| # taz.de -- Aufarbeitung auf der Bühne: Keine „Siegerjustiz“ | |
| > Vor 70 Jahren endete der Prozess der Alliierten gegen die Täter des KZ | |
| > Neuengamme. Politkünstler Michael Batz hat aus den Akten ein | |
| > Dokumentarstück destilliert | |
| Bild: Heute eine Bühne der Aufarbeitung: Der Gerichtssaal im Curiohaus 1946 | |
| HAMBURG taz | Sie haben fünfjährige Kinder erhängt, Kriegsgefangene | |
| vergast, KZ-Häftlinge geprügelt, erschossen oder durch Injektionen getötet: | |
| Jede Art von Gewaltverbrechen haben im KZ Neuengamme jene SS-Leute verübt, | |
| die vor 70 Jahren im Hamburger Curiohaus vor Gericht standen. Dieses | |
| Verfahren ging zwar weniger laut durch die Presse als die | |
| Curiohaus-Prozesse gegen Aufseherinnen des KZ Ravensbrück, das größte | |
| Frauenlager des NS-Regimes, humaner war das KZ Neuengamme aber nicht. | |
| Dies allerdings suggeriert bis heute der Mythos vom nicht ganz so braunen | |
| Hamburg. Und hätten die britischen Alliierten, die das KZ Neuengamme 1945 | |
| sauber und bar jeder Spur vorfanden, nicht so akribisch recherchiert – es | |
| hätte die 190 Curiohaus-Prozesse nie gegeben, denen jetzt ein | |
| dokumentarisches Theaterstück des Künstlers Michael Batz am | |
| Originalschauplatz nachspürt. | |
| Vor 70 Jahren endeten diese Kriegsverbrecherprozesse, bei denen es sowohl | |
| um Befehlende als auch um „Direkttäter“ ging. Verhandelt wurde dabei nur | |
| über Verbrechen gegenüber alliierten Bürgern. Verbrechen gegenüber | |
| Deutschen überließ man hiesigen Gerichten. Denn die Briten wollten keine | |
| „Siegerjustiz“, als deren Opfer sich die Deutschen trotzdem jahrzehntelang | |
| fühlten. | |
| Im Curiohaus angeklagt wurde im März 1946 etwa Bruno Tesch, Chef der Firma | |
| Tesch & Stabenow, der das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B für die | |
| Gaskammern des KZ Auschwitz lieferte. Tesch wusste davon und wurde zum Tod | |
| verurteilt. | |
| ## Ein Stück mit 13 Schauspielern | |
| Der erste speziell auf Neuengamme bezogene Hauptprozess kurz darauf | |
| richtete sich gegen 14 SS-Offiziere und Aufseher des KZ Neuengamme. Die | |
| Verhandlungen endeten am 3. Mai 1946 – „nicht zufällig exakt ein Jahr nach | |
| der Kapitulation Hamburgs“, sagt Batz. Er hat zum 70. Jahrestag ein | |
| Stimmenoratorium aus Passagen der Prozessprotokolle destilliert, die 13 | |
| Schauspieler am Originalschauplatz lesen werden. | |
| Das Curiohaus im illustren Hamburger Stadtteil Harvestehude, wo Künstler in | |
| den 1920er-Jahren wilde Feste feierten, gehört der Lehrergewerkschaft GEW, | |
| die den Saal heute für Events vermarkten lässt. Für die Curiohaus-Prozesse | |
| hat man das Haus gewählt, weil es eins der wenigen großen Gebäude war, die | |
| nach dem Krieg noch intakt waren. Und wenn man heute durch das lichte | |
| Jugendstil-Treppenhaus in den dunkel getäfelten Saal geht, ahnt man die | |
| Bedrückung, die dort geherrscht haben muss, als Ex-KZ-Häftlinge detailliert | |
| gegen ihre Peiniger aussagten. | |
| Die wiederum plädierten auf nicht schuldig; auch Lagerkommandant Max Pauly | |
| sprach von „Befehlsnotstand“, wollte Gewalt nicht bemerkt und schon gar | |
| nicht die Ermordung von 20 Kindern am Neuengammer Nebenlager Bullenhuser | |
| Damm befohlen haben. | |
| ## „Mangels Beweisen“ eingestellt | |
| Begangen haben sie kurz vor Kriegsende – nach schmerzhaften Experimenten | |
| mit TBC-Bakterien und kaum betäubten Organ-Entnahmen – unter anderem die | |
| Lagerärzte Kurt Heißmeyer und Alfred Trzebinski sowie Arnold Strippel und | |
| Johann Frahm. Trzebinski und Frahm wurden im Curiohaus zum Tode verurteilt, | |
| Heißmeyer praktizierte bis zu seiner Verhaftung 1959 unbehelligt. Strippel | |
| konnte zunächst untertauchen. Nach dem Krieg wurde er zwar angeklagt, doch | |
| die Staatsanwaltschaft Hamburg stellte die Ermittlungen 1967 „mangels | |
| Beweisen“ ein. | |
| Viele Neuengammer Hauptverantwortliche haben die Briten aber gefasst, und | |
| das sei überhaupt das Entscheidende an den Curiohaus-Prozessen, sagt Alyn | |
| Beßmann, Wissenschaftlerin der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: „Dass die | |
| britischen Alliierten Lagerhierarchie und Verbrechen in Neuengamme so gut | |
| rekonstruiert haben und genau wussten, wen sie vor Gericht stellen | |
