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# taz.de -- Besuch einer KZ-Gedenkstätte: Dahin gehen, wo es wehtut
> Mancher meint, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme sei kein Ort für Menschen
> mit Behinderungen. Ein Sozialpädagoge fährt trotzdem mit seinen Gruppen
> dorthin.
Bild: Eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen besucht die KZ-Gedenkstätte N…
HAMBURG taz | Für zwei Besucher, die im Rollstuhl sitzen, endet der Weg
schon am Rand des Geländes, auf dem einmal die Holzbaracken standen. Sie
bleiben zurück. Vor ihnen liegt grober Schotter, über den sie nicht fahren
können. Die Fußgänger in der Gruppe bremst dieser Untergrund. Nur langsam
können die Teilnehmer der Führung das Gelände überqueren, auf dem einmal
die Baracken der Häftlinge standen.
Die beiden im Rollstuhl hören nicht, was ihr Besucherguide an der
ehemaligen Fäkaliengrube erzählt: Dass die SS die Männer, die dort Dienst
taten, selten anging. Schlichtweg, weil die Menschen ihren Bewachern zu
sehr gestunken hätten. „Lasst uns wieder zu den anderen gehen“, sagt
Sozialpädagoge Carsten Schmid-Diercks. Er und seine Gruppe kommen aus einer
Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in Bad Oldesloe in
Schleswig-Holstein. Dabei sind Menschen mit körperlichen und mit geistigen
Einschränkungen. Zusammen besichtigen sie heute die KZ-Gedenkstätte
Neuengamme.
Von zwei Seiten umrahmen zweistöckige Häuser aus roten Ziegelsteinen das
Barackengelände, das einst zu dem Konzentrationslager gehört hatte. Da, wo
die Gefangenenbaracken aus dünnem Holz waren, markieren aufgeschüttete rote
Steine ihre Umrisse. Mit solchen Symbolen veranschaulicht die Gedenkstätte
die Dimensionen, die dieses Lager hatte. Und seine Härte. Außerhalb des
Barackengeländes sind grüne Wiesen und Bäume zu sehen. Hier aber gibt es
nur das Rot und das Grau. Es ist still und es nieselt. Regungslos hört
Carstens Gruppe ihrem Guide zu. Die Eintönigkeit der Farben, die
erdrückende Größe des Geländes – das alles schlägt auf die Stimmung der
zwölf Besucher. Während sie über das ehemalige KZ-Gelände gehen, reden sie
nur wenig miteinander.
In einer Ausstellung sind Gegenstände aus der Lagerzeit zu sehen, genau wie
graue Bücher, in denen die Lebenswege einzelner Lagerinsassen beschrieben
werden. Birte, ein Mädchen mit Down-Syndrom aus Schmid-Diercks Gruppe,
fängt an zu weinen, als sie auf eines der Bücher blickt. Der Name, der
draufsteht, habe sie an ihren Großvater erinnert, erzählt sie später. Ein
Betreuer nimmt sie in den Arm. Schmid-Diercks nickt, schaut traurig. „Ja,
so ist das“, sagt er leise mit norddeutschem Dialekt. Es wirkt, als
überraschten ihn die Tränen nicht.
Carsten Schmid-Diercks ist Ende 60, eigentlich im Ruhestand und arbeitet
als freier Mitarbeiter bei den Stormarner Werkstätten in Bad Oldesloe. An
seiner schwarzen Weste hat er einen gelben Greenpeace-Button angebracht. Er
trägt eine abgenutzte rote Radfahrer-Kappe. Schon zum siebten Mal sei er
hier, erzählt er. Mit der Zeit sei es für ihn selbst etwas leichter
geworden, diesen bedrückenden Ort zu ertragen. Beim ersten Mal habe er es
hier kaum ausgehalten, sagt er.
Manchmal wird er für die Ausflüge in die KZ-Gedenkstätte kritisiert:
„Belastet diese Menschen doch nicht damit“, sei ein Argument, das oft
komme, sagt Schmid-Diercks. Aus seiner Sicht gibt es aber keinen Grund
dafür, nicht mit Menschen mit Behinderungen hierher zu fahren. Er hält es
für wichtig, dass sie sich mit der Shoah auseinandersetzen. Bei den
Nationalsozialisten galten auch Menschen mit Behinderungen als „nicht
lebenswert“ und wurden massenhaft getötet.
Zu viel auf einmal möchte Schmid-Diercks seiner Gruppe von diesem Ort nicht
zumuten. Deshalb fahren sie zweimal hierher und bleiben jeweils einen
halben Tag. Er finde das gut, meint Olaf, ein Mitglied der Gruppe.
„Als es vorhin um die Einzelschicksale ging, habe ich dicht gemacht. Das
vorher war schon genug für einen Tag“, sagt er. Der Mann in den Vierzigern
ist groß und trägt ein blaukariertes Hemd mit kurzen Ärmeln. Er sei
„Psycho“, erzählt er später. Olaf arbeitet normalerweise in einer
Montagewerkstatt für Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Er ist
reflektiert und hat eine klare politische Haltung: „Man muss aufpassen,
dass es so etwas wie hier nicht wieder gibt“, sagt er. Die Gefahr bestünde
aber. Erst vor Kurzem habe es in Bad Oldesloe eine Demonstration von
Rechtsextremen gegeben, sagt Olaf. Er sei froh, dass viele
Gegendemonstranten da gewesen seien.
