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# taz.de -- Pränataldiagnostik und Abtreibung: Plötzlich ist da diese Falte i…
> In meiner Schwangerschaft zeigen Tests, dass mein Kind wahrscheinlich
> eine Behinderung haben wird. Nur sicher sagen kann es niemand.
Bild: Das Krankenzimmer
Alles, was ich von meinem Kind noch habe, ist ein Stapel Papier. Zettel mit
Telefonnummern, mit Ärztenamen draufgekritzelt, Befunde, Einwilligungen,
Broschüren und ein Blatt, auf dem ich „Sammelbestattung“ angekreuzt und
meine Kontaktdaten in Druckbuchstaben eingetragen habe. Die Papiere habe
ich unterschrieben. Die Mutter gebiert, die Mutter beendet. Auch ein
Umschlag ist dabei, braun und fest zugeklebt mit Fotoaufnahmen von 40 Gramm
und 14 Zentimetern Leben, abgetrieben, mit einer Tablette, geschluckt mit
Medium-Mineralwasser und hochgezogenem Rotz.
Dabei war das alles anders geplant. Ein normaler Kontrolltermin, 11. Woche
und ein paar Tage. Wieder einmal sehen, das lebt, was man kaum begreift.
Die Ärztin ist eine Urlaubsvertretung und schaut in den Computer. Vor ein
paar Wochen hatte ich das Herz schon schlagen gehört. Kaltes Gel,
Papierunterlage, nasse Augen. Auch diesmal strecken sich wieder zuckend
Arme und Beine in mir aus. Aber plötzlich ist da dieses Wort: „Da sehe ich
eine recht große Nackentransparenz.“ An irgendwas erinnert das Wort mich.
„Haben Sie schon mal über Pränataldiagnostik nachgedacht? Wie alt sind
Sie?“ – „35.“
Beim ersten Kind war ich 30 und wir hatten uns gegen Pränataldiagnostik
entschieden. Weil wir nichts entscheiden wollten, was wir nicht hätten
entscheiden können. Weil wir nicht drüber nachdenken wollten.
Die Ärztin erklärt, dass sie nicht genügend Erfahrung habe, dass es nichts
bedeuten müsse, dass ich überlegen sollte, das abzuklären. Sie misst nach,
ohne vorher zu fragen: 5,5 Millimeter. Sie gibt mir das Foto, ohne es in
den Mutterpass einzuheften, dazu einen Zettel mit Ärztenamen und Nummer.
„Muss nichts bedeuten. Lassen Sie das abklären“, sagt auch die
Sprechstundenhilfe und guckt verunsichert.
Der Wind draußen war stark, Äste liegen auf dem Boden. Mein Sohn singt
hinten auf dem Fahrradsitz: „Hörst du die Regenwürmer husten?“ Ich schiebe
und google „Nackenfalte“. Es fühlt sich unheilbar an. Hatte ich nicht
sowieso Zweifel gehabt? Ein zweites Kind will man doch nur, weil man sonst
nichts mit seinem Leben anzufangen weiß. Die Stimmungsschwankungen der
letzten Wochen können doch nur einen Grund gehabt haben.
## „Es stimmt was nicht“
Ich rufe die Ärztenummer an, spreche auf die Mailbox. Nach fünf weiteren
Telefonaten – 5,5 Millimeter, ich weiß auch nicht genau, was los ist – habe
ich einen Termin in zwei Wochen. Das beruhigt mich. Es gibt Bolognese zum
Mittag. Bis das Krankenhaus zurückruft und sagt, dass der Chefarzt mich
gleich sehen möchte. Mit diesen Werten. Ich rufe meinen Mann an. Ich
versuche, Luft zu kriegen: „Es stimmt was nicht.“ „Ich komme sofort.“
„Musst du nicht.“
Erst mit dem Internet verstehe ich langsam, was gerade zu schnell passiert.
„Nackentransparenz ist eine subkutane Flüssigkeitsansammlung im
Nackenbereich und tritt zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche auf.
Die Flüssigkeit kann noch nicht abgeleitet werden und es kommt zu einer
Lymphansammlung.“ Irgendwas bei 2 oder 3 Millimetern ist nicht so viel.