| mussten.“ | |
| Dass die folgenden Verhandlungen nicht nur betont sachlich, sondern auch | |
| hoch effektiv verliefen, hing mit einem eigens geschaffenen Zweig | |
| britischer Militärgerichtsbarkeit zusammen, den Royal Warrant Courts. Ihnen | |
| zufolge reichte die Mitwirkung im verbrecherischen KZ-Lagersystem für eine | |
| Verurteilung aus; die individuelle Tat musste nicht zwingend nachgewiesen | |
| werden. Das führte allein im ersten Neuengammer Hauptprozess vom März 1946 | |
| zu elf Todesurteilen und drei Haftstrafen. | |
| ## 35 Prozesse, 128 Angeklagte | |
| Insgesamt hat es 35 britische Neuengamme-Prozesse gegeben; 108 Männer und | |
| 20 Frauen standen dabei vor Gericht. Die Hamburger Staatsanwaltschaft | |
| dagegen habe, sagt Beßmann, „in 70 Jahren zehn Personen vor Gericht | |
| gestellt“. Zudem hat die deutsche Justiz erst in den 1990er-Jahren – die | |
| meisten Täter waren tot oder hochbetagt – begonnen, Täter für | |
| „organisatorische Mitverantwortung“ zu verurteilen statt für schwer | |
| nachweisbare Einzeltaten. | |
| Dieser lange praktizierte implizite Täterschutz entsprach der Stimmung in | |
| der Bevölkerung, die das NS-Regime breit mitgetragen hatte und auch an den | |
| Curiohaus-Prozessen nur mäßig interessiert war. „Die Deutschen wollten das | |
| damals nicht hören“, sagt Reimer Möller, Archivar der KZ-Gedenkstätte | |
| Neuengamme. Und sie nahmen Abstand. Presseberichte von 1946 etwa zeichnen | |
| die Angeklagten stets mit – auch floskelhaft-verbaler – Distanz als | |
| Einzeltäter, die „Entsetzliches“ verbrochen hätten. | |
| Dass diese SS-Leute Teil des noch ein Jahr zuvor gesamtgesellschaftlich | |
| getragenen NS-Regimes waren, schrieben Hamburger Echo und Hamburger | |
| Nachrichten-Blatt damals nicht. Im Gegenteil, man hatte Verständnis, wenn | |
| SS-Arzt Trzebinski die Bullenhuser Morde um der Familie und der Karriere | |
| willen und im Übrigen auf Befehl begangen haben wollte. | |
| Dass ein solcher Befehl aber nicht bindend war, zeigt der Fall Fritz | |
| Bringmann. Er war als kommunistischer Widerstandskämpfer seit 1940 im KZ | |
| Neuengamme und den Mitgefangenen später als „Funktionshäftling“ überstel… | |
| 1942 weigerte er sich erfolgreich, den Befehl zur Vergasung sowjetischer | |
| Kriegsgefangener auszuführen. | |
| „39 Tage Curiohaus“: Montag, 11. April, 19 Uhr, Curiohaus, | |
| Rothenbaumchaussee 13. Eintritt: 5 Euro (Abendkasse). Reservierungen unter | |
| [email protected] | |
| 8 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Neuengamme | |
| Aufarbeitung | |
| NS-Gedenken | |
| Neuengamme | |
| Sozialarbeit | |
| Auschwitz | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Auschwitz | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ralph Giordanos Bücher jetzt öffentlich: Die Bibliothek eines Mahners | |
| Seit heute zeigt die KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Bücher des in Hamburg | |
| geborenen Publizisten und Holocaust-Überlebenden Ralph Giordano. | |
| Besuch einer KZ-Gedenkstätte: Dahin gehen, wo es wehtut | |
| Mancher meint, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme sei kein Ort für Menschen mit | |
| Behinderungen. Ein Sozialpädagoge fährt trotzdem mit seinen Gruppen | |
| dorthin. | |
| Musik von Nazi-Opfern: „Nicht nur gesessen und geweint“ | |
| Das Hamburger Musikfest präsentiert in seinem Schwerpunkt „Überlebensmusik�… | |
| Komponisten vor allem aus dem einstigen Getto Theresienstadt. | |
| Wissenschaftler über Täterkinder: „Gegen das Schweigen“ | |
| Täterkinder und -enkel kommen in dem neuen Buch der KZ-Gedenkstätte | |
| Neuengamme ebenso zu Wort wie Wissenschaftler. Das ist eine fruchtbare | |
| Kombination. | |
| Wer im Nazi-Reich mitgemacht hat: Die Täter von nebenan | |
| In Hamburg gibt es erstmals in Deutschland eine Datenbank mit NS-Tätern und | |
| -Ermöglichern, die auch Straßennamen enthält. | |
| Auschwitz-Prozess in Neubrandenburg: Vorwand Verhandlungsunfähigkeit? | |
| Die DDR-Justiz hätte den 95jährigen Hubert Zafke schon vor Jahrzehnten | |
| anklagen können. Erst jetzt, im Februar 2016, kommt er vor Gericht. | |
| Lebensläufe: Spielräume unterm Hakenkreuz | |
| Was möglich war im Fußball während der Nazi-Zeit, fragt eine Ausstellung in | |
| Hamburg. Sie erzählt von Tätern, Zwangsarbeitern und Juden. |