Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Klischees über Sinti und Roma: „Ich habe mir eine Wut angefresse…
> Dotschy Reinhardt ist Musikerin und eine entfernte Verwandte von Django
> Reinhardt. Der erstarkende Nationalismus von AfD und Co. trieb sie in die
> Politik.
Bild: Beeinflusst von US-amerikanischen Jazz und Bossa Nova: Die Musikerin Dots…
taz: Frau Reinhardt, zunächst muss ich Sie nach Ihrem Familiennamen fragen.
Sind Sie verwandt mit dem Musiker Django?
Dotschy Reinhardt: Ich habe keinen direkten Familienzweig zu ihm, aber wir
gehören zur selben Großfamilie. Django Reinhardt war mütterlicherseits ein
Reinhardt und väterlicherseits auch ein bisschen. Er war somit ein
deutscher Sinto, seine Mutter kam aus dem Elsass. Ich habe auch
Verwandtschaft im Elsass. Das ist unser Link.
Nun ist ja eines der vielen Klischees über Sinti und Roma, dass sie so
musikalisch sind. Sie sind auch zuerst als Musikerin bekannt geworden. Wie
kam das?
Natürlich sind nicht alle Sinti und Roma musikalisch. Das sind auch bei uns
Einzelfälle. Solche Klischees sind Trugbilder und haben selten mit der
Realität zu tun. Sie lenken im Gegenteil vom harten Leben ab, das Sinti
und Roma heute noch haben. Andererseits haben sich bei mir persönlich alle
diese Klischees bestätigt: Ich bin musikalisch, liebe die Natur und meine
Familie über alles, ich sehe sogar so aus mit den dunklen, langen Haaren!
Daher ist der Umgang mit solchen Klischees sehr schwierig für mich, auch
für andere Sintizas oder Romnija. Ich will von diesem Schubladendenken weg.
Ich möchte mit meiner eigenen Stimme sprechen und singen dürfen. Und nicht
irgendwelche Rollenbilder ausfüllen, nur weil es besser für die
Verkaufszahlen wäre oder einem Veranstalter besser ins Programm passt.
Sie meinen, manche wünschen sich von Ihnen mehr „typische Gypsy-Musik“? Das
kommt ja in Ihrer Musik durchaus vor, aber eben auch Pop und Bossa Nova.
Es gibt ja Bands, die traditionelle Musik wie die von Django oder
Schnuckenack Reinhardt nachspielen. Ich finde es gut, dass diese Tradition
bewahrt wird. Aber mein Weg war das nicht. Ich bin mit amerikanischem Jazz
aufgewachsen und mit brasilianischem, vor allem Bossa nova, habe mich früh
mit indischer Musik auseinandergesetzt. Und wollte über diese Grenzen
hinaus Musik machen. Das ist meine musikalische Identität, die ich ausleben
wollte. Und auch sonst: Ich lasse es mir eben nicht nehmen, mal weite,
bunte Röcke zu tragen, die Natur zu lieben und auch mal mit dem Wohnwagen
rumzufahren. Aber ich werde mich bestimmt nicht in Zigeunerklischees
pressen lassen!
Auf Ihrem Debütalbum singen Sie an einer Stelle auf Sinti-Romanes: „Es
gibt nichts Schöneres, als auf Reisen zu sein / Bei deiner Familie; beim
Lagerfeuer zu sein.“ Dann ist das nicht nur ein Klischee, Sie machen das
tatsächlich?
Na ja, es sind eher Kindheitserinnerungen. Früher fuhr man wirklich im
Sommer raus mit anderen Familien. Wir pachteten Plätze bei Bauern oder
hatten bestenfalls einen Campingplatz, der auch Sinti anfahren ließ. Viele
Campingplatzbesitzer haben das nicht gemacht und Sinti mit fadenscheinigen
Gründen oder auch offen rassistisch abgelehnt. Dennoch: Es war eine
wunderschöne Zeit. Für Kinder ist es ja toll, in der Natur und mit anderen
Kindern zu spielen. Aber ich habe auch andere Bilder im Kopf: dass wir mal
mitten in der Nacht den Platz räumen mussten, weil irgendwelche Neonazis
dachten, sie müssten uns verjagen.
Das haben Sie erlebt?
Ja, in Ostdeutschland, bei Rostock irgendwo. Am Tag drauf fuhren wir mit
den Wohnwagen auf einer breiteren Straße, und nebenher fuhren wieder die
Neonazis und haben mit Steinen geschmissen. Wir Kinder mussten uns bücken
in den Autos, um uns zu schützen. Das waren richtig große Steine, sie
fuhren vielleicht zwei Kilometer lang neben uns her, bis ihre Steine alle
waren. Gott sei Dank ist nichts passiert.
Sie sind in Ravensburg nahe dem Bodensee aufgewachsen. Wie war Ihre
Kindheit jenseits der Ferien?
