. Ich klingele. Ich werde in einen Raum | |
gebracht, in dem ein breites Bett steht. Auf so einem Bett habe ich meinen | |
Sohn zur Welt gebracht. Ein leeres Babybett steht daneben, bunte | |
Bettwäsche. | |
Eine Ärztin kommt, schaut in meinen Papierstapel. „Haben Sie eigentlich | |
einen Genetiker gesprochen?“ Warum fragt sie das? Gibt es doch Hoffnung? | |
„Was man sieht, sieht man, oder?“, sagt sie und gibt mir eine Tablette, die | |
Abtreibungspille Mifegyne. Ich schlucke sie. Grüne Papierhandtücher, viel | |
zu hart, um sich die Nase zu putzen. „Keine Situation, um die man Sie | |
beneidet.“ Wir fahren aufs Land. Alle trinken Wein. Ich nicht, trinken | |
schadet dem Baby. | |
## Überall Blutklumpen | |
Zwei Tage später müssen wir lachen, hysterisch fast. Um 13 Uhr sollte die | |
Ausschabungs-OP sein, jetzt ist es 15 Uhr. Das Bett ist nicht breit, aber | |
breit genug, um sich gegenseitig festzuhalten. Ich stehe jetzt aber im | |
Krankenhauszimmer, durchnässt, weil ich leichte Wehen und einen | |
Fruchtblasensprung gehabt hatte. Ich fange an zu bluten, immer mehr, | |
nachdem ich zwei Tabletten Cytotec genommen habe – das Medikament, das | |
eigentlich die Magenschleimhaut stärken soll, aber auch Fehlgeburten | |
auslöst. | |
Das Blut tropft dunkel auf das Linoleum, meine Unterhose ist voller | |
blutiger Klumpen. Ich versuche, den Boden sauber zu wischen, und rutsche | |
fast aus. Ich glaube, das ist jetzt schon das Kind, das da am Boden in | |
meiner Unterwäsche liegt. „Bitte hol jemanden.“ Die Hebamme sagt, sie habe | |
gerade Schichtbeginn. Sie sucht nach dem Kind. Nein, das ist es noch nicht. | |
Und da ist gar nichts anderes möglich, als zu lachen. | |
Die Narkose dauert 15 Minuten. Die Tränen dringen durch die Betäubung in | |
den neuen Zustand. „Ich habe nicht auf mein Kind aufgepasst.“ Die Ärztin | |
sagt, es war ein Junge und es war die richtige Entscheidung. Mein Mann sagt | |
später, sie habe auch gesagt, er sei schwer krank gewesen. Ich habe das | |
nicht gehört. Obduktion? Ja. Ich will das alles wissen. | |
Wir schreiben den Freunden und der Familie, dass wir uns von unserem Sohn | |
verabschiedet haben. „Bevor der Abschied unerträglich geworden wäre. Wir | |
sind froh über das, was da ist. Alles geht immer weiter.“ Ich habe mein | |
Kind verloren? Ich habe es abgetrieben? Beides stimmt nicht ganz. Als die | |
Leute anmaßend antworten – „das war die richtige Entscheidung“ –, ärg… | |
ich mich. „Ist das Baby jetzt begraben?“, fragt der Sohn. Ich schwindele: | |
Ja. „Oh, schade.“ | |
Wie geht es dir, fragt die Freundin. „Mir geht es gut. Ich schäme mich | |
etwas deswegen. Wahrscheinlich geht es mir bald wieder schlecht. Es war | |
fast schön. Wir konnten ihn sogar noch mal sehen.“ | |
## Ich bereue es nicht | |
Wenn ich von der Begegnung mit ihm erzähle, spreche ich von etwas Heiligem. | |
Es war wirklich fast schön. Durchsichtig und blau, in einem kleinen | |
geflochtenen Korb, eingewickelt in ein blaues Stofftaschentuch. Wir haben | |
uns langsam genähert. So klein. Wenn wir ihn angefasst hätten, wäre seine | |
dünne Haut gerissen. Wir haben ihm meinen silbernen Armreif mitgegeben, die | |
