# taz.de -- Flüchtlingshilfe im Mittelmeer: Wer rettet die Retter? | |
> Die libysche Küstenwache drohte Schiffen europäischer NGOs. Einige | |
> Aktivisten warten jetzt verunsichert im Hafen von Valletta. | |
Bild: Die libyische Küstenwache verfolgt ein Rettungsschiff mit zwei Beibooten | |
VALLETTA taz | Es ist 15.42 Uhr am vergangenen Sonntag, die Sonne scheint | |
auf die sandhellen Felsen von Valletta, der Geruch von Diesel und Salz | |
steigt aus dem flaschengrünen Wasser auf, als die „Golfo Azzurro“ in das | |
südliche Hafenbecken einbiegt, umkreist von signalroten Beibooten, als | |
führten diese einen Begrüßungstanz auf. Kameraleute klappen an der Kaimauer | |
ihre Stative aus, einer lässt eine Drohne aufsteigen. Langsam dreht sich | |
das Schiff um die eigene Achse und legt seitwärts an. Mehrere Menschen | |
stehen vor der Gangway, und als die Crew über das scheppernde Blech steigt, | |
umarmen sie sie, wie Verschüttete, die aus einem Bergwerk zurückkehren. | |
Fast zwei Dutzend Mal war die „Golfo Azurro“ seit Dezember für die | |
spanische NGO Proactiva Open Arms unterwegs; 6.561 Lebende und 47 Tote barg | |
die Besatzung aus dem Wasser. Zuletzt rückte sie vor fünf Tagen von Malta | |
aus. Dann geschah das, was viele hier befürchtet hatten. | |
Eine Entführung sei es gewesen. „Was denn sonst, wenn Waffen im Spiel | |
sind?“, sagt Ricardo Gatti, 39, früher Sozialarbeiter auf Mallorca, heute | |
Kommandant der „Golfo Azzurro“. Als das Schiff am Kai liegt, hockt er im | |
Schatten an Deck, die Sonnenbrille hochgeschoben. | |
Am 15. August kommt die „Golfo Azzurro“ in die Nähe der libyschen Küste. | |
Seit dem Morgen verfolgt sie die „C Star“; ein Schiff, das die | |
rechtsextreme Identitäre Bewegung gechartert hatte, um die Arbeit der | |
Seeretter zu stören. „Sie funkten uns an, behaupteten, wir seien in | |
libyschen Gewässern, und sollten umkehren“, sagt Gatti. Dabei sei die | |
„Golfo Azzurro“ 27 Meilen von der Küste entfernt gewesen – also in | |
internationalen Gewässern. | |
## Die Libyer wollen an Bord | |
Gegen 17 Uhr erreicht sie ein Boot der libyschen Küstenwache. Auf Fotos ist | |
dessen Kennung „654“ zu sehen – es ist eines der insgesamt sechs Schiffen | |
der Bigliani-V-Baureihe, die Italien Libyen in den letzten Jahren übergeben | |
hatte. Es fährt zur „Golfo Azzurro“. Gatti ruft die Besatzung unter Deck | |
zusammen. | |
Die Libyer drehen bei, Männer mit Gewehren sind an Bord, sie melden sich | |
per Funk, auf Englisch. Sie verlangen eine „Autorisierung“ der libyschen | |
Regierung. „Wir haben so was nicht und brauchen das auch nicht“, erwidert | |
Gatti. Die Libyer wollen an Bord, Gatti lehnt das ab. Dann fordern die | |
Libyer, die „Golfo Azzurro“ solle ihnen folgen. Nach Tripolis. „We will | |
target you“, drohen sie – sonst schießen wir, berichtet Gatti. Die „Golfo | |
Azzurro“ folgt. „Uns war klar: Wenn wir erst mal in Libyen sind, ist unser | |
Schiff weg“, sagt Gatti. | |
An Bord ist auch die Richterin Lola Galovart, eine Abgeordnete der | |
Sozialisten aus Galizien. Sie und Gatti rufen über ein Satellitentelefon | |
das spanische und italienische Verteidigungsministerium an, das | |
Hauptquartier der EU-Marinemission Eunavfor Med, den Assistenten des | |
EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani. Nach etwa einer Stunde stoppen die | |
Libyer schließlich. Die „Golfo Azzurro“ soll nach Norden abdrehen. „‚K… | |
ihr wieder, schießen wir‘, sagten sie“, berichtet Gatti. | |
Es ist der zweite Vorfall dieser Art in wenigen Tagen. Am 8. August hatten | |
sich die Libyer auf ihrem Boot „654“ einem anderen Rettungsschiff von | |
Proactiva Open Arms genähert. Ein Video zeigt, wie die Küstenwächter mit | |
einem Maschinengewehr in die Luft feuern, offensichtlich, um die | |
Seenotretter zu vertreiben. Auch dieser Vorfall, so versichert Gatti, habe | |
sich in internationalen Gewässern ereignet. | |
## Einige NGOs haben ihre Arbeit eingestellt | |
Acht NGOs, die Hälfte aus Deutschland, haben Schiffe ins zentrale | |
Mittelmeer geschickt. Etwa 40.000 der rund 103.000 Flüchtlinge und | |
Migranten, die seit Anfang 2017 nach Italien kamen, wurden gerettet. „Wir | |
stören die EU sehr, aber wir gehen nicht weg. Also schicken sie jetzt die | |
Libyer“, sagt Gatti. | |
Nach den beiden Konfrontationen zwischen Proactiva Open Arms und der | |
libyschen Küstenwache haben drei der NGOs ihre Arbeit vorerst eingestellt. | |
Drei weitere können nicht arbeiten, weil ihre Schiffe nicht einsatzfähig | |
oder beschlagnahmt sind. | |
Nach Informationen der taz ging vor einigen Tagen bei der Internationalen | |
Seeschifffahrts-Organisation IMO in London ein Brief der libyschen | |
Regierung ein. Darin zeigt diese an, ab jetzt für Notfälle in der südlichen | |
Hälfte des Seegebiets zwischen Libyen und Italien zuständig zu sein. So ist | |
es international üblich. Bislang war Libyen dazu allerdings nicht imstande, | |
weshalb Italien die Hilfseinsätze bis an die Grenze der 12-Meilen-Zone vor | |
Libyen koordinierte. Damit soll nun Schluss sein. „Kein fremdes Schiff hat | |
das Recht, unerlaubt in dieses Gebiet einzudringen“, sagte Abdelhakim | |
Bouhaliya, Kommandeur der Küstenwache in Tripolis. Genau das ist höchst | |
strittig: Die Verantwortlichkeit für die Rettungen verleiht nicht das | |
Recht, Schiffe auf hoher See zu vertreiben oder gar aufzubringen. | |
Die Libyer aber sehen das anders. Und so gleicht das Hafenbecken auf Malta, | |
in das die „Golfo Azzurro“ eingelaufen ist, an diesem Sonntag einem | |
Wartesaal: Die riesige „Vos Hestia“ von Save the Children liegt neben der | |
waldgrünen kleinen „Sea Eye“ der gleichnamigen NGOs aus Regensburg. Die | |
„Open Arms“ dümpelt im Schatten eines turmhohen TUI-Kreuzfahrtschiffs, und | |
ganz am Ende liegen nebeneinander die „Golfo Azzurro“, die „Sea Watch 2“ | |
und die „Sea Watch 3“. Keiner hier weiß, wie es nun weitergeht. | |
Klaus Stadler ist Freizeitskipper, Unternehmensberater und | |
Führungskräftecoach aus Nürnberg. Er beriet Manager von Thyssen-Krupp, | |
Beiersdorf und Eon, nach Malta kam er als freiwilliger Kapitän der „Sea | |
Eye“. Kurz vor der Ankunft der „Golfo Azzurro“ sitzt er an Deck und trinkt | |
Sprite aus einem Plastikbecher. Seine Mission ist vorerst abgesagt. „Die | |
Drohungen der libyschen Küstenwache waren ja manifest.“ | |
Dennoch will Stadler das Schiff in Bereitschaft halten, damit es innerhalb | |
von 24 Stunden auslaufbereit ist. „Wie eine Feuerwehr“, sagt er. Aber bevor | |
er wieder ausrückt, „bräuchten wir eine klare Aussage der Europäer und der | |