Die Vorschulzeit habe ich oft bei meinen Großeltern verbracht, in
Ummenwinkel. Das war im Nationalsozialismus ein sogenanntes
Zigeunerzwangslager gewesen: ganz primitive Baracken ohne sanitären
Anschluss, ohne Heizung, umzäunt. Die Erwachsenen wurden zur Arbeit
gezwungen, permanent gab es Razzien, später wurden viele Familien nach
Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg sind einige Überlebende in die
Siedlung zurückgekehrt.
Und Ihre Eltern?
Mein Vater war Geigen- und Antiquitätenhändler, meine Mutter hat ihm
geholfen. Für mich war es wunderbar in Ummenwinkel, ich wusste ja nichts
über die grausame Geschichte des Ortes. Es gab viele Tiere, das Kleinvieh
meiner Großeltern, ich durfte einen Hund haben.
Haben Ihre Großeltern schon in der Nazizeit dort gelebt?
Mein Großvater ist dort aufgewachsen, er hat das alles als kleiner Junge
miterlebt. Meine Großmutter kam in den Nachkriegsjahren dorthin, sie haben
in den frühen 50ern geheiratet.
Viele Sinti und Roma erzählen ja ihren Kindern gar nicht, dass sie einer
Minderheit angehören, um sie vor Diskriminierung zu schützen. Wie war das
bei Ihnen?
Jedes Kind hat ja erst einmal ein normales Ich-Empfinden. Man hinterfragt
nicht: Was bin ich? Erst als ich eingeschult wurde, habe ich gemerkt, dass
ich anders wahrgenommen werde. Und natürlich hatte ich meine Eigenheiten,
die sicher nicht geholfen haben, mich zu integrieren: Ich liebte den Jazz
von Kindesbeinen an, und ich war wie eine Puppe angezogen. Meine Mutter hat
mir und meiner kleineren Schwester immer tolle, schicke Kleider genäht.
Sie wurden schräg angeschaut in der Schule?
Ja, und ich habe dort auch zum ersten Mal das Wort „Zigeuner“ gehört – u…
zwar gleich mit dem Zusatz: „Du dreckige Zigeunerin!“ Ich wurde zuerst ganz
schön gemobbt. Es war zeitweise eine ziemliche Überwindung, hinzugehen. Zu
Hause hatte man mir nie klargemacht, dass ich einer Minderheit angehöre.
Man hatte mir nur beigebracht, ein paar Sätze auf Deutsch zu reden.
Sie haben zu Hause Romanes gesprochen?
Ja, und das mache ich bis heute. Meine Schwester war da schon immer
offener. Sie war auch besser integriert, weil sie im Kindergarten war und
viel besser Deutsch sprach, als sie zur Schule kam. Kinder in den
Kindergarten zu schicken kostete Sinti-Eltern damals große Überwindung: Das
Misstrauen gegen staatliche Stellen aller Art war nach der Erfahrung des
Nationalsozialismus sehr groß.
Auch Ihre Familie hat im Holocaust viele Mitglieder verloren. In Ihrem
ersten Buch schreiben Sie, dass diese Geschichte aber – wie in vielen
Sinti-Roma-Familien – ein Tabu war.
„Tabu“ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber meine Großeltern
konnten nicht darüber reden. Meine Großmutter hatte miterleben müssen, wie
ihre ganze Familie auseinandergerissen und inhaftiert wurde. Sie war ein
kleines Kind und musste trotzdem harte Zwangsarbeit leisten. Ihr Vater –
mein Urgroßvater – und sein Sohn wurden durch verschiedene Lager
geschleppt: Dachau, Sachsenhausen, Neuengamme. In Mauthausen sollte es mit
meinem Urgroßvater zu Ende gehen, er war schon in der Gaskammer. Da riss
ein SS-Mann die Tür auf und fragte, ob da Musiker seien. Mein Urgroßvater
konnte Geige spielen und meldete sich. Man hat ihn rausgeholt, in Kleider
gesteckt und auf einer Naziparty spielen lassen. Das war seine Rettung.
Sein Sohn hat das KZ leider nicht überlebt.
All dies haben Sie erst später erfahren?
Ja, darüber wurde nie gesprochen, erst recht nicht vor den Kindern.
Trotzdem wusste jeder, dass man den „Gadsche“, den Nichtroma, nie trauen
kann, vor allem den Behörden nicht. So bin ich aufgewachsen, das hat uns
meine Großmutter als Matriarchin – sie war früh verwitwet – immer
klargemacht: Da draußen, das ist der Feind! Also bleibt zusammen. Sie war
einfach traumatisiert, konnte das nie aufarbeiten.
Wie kamen Sie eigentlich von Ravensburg nach Berlin?