Über 5 schon. „Bei einer auffallenden Vergrößerung der Nackentransparenz
gilt die Wahrscheinlichkeit verschiedener Fehlbildungen als erhöht.“
Ich fahre ins Krankenhaus. Der Chefarzt riecht nach diesem Parfüm, das man
gerade auf allen Vernissagen riechen kann. Der Sohn will nicht draußen
warten, er freut sich über das Mini-Baby auf dem riesigen Ultraschallbild,
das auf die Wand projiziert wird. „Wie lustig“, sagt er, spielt mit dem Gel
und der Arzt sagt: hohe Nackentransparenz. Sagt: vielleicht schwerer
Herzfehler, vielleicht Trisomie 21. Sagt: eher ungünstige Prognose.
Überlebensfähig? Vielleicht nicht. Und jetzt? Er sagt: Wieder Ultraschall
nächste Woche, Fruchtwasseruntersuchung. Im Netz steht: „Eine große
Nackenfalte bedeutet nicht zwangsweise, dass Ihr Baby behindert sein wird.“
Wenn man schwanger ist, erzählen einem die Ärzte, man solle nicht darüber
reden. Damit man nicht darüber reden muss, wenn das Kind stirbt. Eins von
fünf Kindern stirbt in den ersten Wochen, kann man im Netz lesen. Von
allein. Und man soll auch nicht darüber reden müssen, wenn man sie sterben
lässt. Ich will das nicht. Darüber nicht reden. Weil es falsch ist. Ich
muss darüber schreiben, damit man drüber spricht. Natürlich, sagt mein
Mann. Wie geht es den anderen? In den Foren lese ich vor allem von Kindern,
die trotz schlechter Prognose gesund zur Welt kamen. Ausnahmen, sagt der
Arzt.
Am Abend flüstert mein Sohn seinem Vater ein Geheimnis ins Ohr: „Mama hat
ein Baby im Bauch.“ Er gibt ihm einen Namen. Verabredet sich mit ihm zum
Fußball. „Weißt du, vielleicht ist das Baby nicht gesund.“ Ja, Mama. Mein
Mann erzählt von den Jahren, in denen er in einer Gemeinschaft mit
Gehandicapten lebte. Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt, warum
müssen wir ein krankes Kind bekommen? Vielleicht hat es ja nur vier Zehen,
ich kannte mal jemanden mit vier Zehen, dem ging es gut. Ein Kind mit einem
halben Arm weniger. Das wäre schön. Oder aber unser Kind bedeutet: Pflege,
24 Stunden, sieben Tage die Woche. Nicht die nächsten drei, sondern vierzig
Jahre.
Es darf nicht um die Bewertung gehen, ob das Leben des Kinds lebenswert
ist. Schon rechtlich nicht, sagt der Arzt. Ich kann das nicht beurteilen.
Ich habe Angst davor, das Kind zu verlieren, später, wenn das Leben realer
ist. Deswegen denke ich darüber nach, die Schwangerschaft abzubrechen.
„Wir wollen Leben retten“, sagt Professor Wolfgang Henrich, als ich ihn
Wochen nach der Abtreibung interviewe, weil ich Antworten suche, aber kaum
klare Fragen habe. Er ist nicht mein behandelnder Arzt, sondern Leiter der
Geburtsmedizin der Charité. Er gerät in eine Verteidigungshaltung, die mich
verunsichert. Er sagt, dass etwa ein Prozent der Neugeborenen einen
Herzfehler habe, bei dem es helfe, ihn früh zu entdecken und bei der Geburt
darauf reagieren zu können. Und es gehe darum, Frauen eine Selbstbestimmung
zu ermöglichen. „Keine Frau macht das leichtfertig.“ Ich nicke.
„Egal, was wir machen, das wird jetzt alles scheiße werden“, sagt mein Mann
irgendwann in diesen Sommerwochen, in denen kein Sommer ist. „Satz mit x,
war wohl nix.“ Seine Einschätzung ist auf absurde Weise beruhigend. Und
vielleicht auch die größte Erkenntnis aus dem Besuch bei der
Beratungsstelle. Da schicken sie einen hin. Sie sprechen dann leise: Gehen
Sie dahin, die helfen Ihnen.
