# taz.de -- Lebensbedrohliche Schwangerschaft: Hölle und Hilfe | |
> Alina Ebadi und Jana Tietz verloren ihre ungeborenen Kinder. Beide hatten | |
> das Hellp-Syndrom, auch Schwangerschaftsvergiftung genannt. | |
Bild: Bilder von Narben – die sichtbaren Male dessen, was die beiden Frauen d… | |
Als Alina Ebadi ihr Handy klingeln hört, weiß sie sofort, dass ihre | |
Freundin dran ist, ihre Leidensgenossin. Die beiden Frauen nennen nur ihre | |
Namen und fangen an zu weinen. Das Gespräch dauert nicht lange, aber es ist | |
für beide gut. Die Erleichterung, die es verschafft, den Trost. Dann | |
schicken sie sich noch Bilder ihrer Bauchnarben – die sichtbaren Male | |
dessen, was sie durchlebt haben. | |
Die Namen der beiden Frauen sind geändert. Sie haben sich unter traurigen | |
Umständen gefunden, aber ihre Verbundenheit, sagen sie, reicht über die | |
erlebten Qualen hinaus. | |
Beide haben ihr Kind vor der Geburt verloren. Dass sie am Hellp-Syndrom, | |
das umgangssprachlich auch Schwangerschaftsvergiftung heißt, litten, wurde | |
zu spät diagnostiziert. Das Wort Hellp kommt aus dem Englischen und ist aus | |
den Anfangsbuchstaben der Symptome zusammengesetzt: Hämolyse, erhöhte | |
Leberwerte und niedrige Thrombozyten. Im Akronym stecken aber auch die | |
englischen Worte „hell“ und „help“ – Hölle und Hilfe. | |
Alina Ebadi ist 32 Jahre alt, als sie ihre Tochter in der 35. Woche | |
verliert und selbst dem Tod nur knapp entrinnt. Mehr als vier Jahre ist das | |
nun her. | |
Dabei fing alles harmlos an, ihre Schwangerschaft, sagt sie, sei | |
„bilderbuchhaft“ verlaufen. Und nicht nur die, auch ihre Beziehung mit | |
ihrem Partner, den sie erst an Weihnachten im Jahr zuvor in einem Club | |
kennengelernt hatte und bei dem sie gleich „eine große Sicherheit“ verspü… | |
habe. Eine Woche lang wichen sie sich nicht von der Seite und verbrachten | |
einen romantischen Silvesterabend in den Schweizer Bergen. Einen Monat | |
später ist sie bereits schwanger. Beide sind verliebt, beide wollen eine | |
Familie gründen. Aber [1][die Diagnose] der Präeklampsie und die Eskalation | |
zum Hellp-Syndrom verändern alles. | |
## Die Symptome | |
Im siebten Monat bekommt Ebadi angeschwollene Extremitäten und Ödeme im | |
Gesicht. Ihre Frauenärztin schickt sie mit Verdacht auf Präeklampsie ins | |
Krankenhaus, ohne Erhärtung des Verdachts. Wenige Wochen später wird die | |
Präeklampsie aber doch diagnostiziert, der Blutdruck ist gestiegen und im | |
Urin werden erhöhte Eiweißwerte gefunden – alles Symptome eines Syndroms, | |
das man früher auch als Schwangerschaftsvergiftung bezeichnete. Wenn es | |
sich verschlimmert und zum Hellp-Syndrom wird, besteht akute Gefahr, das | |
Kind und das eigene Leben zu verlieren. Nur die Geburt des Kindes durch | |
einen Kaiserschnitt kann das verhindern. | |
Der Gynäkologe Jürgen Wacker, ärztlicher Direktor der Frauenklinik | |
Bruchsal, ist Experte auf diesem Gebiet und bezeichnet Präeklampsie und vor | |
allem das Hellp-Syndrom als eine „seltene, aber große Gefahr für Mutter und | |
Kind“ in der Schwangerschaft. | |
Alina Ebadi wird nach ihrer Diagnose in ein anderes Krankenhaus zur | |
besseren Überwachung überstellt. Dort klagt sie am Abend über starke | |
Oberbauchschmerzen, ein weiteres Indiz für das Hellp-Syndrom. Verzweifelt | |
krallt sie sich am Bettgestänge fest. Ihr Partner, müde von einer | |
Nachtschicht, ist auch anwesend und versucht sie zu beruhigen. | |
Er habe, sagt er, die Situation überhaupt „nicht einordnen“ können und si… | |
„ausgeliefert“ gefühlt; dann, spät nachts, sei die Lage „plötzlich | |
gekippt“. Obwohl sich die Laborwerte verschlechtern, die Patientin unter | |