Hebamme hat ihn um seinen Bauch gelegt, nachdem sie ihn fotografiert hatte. | |
Er hatte so eine schöne Kopfform. Der Kopf hätte in meine Hand gepasst. Ich | |
habe nicht daran gedacht, nach einer hohen Stirn zu suchen. | |
Eine Woche später spüre ich ihn noch im Bauch. Eine Woche später kann ich | |
nicht seinen Namen sagen. Eine Woche später wollen Freunde und Familie von | |
uns Trauer sehen, wo Unverständnis ist. Ich berühre die Einstichstelle des | |
Venenzugangs. Ich zerschlage eine Motte mit der Hand. Täterin. Ich probiere | |
neue Parfüms aus. Aus einem Elternpaar sind zwei Trauernde geworden. | |
Es fühlt sich so an, als wäre jetzt alles anders, als käme ich nicht wieder | |
in das alte Leben rein. Aber die Angst davor, dass alles wieder so sein | |
wird wie vorher, ist noch größer. „Wann kommt mein Bruder?“, fragt mein | |
Sohn. Eine Freundin erzählt von ihrem Krebs. Das ist schlimm. Nicht meine | |
Geschichte. | |
Es ist schon Herbst, als ein Brief von der Krankenhausseelsorge kommt. | |
Einladung zur Trauerfeier in zwei Monaten, eine Sammelbestattung. Man solle | |
bitte nicht filmen und fotografieren. Es ist noch nicht vorbei. Ich gehe | |
zum Frauenarzt. „Wie geht es Ihnen?“ Wenn Sie nicht fragen, ganz gut. „Ich | |
bin stabil“, sage ich. Ob ich schlafen könne, fragt er. Immer, sage ich. | |
Ich bereue es nicht. Ich habe getan, was ich konnte. | |
Ist es, weil ich am Anfang der Schwangerschaft getrunken habe? Eine Laune | |
der Natur, sagt der Arzt. 300 Schwangerschaften betreut er jährlich. So | |
unübersehbare Auffälligkeiten habe er drei bis vier Mal im Jahr, und die | |
würden eigentlich immer zum Abbruch führen. Meist wären sie mit | |
Chromosomen-Anomalie diagnostiziert. So eine hohe Nackenfaltentransparenz | |
könne man nicht ignorieren. | |
Professor Henrich hat gesagt, dass auffällige Föten oft nicht eindeutig | |
diagnostiziert werden können. Aber die meisten Eltern bekommen eine | |
Diagnose, sagte er. Und er habe in 20 Jahren nicht erlebt, dass die | |
Pathologie, wenn sie sich die Kinder anschaut, was in Deutschland aus | |
gesetzlichen Gründen nur auf Wunsch der Eltern passiert, hinterher sagt, | |
das Kind sei gesund gewesen. Wenn es keinen starken Grund gäbe, würde kein | |
Arzt den Abbruch durchführen. | |
Nach neun Wochen fahre ich wieder ins Krankenhaus. Der Chefarzt hat viele | |
Blätter in der Hand, die Obduktionsergebnisse. Die großen Zysten wurden | |
gefunden. Die hohe Stirn, das kleine Kinn. Dazu noch ein flacher | |
Hinterkopf, ein tiefer Ohransatz links. „Diskrete Hinweise auf eine | |
syndromale Erkrankung“. Welche? Unklar. Genetischer Befund? Unauffällig. | |
„Sie haben keinen Fehler gemacht, da war schon was bei dem Mädchen.“ | |
Mädchen? „Ja, XX-Chromosomen.“ Aber es war doch ein Junge? „In dem früh… | |
Entwicklungsstadium schwer zu erkennen, die Klitoris könnte besonders groß | |
gewesen sein, vielleicht auch ein Hinweis auf eine Krankheit.“ Okay, danke. | |
Auf Wiedersehen. | |
Mein Mädchen. Elf Blatt Papier mehr. | |
22 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Laura Ewert | |
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