Auch die Frau in der Beratungsstelle spricht leise. Und langsam. Ich bin
ungeduldig, weil sie all das erzählt, was ich schon im Internet gelesen
habe. Dass nach einem auffälligen Erst-Screening die Möglichkeit besteht,
eine nicht ganz risikofreie Fruchtwasseruntersuchung zu machen – oder gar
nichts zu tun und sich für das Kind zu entscheiden. Dass man die Belastung
aber nicht unterschätzen dürfe.
## Warten oder entscheiden?
Und wenn die Fruchtwasseruntersuchung keine Diagnose bringt, dann müsse man
bis zum Feinscreening um die 22. Woche warten. Sicher sei eine genaue
Diagnose dann aber auch nicht. Ich will nur wissen, ob mein Kind gesund
sein kann. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr Kind nicht gesund ist.“
Die Taschentücher liegen auf dem Beistelltisch, die Beraterin erklärt den
Unterschied zwischen einer zeitnahen Ausschabung und einem späteren
Abbruch. Sie sagt, dass die Kinder, wenn sie fast schon lebensfähig sind,
meist mit einer Spritze getötet würden, bevor man sie gebären müsse. Stille
Geburt heißt das. Ich denke, das könnte ich nicht durchstehen. Heute weiß
ich, man kann fast alles durchstehen.
Sie sagt, dass wir gefragt werden würden, ob wir das Kind danach sehen
wollen. Und dass eine Abtreibung kein Teppich sei, unter den man das
Problem kehren könne. Dass dieses Kind uns nun unser ganzes Leben
beschäftigen werde. Zumindest das war ja so geplant.
„Das Schlimmste wäre, es in ein paar Monaten zu verlieren oder kurz nach
der Geburt“, sage ich zu meinem Mann. Die Möglichkeit, dass wir
unterschiedlicher Meinung sein könnten, schließe ich aus. Was ist als
Nächstes zu tun? Planänderung alle paar Minuten. In einem Moment glaube ich
daran, dass das Kind gesund ist, im nächsten Moment weiß ich, dass es nicht
so ist.
Wir sind uns einig, dass wir kein schwer krankes Kind bekommen. Können.
Wollen. Unkontrollierte Tränen. Unser Sohn, dessen Existenz nun wie ein
reiner Glücksfall scheint, macht das erste Mal seit über einem Jahr wieder
ins Bett. Wir vereinbaren einen weiteren Termin beim Chefarzt. Ich
verbringe eine Menge Zeit im Internet, im Wartezimmer und gebe eine Menge
Blut ab. Für 299 Euro kann man testen, ob das Kind Trisomie 21, 18 oder 13
hat. Nur diese drei Anomalien. Was machen Frauen, die weniger Geld und
keine flexiblen Arbeitszeiten haben?
Wir werfen eine Matratze ins Auto und fahren nach Italien. Es ist der
schönste Urlaub seit Jahren. Wie verzweifelt wir sind, merke ich, als mein
Mann eine Kerze in der Kirche von Bellagio anzündet. Und unser Sohn will
immer über Jesus reden.
## Je früher der Befund, desto häufiger wird abgetrieben
Professor Henrich wird einige Wochen später sagen, dass etwa 150.000 bis
200.000 Schwangerschaftsabbrüche im Jahr bei gesunden Kindern vorgenommen
würden. Und nur etwa 1.600 bis 2.000 mit medizinischer Indikation.
Er sagt, je früher innerhalb der Schwangerschaft der Befund da sei, desto
eher würden die Föten abgetrieben. Und er sagt, dass es zwei Peaks gäbe, in
der 13. und 14. Woche, sowie dann nach dem Organscreening um die 22. Woche
herum.
Ich bin in der 12. Woche. Das Ergebnis des Bluttests ist nicht nach drei
Werktagen da, wie versprochen, sondern nach fünf. Ich sitze auf einem
Campingplatz am Lago Maggiore, eine Ente läuft vorbei, und ich stelle mich
auf alles ein. „So wie ich das hier sehe, ist der Test unauffällig“, sagt
die Frau am Telefon. Mir wird schwindelig. Keine der drei Trisomien
bedeutet, es könnte eine der unzähligen anderen haben.