starken Schmerzen leidet und sich die Indizien für das Hellp-Syndrom | |
häufen, kommt die Ärztin nicht zur Einschätzung einer Lebensgefahr für Kind | |
und Mutter. Als sie erneut die Herzschläge des Kindes abhört, stellt sie | |
fest, dass es gestorben ist. | |
Dann geht alles blitzschnell: Das Bett wird mit fliegenden Rädern in den OP | |
geschoben, um wenigstens das Leben von Alina Ebadi zu retten. | |
Notkaiserschnitt, Multiorganversagen, Hirnblutungen – drei Operationen sind | |
notwendig, um sie zu stabilisieren. Vierzehn Tage liegt Ebadi im | |
künstlichen Koma, acht Wochen im Krankenhaus, ihr Überleben steht auf | |
Messers Schneide. Ihr Partner und ihre Familie weichen nicht von ihrer | |
Seite. | |
## Es dauert lange | |
Aus dem Krankenhaus entlassen, zieht sie mit ihrem Partner in das Haus | |
seiner Eltern. Die physische Genesung dauert Monate, das [2][Verarbeiten | |
des Verlusts] Jahre, vielleicht ein Leben lang. Erst jetzt, nach vier | |
Jahren, sagt Ebadi, spüre sie wieder etwas von ihrer „alten Identität“. | |
Durch den Verlust ihres Kindes sei sie „in Scherben zerfallen“ und die | |
Dinge, die ihr danach noch wichtig waren, habe sie mühevoll „zu einem | |
Mosaik zusammengefügt“. Sie habe lange Zeit niemanden treffen wollen, | |
manche Freundschaften seien „zerbröckelt“, neue, unverhoffte, fanden sich. | |
Die Beziehung zu ihrem Partner wird durch den gemeinsamen Verlust enger und | |
gleichzeitig fällt es den beiden schwer, sich in dieser traumatischen | |
Situation besser kennenzulernen, alles ist ein Minenfeld. Sie machen eine | |
Paartherapie, die ihre Gefühle einander begreiflicher machen soll. Er | |
stellt seine Bedürfnisse zurück und kümmert sich um ihre Genesung, regt sie | |
zum Essen an, holt einen Hund ins Haus, der für Bewegung, Abwechslung und | |
Lebendigkeit sorgt. | |
Ihre Beziehung, die mit einem großen Knall begonnen hat, aber so gut wie | |
keine normale Zeit erfährt, gerät in schwieriges Fahrwasser, jeder kämpft | |
mit seiner eigenen Trauer, seinen eigenen verworrenen Gefühlen. Am Ende | |
jedes Streits raufen sie sich aber zusammen. Alina Ebadi kämpft in den | |
Jahren nach dem Verlust mit ihrem Inneren, stellt sich der Angst, erneut | |
die Kontrolle zu verlieren. Manchmal, sagt sie, habe sie das Gefühl gehabt, | |
„in die Klapse gehen zu müssen“. | |
Sie stellt sich auch dem Hass auf die Ärztin, der sie totales Versagen | |
vorwirft, und den Neidgefühlen auf andere Mütter, die es geschafft haben, | |
ein gesundes Baby zur Welt zu bringen. Sie liest und recherchiert – über | |
das Hellp-Syndrom, über Mütter, denen das Gleiche widerfahren ist wie ihr. | |
Aber sie wird nicht fündig. Bis sie eines Tages Jana Tietz über einen | |
Onlineartikel findet. | |
## Eine Seelenverwandte | |
Die Parallelen zwischen Jana Tietz und Alina Ebadi sind vielfältig. Auch | |
Tietz verlor ihr Kind wenige Wochen vor der Geburt und starb dabei fast | |
selbst, Multiorganversagen, Riss in der Leber, drei Operationen, zehn Tage | |
Koma, in dem sie ein Nahtoderlebnis hatte und von alleine erwachte. | |
Einen Tag vor dem Verlust ihres Babys geht Tietz mit ihrem Mann ins | |
Krankenhaus. Sie klagt über Rücken- und Oberbauchschmerzen; auch sie hat | |
Bluthochdruck und erhöhte Eiweißwerte im Urin. Die Ärztin erkennt die | |
Gefahr jedoch nicht und renkt Tietz ein, was, wie nachträglich festgestellt | |
wird, zu einem Riss in der Leberkapsel führt. Dann schickt die Ärztin sie | |
noch zum Tapen in ein anderes Krankenhaus, wo aber zu viel los ist. | |
Am nächsten Morgen ist Jana Tietz gelb angelaufen, für das Baby kommt jede | |