Mein Mann bekam 2003 einen Job als Sänger beim Swing Dance Orchestra von
Andrej Hermlin. Ich habe mir dann hier wieder Musikerkontakte gesucht, bin
zu Sessions gegangen, habe weiter Songs geschrieben. Aber die Inhalte
meiner Lieder waren anderer Art als in Ravensburg, viel politischer. Ich
habe den Geist der Stadt irgendwie aufgenommen. Ich habe auch angefangen,
als Autorin zu schreiben, zum Beispiel für den Zentralrat der Sinti und
Roma. Dann kam dieser Verlag und bot mir Unterstützung an für das Buch über
meine Familiengeschichte. Das war toll. Da hatte ich ja viel mehr Platz als
in Artikeln und Songtexten. Auch wenn ich anfangs natürlich Angst hatte,
das nicht zu schaffen, zumal bei diesem schwierigen Thema. Später kam dann
das zweite Buch. Da ging es mehr ums Hier und Jetzt: um das Gypsy-Label und
wie es verwendet wird.
Sie meinen „Zigeunerschnitzel“ und so?
Ja, es geht um solch tief verwurzelten Antiziganismus, aber auch um
Kapitalisierung und Labeling. Der Begriff „Gypsy“ hat ja ein richtiges
Lifestyle-Image bekommen, auch in der Lebensmittelindustrie. Wobei ich es
bei der Firma Maggi geschafft habe, dass sie ihre „Zigeuner“-Produkte aus
dem Programm genommen hat. Dabei habe ich nur einmal mit der Zentrale in
Geislingen telefoniert: Ich wollte nur eine Information. Bei dem Gespräch
haben sie aber wohl was kapiert und das von sich aus gemacht. Vorbildlich!
Sie haben in Berlin angefangen, Politik zu machen, sind in die SPD
eingetreten. Gab es dafür einen bestimmten Anlass?
Da ging es mir wie vielen: Dieser aufkommende Nationalismus in Europa hat
mir Sorge gemacht. Die Gründung der AfD, Pegida, die ganzen Pappnasen – das
ging mir so gegen den Strich! Ich habe mir so eine Grundwut angefressen.
Und wieder hat das Medium nicht gereicht. Die Liedtexte hatten nicht
gereicht, da schrieb ich Bücher – jetzt reichten die Bücher nicht mehr, um
politisch wirklich etwas zu bewegen. Und da ich wusste, dass mein
Urgroßvater, der KZ-Überlebende, der ein großes Vorbild für mich ist, in
die SPD eingetreten war, habe ich es ihm gleichgetan. Zwar hatte ich lange
eine richtige Abneigung gegen Parteien. Aber inzwischen weiß ich:
Demokratie muss ausgefüllt, praktiziert werden, sonst ist sie tot.
9 Feb 2017
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Sinti und Roma
Jazz
Sachsen
Sinti und Roma
Sozialarbeit
Sinti und Roma
Wochenvorschau
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
Bundesgerichtshof
## ARTIKEL ZUM THEMA
Roma in Sachsen: Es brennt in Plauen
In Sachsen brennen hintereinander zwei Häuser, in denen Roma wohnen.
Zufall, sagt die Staatsanwaltschaft. Wirklich?
Verfolgung von Sinti und Roma: Gestern ist heute und morgen
Am 16.12. vor 75 Jahren wurde die Deportation der Sinti und Roma nach
Auschwitz angeordnet. Der Höhepunkt einer Verfolgung, die bis heute
andauert.
Besuch einer KZ-Gedenkstätte: Dahin gehen, wo es wehtut
Mancher meint, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme sei kein Ort für Menschen mit
Behinderungen. Ein Sozialpädagoge fährt trotzdem mit seinen Gruppen
dorthin.
Porajmos und Abschiebepolitik: Gedenken – und abschieben
In Hamburg wird der Gedenkort „Hannoverscher Bahnhof“ eingeweiht, von hier
wurden Sinti und Roma deportiert und vernichtet. Politische Folgen hat das
heute nicht mehr.
Die Wochenvorschau für Berlin: Viel Leid, viel Lied
Das bringt die Woche: ein Konzert für Deniz Yücel und alle anderen
eingesperrten Journalisten, eine Ausstellung zu Berlin 1937 und eine
leidige Debatte.
Einsatz gegen Antiziganismus in Berlin: Senat will Vertrag mit Sinti und Roma
Mit einem Rahmenvertrag will Rot-Rot-Grün die Integration von Sinti und
Roma voranbringen. Vorbild ist Baden-Württemberg.
Symposium in Karlsruhe: BGH schämt sich für Antiziganismus
Bei einer Tagung mit dem Zentralrat der Sinti und Roma wurden rassistische
Urteile des Bundesgerichtshofs aus den 1950er Jahren aufgearbeitet.
Ein Besuch bei einer Sinti-Musiker-Familie aus Wilhelmsburg: Die Erweckung der …
Die Hamburger Linie der berühmten Musikerfamilie Weiss wohnt in einer
Siedlung in Wilhelmsburg. Sie hat dort sogar eine eigene Kirche: die
"Gemeinde der Geborgenheit". Der junge Saxofonist Kako Weiss erzählt, wie
er aus der Familientradition ausbrach - und wie er reumütig zu ihr
zurückkehrte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.