Wir werden darüber entscheiden müssen, ob wir ein vielleicht lebensfähiges
Kind abtreiben, weil es wahrscheinlich schwer krank ist. Wir gehen wieder
zum Chefarzt. Das sind die sicheren Momente, weil wir nicht abwägen müssen,
nur zuhören. Ich mag den Arzt. „Unauffälliger Blut-Test bedeutet erst mal
Durchatmen“, sagt er. Ich atme durch. Dann schaut er sich das Herz unter
dem Ultraschall an: unauffällig. Frequenz durchschnittlich. „Wenn ich einen
Tipp abgeben darf, es ist ein Junge.“ Das Gehirn: unauffällig. Man sieht
das Blut dadurch fließen. Nabelschnur, Nasenbein, Wirbelsäule, Blase, alles
da. Alles gut, oder?
Ich freue mich. Mein Mann scheinbar nicht. „Aber die Nackentransparenz ist
deutlich sichtbar.“ Sie ist noch größer geworden. 5,9 mm. Und: am Nacken
seien große Zysten zu sehen, das Kinn sei nicht wirklich darstellbar. Im
Befund steht hinterher, dass die Stirn auffällig hoch sei. Der Arzt sagt,
dass Organfehler sich also noch entwickeln könnten und dass eine geistige
Beeinträchtigung möglich wäre. Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden
abgetrieben? „95 Prozent.“
„Was hast du gedacht, als du das Baby gesehen hast?“, fragt mein Mann, als
wir aus dem Krankenhaus gehen, das ich nicht mehr sehen mag, mit seinem
orangefarbenen Linoleum, mit seinen leblosen Pflanzen. Ich denke: Das ist
mein Baby. Ich antworte nicht. Mein Mann sagt: „Es ist nicht in Ordnung.“
Ich rufe bei Ulrich Sancken an. Wenn man im Internet, das der
Pränataldiagnostik eher zu misstrauen scheint, nach ebenjener sucht, landet
man rasch bei ihm. Er ist Biologe mit genetischer Ausrichtung, arbeitet in
einem Labor für Humangenetik, ist Vater einer Tochter, die mit offenem
Rücken zur Welt kam, und schreibt in Foren. Er tauscht sich aus mit Frauen,
die Befunde gehört haben wie ich. Er sagt, er habe viele Eltern
kennengelernt, die eine ungünstige Prognose hatten, deren Kinder aber
gesund zur Welt kamen. Man müsse sich die Softmarker angucken, sagt er. Das
sind bei uns die Zysten, die aber auf kein Krankheitsbild eindeutig passen.
## Entscheidung für Abtreibung nennt der Arzt „sinnvoll“
Es ist Mittwoch, wir vereinbaren zwei Termine für Montag. Entweder nehmen
wir den einen wahr oder den anderen. Ein Termin für die
Fruchtwasseruntersuchung und einen für eine Kürettage – ein schönes Wort
für den unschönen Vorgang der Ausschabung. Die Fast-Entscheidung zu einem
Abbruch nennt der Arzt „sinnvoll“. Er füllt einen gelben Zettel aus. „As…
Martin Race“ steht auf seinem T-Shirt. Es wird nicht mehr viel geredet.
Papierkram. „Sammelbestattung dann?“, fragt er. „Äh“, sagt mein Mann,
„können wir das später entscheiden?“– „Natürlich.“ Eine Gewebeprob…
dann in die Genetik geschickt.
Eine befreundete Gynäkologin rät, eine zweite Meinung einzuholen. Wir gehen
zum Humangenetiker, mit der Drohung des nahenden Abbruchs bekommt man
schnell einen Termin. In der großen Pränatalpraxis hängen viele Babyfotos.
Fische im Aquarium werden gefüttert. Also werden hier doch gesunde Kinder
geboren. Er sagt uns, dass wir wahrscheinlich nicht herausfinden werden, ob
und welche Chromosomen-Anomalie das Kind habe. Dafür sei die Forschung noch
nicht weit genug. Die Untersuchung des Fruchtwassers würde drei Wochen
dauern. Ferienzeit. Danach bleibt nur noch eine vaginale Geburt.