Hilfe zu spät. Als Tietz’ Mann mitgeteilt wird, dass sie das Kind verloren | |
hat, habe sich „ein schwarzer Umhang um ihn gelegt“. Ihm wird gesagt, dass | |
seine Frau sich durch den Leberriss womöglich nicht erholen werde und auf | |
eine Spenderleber hoffen müsse. In Gedanken plant er nicht nur das | |
Begräbnis seines Sohnes, sondern auch das seiner Frau. Sein Arbeitgeber | |
stellt ihn für zwei Monate frei, die er im Krankenhaus an der Seite von | |
Jana Tietz verbringt; die Krankenhausleitung hat ihm eine Bleibe in der | |
Besenkammer eingerichtet. Jana Tietz erholt sich unerwartet wieder. | |
Auch die beiden holen sich nach kurzer Zeit einen Hund, dazu Enten und | |
Hühner. Anders als Alina Ebadi fängt Jana Tietz wieder früh an zu arbeiten, | |
wühlt nicht so tief in ihrem Inneren und versucht, nach vorne zu schauen. | |
Ihre seit dreizehn Jahren andauernde Beziehung zu ihrem Mann und eine | |
Selbsthilfegruppe helfen ihr, die Katastrophe zu bewältigen. Aber auch sie | |
hat ihre Gefühle nicht immer unter Kontrolle. Der Hass auf die Ärztin, die | |
sie eingerenkt hat und dies später vehement bestreitet. Der Neid und der | |
widerspenstige Wunsch, „alle Schwangeren am liebsten umzubringen“. Die | |
Trauer, als auch noch ihr Vater wenige Monate später stirbt. Wie Alina | |
Ebadi will auch Jana Tietz damals „nichts Oberflächliches mehr um sich | |
herum“ haben. | |
## Die neue Schwangerschaft versöhnt | |
Gut anderthalb Jahre nach dieser Erfahrung wird Tietz wieder schwanger. | |
Diesmal kommt ein gesunder Junge zur Welt und versöhnt sie mit ihrer | |
Trauer. Seitdem will sie andere Frauen über das Hellp-Syndrom aufklären, | |
sie lässt ihre Geschichte anonymisiert online veröffentlichen. | |
Durch diesen Text wird Alina Ebadi auf das Schicksal von Jana Tietz | |
aufmerksam. Sie meldet sich bei der Onlineplattform, Tietz ruft sie noch am | |
selben Tag zurück. „Es war so eine große Erleichterung, diesen Menschen | |
gefunden zu haben, der einen versteht“, sagt Alina Ebadi. Sie seien gleich | |
auf einer Wellenlänge gewesen, hätten sich sofort ins Herz geschlossen. Da | |
sei eine „ganz große Vertrautheit“ zu spüren gewesen. | |
Auch Jana Tietz empfindet es so. Sie habe „sofort ein warmes Herz und einen | |
warmen Bauch gehabt“. Wenn sie einen Satz begonnen habe, konnte ihn Alina | |
Ebadi zu Ende bringen. Fortan schreiben sich die beiden Frauen oft oder | |
telefonieren, sie tauschen sich über das Erlebte aus, aber auch über ihre | |
Beziehungen und ganz Alltägliches. „Wir sind sehr komplementär, und das | |
hilft uns beiden“, fasst Alina Ebadi ihr Verhältnis zusammen. Die eine | |
schaut tief nach innen, hadert mit ihrem Schicksal; die andere schreitet | |
forsch voran, in der Hoffnung, dass das Verschüttete nicht eines Tages | |
wieder aufbricht. So helfen sie sich gegenseitig mit ihren | |
unterschiedlichen Perspektiven und Verarbeitungsstrategien. | |
Ein halbes Jahr nach dem ersten Gespräch fahren Alina Ebadi und ihr Mann | |
von Süd nach Nord durch Deutschland, um Jana Tietz und ihre Familie zu | |
besuchen. Es ist ihre erste persönliche Begegnung. Ihre Freundschaft wird | |
noch enger. | |
Dass Jana Tietz ein gesundes Kind zur Welt gebracht hat, schmerzt Alina | |
Ebadi nicht, im Gegenteil, es freut sie, was keine Selbstverständlichkeit | |
ist. Vielleicht ist es diese Offenheit und Klarheit zwischen den beiden | |
Frauen, die es Jana Tietz erlaubt, das schwer Vorstellbare anzusprechen: | |
Alina Ebadi solle keine Angst haben und es noch mal versuchen. | |
4 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Boris Messing | |
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