Libyer, dass sie geltendes Seerecht anwenden“. | |
## EU unterstützt libysche Küstenwache finanziell | |
Ähnlich sehen es Save the Children und Ärzte ohne Grenzen (MSF). Deren | |
Schiff „Prudence“ wartet im Hafen von Catania. „Dass Elemente der libysch… | |
Küstenwache sich auf NGOS fokussieren, ist nicht neu“, sagt | |
MSF-Einsatzleiterin Marcella Kraay. „Aber es hat zugenommen.“ | |
Denn für die Libyer ist viel zu holen. Eine Million Euro hat die | |
Küstenwache im Februar aus Brüssel bekommen, weitere 116 Millionen hat die | |
EU für andere Maßnahmen gegen Migration aus dem Land bewilligt. Am 22. | |
Februar ging in Brüssel eine „Bedarfsliste“ der Libyer ein: 130 Boote und | |
Schiffe wollen diese von der EU, vom 10 Meter langen | |
„Festrumpfschlauchboot“ bis zum 100 Meter langen „Hochseepatrouillenboot�… | |
Die Wünsche würden von EU und Bundesregierung „geprüft“, sagte | |
Innenstaatssekretärin Emily Haber am 8. Mai. | |
Nicht alle der Aktivisten wollen warten. Auf dem neuen Schiff „Sea Watch 3“ | |
der gleichnamigen NGO aus Berlin werkeln Freiwillige. „Wir sind Mitte | |
September auslaufbereit“, sagt Joshua, ein junger Deutscher. Unter anderem | |
werde „ganz viel Kameraüberwachung installiert, rundum“, sagt er. „Mit d… | |
Libyern gab es unangenehme Zwischenfälle, man kann ohne die Kameras nicht | |
losfahren. Die Libyer behaupten dann sonst was.“ | |
Auch bei Konfrontation mit der „Sea Watch“ hatte die libysche Küstenwache | |
geschossen, Flüchtlinge zur Rückkehr nach Libyen gezwungen. Bei einem | |
Zwischenfall im November seien über zwei Dutzend Flüchtlinge ertrunken, so | |
Sea Watch. Die NGO hat Anzeige erstattet und eine Petition gestartet: EU | |
und Bundesregierung sollen die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache | |
beenden. | |
## Einige Aktivisten wollen abwarten, andere nicht | |
Neben der „Sea Watch“ steht Theo Molle, Anfang 20, Hotelfachangestellter | |
aus Dresden, an Deck eines Kutters. Seit 2016 hat der Verein Mission | |
Lifeline aus Dresden Geld gesammelt, am vergangenen Freitag kaufte er das | |
Schiff, einige Freiwillige reparieren es nun. Mitte September soll die | |
„Lifeline“ auslaufbereit sein. „Libyen ist natürlich für uns der | |
unkalkulierbare Faktor“, sagt Molle. „Aber den Start zu verschieben stand | |
nicht zur Debatte. Wir halten uns an geltendes Recht und sind unbewaffnet.“ | |
Die Gesetzeslage sei klar, sagt Molle: „Die Libyer verbieten uns, in | |
internationale Gewässer zu fahren. Das dürfen sie nicht.“ Er setzt darauf, | |
dass die EU ihnen dies klarmacht. „Wenn die denen Geld und Waffen gibt, ist | |
sie ja mitverantwortlich für das, was sie tun.“ | |
So wollen einige der Aktivisten abwarten, andere setzen auf Glück, auf | |
Technik, auf die EU – und wieder andere auf das Militär. „Sobald unsere | |
neue Crew an Bord ist, laufen wir wieder aus“, sagt Ricardo Gatti, der | |
Einsatzleiter von Proactiva Open Arms. Gatti hat sich an die spanische | |
Marine gewandt. Deren Kriegsschiff „Victora“ sei schließlich vor Libyen im | |
Anti-Schlepper-Einsatz. „Wir sind Spanier und Europäer, die haben uns auf | |
hoher See zu beschützen“, sagt er. | |
24 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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