Wie viele Kinder mit ähnlichem Befund werden abgetrieben? Er überlegt:
„Über 50 Prozent.“ Das klingt schon besser. Aber irgendwann sagt er es: �…
ist sehr unwahrscheinlich, dass Ihr Kind gesund ist.“ Man habe ausreichend
Daten, um das sagen zu können. Wir gehen. Erleichtert. Wenn man
Entscheidungen trifft, weiß man irgendwann, es gibt nur die eine, die
richtige. Das soll alles aufhören. Die Verantwortung scheint größer als
ich. Der eine Weg erträglicher als der andere.
Zwei Tage vor dem Abbruch wieder ins Krankenhaus. Ich fahre allein. Es ist
Samstag. Ich finde niemanden. Nur ein paar Schwangere, die auf die Geburt
warten. Ich bin nicht neidisch. Ich klingele. Ich werde in einen Raum
gebracht, in dem ein breites Bett steht. Auf so einem Bett habe ich meinen
Sohn zur Welt gebracht. Ein leeres Babybett steht daneben, bunte
Bettwäsche.
Eine Ärztin kommt, schaut in meinen Papierstapel. „Haben Sie eigentlich
einen Genetiker gesprochen?“ Warum fragt sie das? Gibt es doch Hoffnung?
„Was man sieht, sieht man, oder?“, sagt sie und gibt mir eine Tablette, die
Abtreibungspille Mifegyne. Ich schlucke sie. Grüne Papierhandtücher, viel
zu hart, um sich die Nase zu putzen. „Keine Situation, um die man Sie
beneidet.“ Wir fahren aufs Land. Alle trinken Wein. Ich nicht, trinken
schadet dem Baby.
## Überall Blutklumpen
Zwei Tage später müssen wir lachen, hysterisch fast. Um 13 Uhr sollte die
Ausschabungs-OP sein, jetzt ist es 15 Uhr. Das Bett ist nicht breit, aber
breit genug, um sich gegenseitig festzuhalten. Ich stehe jetzt aber im
Krankenhauszimmer, durchnässt, weil ich leichte Wehen und einen
Fruchtblasensprung gehabt hatte. Ich fange an zu bluten, immer mehr,
nachdem ich zwei Tabletten Cytotec genommen habe – das Medikament, das
eigentlich die Magenschleimhaut stärken soll, aber auch Fehlgeburten
auslöst.
Das Blut tropft dunkel auf das Linoleum, meine Unterhose ist voller
blutiger Klumpen. Ich versuche, den Boden sauber zu wischen, und rutsche
fast aus. Ich glaube, das ist jetzt schon das Kind, das da am Boden in
meiner Unterwäsche liegt. „Bitte hol jemanden.“ Die Hebamme sagt, sie habe
gerade Schichtbeginn. Sie sucht nach dem Kind. Nein, das ist es noch nicht.
Und da ist gar nichts anderes möglich, als zu lachen.
Die Narkose dauert 15 Minuten. Die Tränen dringen durch die Betäubung in
den neuen Zustand. „Ich habe nicht auf mein Kind aufgepasst.“ Die Ärztin
sagt, es war ein Junge und es war die richtige Entscheidung. Mein Mann sagt
später, sie habe auch gesagt, er sei schwer krank gewesen. Ich habe das
nicht gehört. Obduktion? Ja. Ich will das alles wissen.
Wir schreiben den Freunden und der Familie, dass wir uns von unserem Sohn
verabschiedet haben. „Bevor der Abschied unerträglich geworden wäre. Wir
sind froh über das, was da ist. Alles geht immer weiter.“ Ich habe mein
Kind verloren? Ich habe es abgetrieben? Beides stimmt nicht ganz. Als die
Leute anmaßend antworten – „das war die richtige Entscheidung“ –, ärg…
ich mich. „Ist das Baby jetzt begraben?“, fragt der Sohn. Ich schwindele:
Ja. „Oh, schade.“
Wie geht es dir, fragt die Freundin. „Mir geht es gut. Ich schäme mich
etwas deswegen. Wahrscheinlich geht es mir bald wieder schlecht. Es war
fast schön. Wir konnten ihn sogar noch mal sehen.“
## Ich bereue es nicht
Wenn ich von der Begegnung mit ihm erzähle, spreche ich von etwas Heiligem.
