# taz.de -- Satire in der Türkei: Lachen als Indiz für Terror | |
> Die Ausstellung „Schluss mit lustig“ in Kassel dokumentiert Karikaturen | |
> seit den Gezi-Protesten 2013. Mittlerweile sind die Künstler | |
> vorsichtiger. | |
Bild: Ausschnitt des Buch-Covers | |
Auf einer Titelbildzeichnung der Satirezeitschrift LeMan vom Oktober 2015 | |
wird der „Flüchtlingsdeal“ dargestellt: Erdoğan als altorientalischer | |
Sultan, dem sich Angela Merkel in Sachen Dresscode anpasst. | |
Wie sieht es heute mit der Satire in der Türkei aus? Angesichts der | |
gegenwärtigen politischen Situation dürfte einem Teil der Bevölkerung das | |
Lachen vergangen sein. Insbesondere Medienschaffenden, Oppositionellen wie | |
auch Karikaturisten, denn die Meinungsfreiheit ist akut bedroht. | |
Hierzulande wenig bekannt ist, dass in der Türkei Satirezeitschriften seit | |
Jahrzehnten sehr beliebt sind, einige von ihnen zeitweise sogar | |
Millionenauflagen erlebten. Auch wenn diese Blütezeit passé ist, gibt es | |
immer noch zahlreiche Satiremagazine, die trotzig der Regierung die Stirn | |
bieten. | |
Am 20. Juli eröffnete in der Kasseler Caricatura-Galerie die Ausstellung | |
„Schluss mit lustig. Aktuelle Satire aus der Türkei“. Die Kuratorin, die | |
Journalistin und Fernsehdokumentaristin Sabine Küper-Büsch, hat auch das | |
gleichnamige Begleitbuch verfasst, das im Avant Verlag erschienen ist. Sie | |
lebt und arbeitet seit 1992 in der Türkei. Früh entdeckte sie die reiche | |
Kultur der türkischen Satirezeitschriften, die sich qualitativ nicht hinter | |
ihren europäischen Verwandten wie Charlie Hebdo, Fluide Glacial oder | |
Titanic zu verstecken brauchen. Sie enthalten vorwiegend Karikaturen, aber | |
auch Comics, die in der Türkei immer beliebter werden. Sabine Küper-Büsch | |
kuratierte erstmals 2008 eine Frankfurter Ausstellung zum Thema und | |
publizierte das Buch „Die Nase des Sultans“ (Dağyeli Verlag), das die | |
Historie der türkischen Karikatur seit dem 19. Jahrhundert behandelte. Das | |
neue Buch und die Kasseler Ausstellung nehmen die gezeichneten Satiren von | |
den Gezi-Protesten 2013 bis heute in den Fokus. | |
Bis zum Putsch vor einem Jahr beherrschte Erdoğan ungezählte Titelbilder | |
der Magazine Uykusuz, LeMan oder Penguen. Seitdem sind die Magazine | |
vorsichtiger geworden. Der „Führer“ Erdoğan (türkisch „Reis“, wie Er… | |
in seiner Bewegung genannt wird) wird zwar weiterhin auf die Schippe | |
genommen, aber nicht mehr auf der Titelseite, da ansonsten weitere | |
Verhaftungen von Zeichnern zu befürchten sind. Dennoch: An brisanten Themen | |
mangelt es den Zeichnern weiterhin nicht. | |
## An Biss haben die Karikaturen nicht verloren | |
In nüchtern klarem Stil bringt Cem Dinlenmiş (in Penguen, Sept. 2015) die | |
Eskalation der Gewalt in Südostanatolien auf den Punkt, wo während der | |
monatelangen Ausgangssperren zahlreiche Zivilisten durch das rücksichtslose | |
Verhalten des Militärs ums Leben kamen. Wie vergessen sitzt ein alter Mann | |
inmitten der Ruinen seines Hauses und wird von Soldaten auf die | |
Ausgangssperre aufmerksam gemacht. Auf den Wänden der umgebenden Ruinen | |
wird per Graffiti auf zahlreiche zivile Opfer hingewiesen. | |
An Biss haben die Karikaturen nicht verloren: Während des Referendums zum | |
Präsidialsystem im April setzte die Regierungspartei sogenannte | |
Dorfschützer in Wahllokalen des Südostens ein, um Bürger daran zu hindern, | |
mit Nein zu stimmen – offiziell heißt es, um die PKK an Manipulationen zu | |
hindern. Der Zeichner Sefer Selvi überspitzte diese Maßnahme nur subtil, | |
indem er Dorfschützer zeichnet, die Behinderten die Rollstühle wegnehmen, | |
damit sie nicht am Referendum teilnehmen (LeMan, April 2017). | |
Nicht zuletzt werden Karikaturen in der Türkei auch als Mittel der | |
Propaganda genutzt. So wird vor allem im Internet und in sozialen Medien | |
zugunsten der AKP agitiert, etwa in einer Zeichnung, die Can Dündar, den | |
damaligen Chefredakteur von Cumhuriyet, als sensationsgeilen Journalisten | |
diffamiert, der ein Selbstmordattentat in Auftrag gibt. | |
## Fantastische oder surreale Comics und Graphic Novels | |
Die Repression hat Spuren hinterlassen. Die beklemmende Situation seines | |
Berufsstandes hat den Zeichner Bahadır Baruter, der 2015 wegen einer | |
Erdoğan-Karikatur zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde (die dann in | |
eine Geldstrafe umgewandelt wurde), in mehreren meisterhaft surrealen | |
Schwarzweißzeichnungen festgehalten. In einer versinkt er mit seiner | |
Zeichenhand im trüben Strudel seines Blattes. In einer anderen hängt er mit | |
dem Kopf nach unten, in Ganzkörperbandage über dem Blatt. Cem Dinlenmiş | |
spitzt die Situation der Zeichner in fiktiven Zeitungsmeldungen („Hier ist | |
alles möglich“ in Penguen vom November 2016) pointiert zu: ein | |
„Zeichenbrett wurde per Fernzünder gesprengt“ und die „Identität der | |
Lachenden festgestellt“. Lachen – als ein Indiz für Terrorismus. | |
Das Buch enthält auch manche Zeichnung, die in der Ausstellung aus | |
Rücksicht auf eine mögliche Gefährdung der Künstler nicht gezeigt wird. | |
Auch wenn die Anzahl der Magazine geschrumpft ist, gehen viele Zeichner | |
ästhetisch neue Wege, entwickeln längere, oft fantastische oder surreale | |
Comics und Graphic Novels, die in unterschiedlichen Zeichenstilen das | |
politische Geschehen widerspiegeln. Das geschieht heute vorwiegend | |
verschlüsselt, indem sie metaphorisch-mehrdeutige Bilder finden, die über | |
das Tagesgeschehen hinausweisen. | |
Ein beeindruckendes Beispiel ist der Comic „Das zweite Gesicht“ von Ersin | |
Karabulut (aus Uykusuz, 2017), der in einer grausamen, aber genialen | |
Selbstverstümmelungsmetapher die Perversion einer konformistischen | |
Gesellschaft thematisiert – und lange nachwirkt. | |
31 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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