„Auch unter Menschen mit Behinderungen gibt es Rassisten“, sagt Betreuer
Schmid-Diercks. Das sei der Grund gewesen, weshalb er vor einigen Jahren
einen ersten Ausflug in die Gedenkstätte veranstaltete. Er wollte ihnen
zeigen, wozu Rassenhass in Deutschland schon einmal geführt hat. In seiner
Einrichtung sei das Interesse an dem Ausflug viel größer gewesen, als er
erwartet hatte. Viele wollten mit. Aus dem Grund fahren sie jetzt
regelmäßig mit unterschiedlichen Gruppen hierher.
Das Gelände in der Nähe von Bergedorf misst einen halben Quadratkilometer,
so viel wie 50 Fußballfelder. In dem Lager und den dazugehörenden
Außenlagern wurden 42.900 Menschen ermordet: Erschossen, vergast oder
erhängt von der SS, getötet durch Zwangsarbeit für Unternehmen wie den
Waffenproduzenten Walter.
Von den vielen Schulklassen, die hierherkommen, unterscheidet sich
Schmid-Diercks Gruppe vor allem durch die Ruhe, mit der sie sich bewegt.
Auch die Schüler scheint der Ort zu beeindrucken. Auch sie gehen leise über
das Gelände, reden nur gedämpft. Viele von ihnen entfliehen aber zwischen
den Stationen in Gespräche über Handyspiele.
„Das hier ist eine besondere Gruppe“, hatte Schmid-Diercks am Anfang
gesagt. Besonders auffällig ist sie jedoch nicht. Anders als eine Gruppe,
die dadurch auffällt, das ihr Guide ein Fähnchen mit dem Markenzeichen der
„Oceania Cruises“ in der Hand hält. Die Gruppe Amerikaner kommt von einem
Kreuzfahrtschiff, das im Hamburger Hafen festgemacht hat. Das Fähnchen
wirkt hier wie aus einer anderen Welt.
Das, was es verspricht – Urlaub, Entspannung und Luxus – passt nicht zu
dem, was der Besucherguide erzählt: Dass in dem Lager vor allem Männer
getötet wurden. Und dass es auch medizinische Versuche gegeben habe. Der
Mann berichtet von den „Kindern vom Bullenhuser Damm“. Für Versuchszwecke
wurden zwanzig Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren in Neuengamme
mit Tuberkulose infiziert. Kurz vor Kriegsende erhängte die SS sie in einer
nahegelegenen Schule. Ungläubig und schockiert schüttelt eine Frau aus der
Kreuzfahrt-Gruppe ihren Kopf. Sie ist den Tränen nah.
Das Lager wurde genau hier errichtet, weil es in der Nähe eine Ziegelei
gab. Mit den dort produzierten Steinen wurde eine größere Ziegelei gebaut,
neben der dann wiederum das Lager Neuengamme errichtet wurde. Viele der
darin inhaftierten Menschen mussten in der Ziegelei schuften – oft bis zum
Tod.
Die roten Ziegelsteine waren auch das Baumaterial für die Klinkerbaracken,
die das Lager einrahmen. Dort gibt es in einem Gruppenraum Nudeln mit roter
Bolognese-Soße für die Gruppe aus Bad Oldesloe. Schmid-Diercks nutzt diese
geschützte Atmosphäre, um auch darüber zu sprechen, wie die
Nationalsozialisten mit Menschen mit Behinderungen umgegangen sind. Der
Besucherguide der Gruppe – ein Pastor – erzählt, dass die
Nationalsozialisten auch Menschen mit Behinderungen töten ließen. Bei der
sogenannten Aktion T4 wurden mehr als 70.000 Menschen umgebracht.
Die Gruppe hört schweigend zu. Schlimm sei das und mit nichts zu
vergleichen, sagt Olaf schließlich. Laut ihm darf man dabei aber eines
nicht vergessen: Dass auch vor und nach den Nazis Menschen mit Behinderung
lange schlecht behandelt wurden. Gleichberechtigung sei für sie auch heute
noch nicht in allen Bereichen umgesetzt worden. Was er damit meint, wird
auch im Gespräch mit der Pressesprecherin der Gedenkstätte deutlich: Sie
sagt, erst seit Kurzem kämen häufiger Gruppen wie die von Schmid-Diercks in
die KZ-Gedenkstätte.
Am frühen Nachmittag steigen die Bad Oldesloer in graue Busse, die sie nach
Hause bringen. Im Nieselregen verlassen sie diesen grau-roten Ort. Sie
werden wiederkommen.
14 Aug 2017
## AUTOREN
Lennart Banholzer
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Sozialarbeit
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