Es war wirklich fast schön. Durchsichtig und blau, in einem kleinen
geflochtenen Korb, eingewickelt in ein blaues Stofftaschentuch. Wir haben
uns langsam genähert. So klein. Wenn wir ihn angefasst hätten, wäre seine
dünne Haut gerissen. Wir haben ihm meinen silbernen Armreif mitgegeben, die
Hebamme hat ihn um seinen Bauch gelegt, nachdem sie ihn fotografiert hatte.
Er hatte so eine schöne Kopfform. Der Kopf hätte in meine Hand gepasst. Ich
habe nicht daran gedacht, nach einer hohen Stirn zu suchen.
Eine Woche später spüre ich ihn noch im Bauch. Eine Woche später kann ich
nicht seinen Namen sagen. Eine Woche später wollen Freunde und Familie von
uns Trauer sehen, wo Unverständnis ist. Ich berühre die Einstichstelle des
Venenzugangs. Ich zerschlage eine Motte mit der Hand. Täterin. Ich probiere
neue Parfüms aus. Aus einem Elternpaar sind zwei Trauernde geworden.
Es fühlt sich so an, als wäre jetzt alles anders, als käme ich nicht wieder
in das alte Leben rein. Aber die Angst davor, dass alles wieder so sein
wird wie vorher, ist noch größer. „Wann kommt mein Bruder?“, fragt mein
Sohn. Eine Freundin erzählt von ihrem Krebs. Das ist schlimm. Nicht meine
Geschichte.
Es ist schon Herbst, als ein Brief von der Krankenhausseelsorge kommt.
Einladung zur Trauerfeier in zwei Monaten, eine Sammelbestattung. Man solle
bitte nicht filmen und fotografieren. Es ist noch nicht vorbei. Ich gehe
zum Frauenarzt. „Wie geht es Ihnen?“ Wenn Sie nicht fragen, ganz gut. „Ich
bin stabil“, sage ich. Ob ich schlafen könne, fragt er. Immer, sage ich.
Ich bereue es nicht. Ich habe getan, was ich konnte.
Ist es, weil ich am Anfang der Schwangerschaft getrunken habe? Eine Laune
der Natur, sagt der Arzt. 300 Schwangerschaften betreut er jährlich. So
unübersehbare Auffälligkeiten habe er drei bis vier Mal im Jahr, und die
würden eigentlich immer zum Abbruch führen. Meist wären sie mit
Chromosomen-Anomalie diagnostiziert. So eine hohe Nackenfaltentransparenz
könne man nicht ignorieren.
Professor Henrich hat gesagt, dass auffällige Föten oft nicht eindeutig
diagnostiziert werden können. Aber die meisten Eltern bekommen eine
Diagnose, sagte er. Und er habe in 20 Jahren nicht erlebt, dass die
Pathologie, wenn sie sich die Kinder anschaut, was in Deutschland aus
gesetzlichen Gründen nur auf Wunsch der Eltern passiert, hinterher sagt,
das Kind sei gesund gewesen. Wenn es keinen starken Grund gäbe, würde kein
Arzt den Abbruch durchführen.
Nach neun Wochen fahre ich wieder ins Krankenhaus. Der Chefarzt hat viele
Blätter in der Hand, die Obduktionsergebnisse. Die großen Zysten wurden
gefunden. Die hohe Stirn, das kleine Kinn. Dazu noch ein flacher
Hinterkopf, ein tiefer Ohransatz links. „Diskrete Hinweise auf eine
syndromale Erkrankung“. Welche? Unklar. Genetischer Befund? Unauffällig.
„Sie haben keinen Fehler gemacht, da war schon was bei dem Mädchen.“
Mädchen? „Ja, XX-Chromosomen.“ Aber es war doch ein Junge? „In dem früh…
Entwicklungsstadium schwer zu erkennen, die Klitoris könnte besonders groß
gewesen sein, vielleicht auch ein Hinweis auf eine Krankheit.“ Okay, danke.
Auf Wiedersehen.
Mein Mädchen. Elf Blatt Papier mehr.
22 Oct 2017
## AUTOREN
Laura Ewert
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