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# taz.de -- Comic über Abenteuer in Grönland: Ein unrasierter Wanderer
> Hervé Tanquerelles Comic „Grönland Vertigo“ basiert auf einer Reise des
> Zeichners an den Polarkreis. Stilistisch ähnelt er dem Klassiker „Tim und
> Struppi“.
Bild: Harmlos und von Unsicherheiten geplagt: Georges Benoît-Jean im Comic „…
Die Irritation ist groß. Beim schnellen Blick auf das Comicregal im
Buchladen bleibt das Auge am Cover eines unbekannten neuen Albums hängen.
Der Einband sieht genauso aus wie die französischen Hardcover-Alben des
„pfiffigen Reporters“, das muss also ein neues „Tim und Struppi“-Album
sein! Endlich. Ein Abenteuer vor nordischer Kulisse. Seit Jahrzehnten hofft
man darauf. Das Einzige, was auf dem Cover fehlt, ist Tim. Samt Struppi.
Wäre auch zu schön gewesen. Schließlich ist Hergé, Tims Schöpfer, lange
tot. Eigentlich hätte man es wissen müssen: Die Hauptfigur auf dem Cover
ist dunkelhaarig, trägt Schnauzbart und ist schlecht rasiert – sowas hätte
der 1983 verstorbene belgische Comiczeichner selbst Kapitän Haddock nie
gestattet.
Der Franzose Hervé Tanquerelle, Zeichner und Autor des neuen Comics
„Grönland Vertigo“, hat geschickt Hergés klaren Zeichenstil (die von Joost
Swaarte in den 1970er Jahren so getaufte „Ligne claire“) als grafische
Referenz für seine Geschichte über eine Schiffsreise ausgewählt. Nicht nur
ist das Album von vorne bis hinten (fast) genauso gezeichnet wie ein
Tim-Comic, auch die abenteuerliche Expedition ist ein typisches Motiv, das
Hergé wiederholt aufgriff.
Der 1972 geborene Tanquerelle war in seiner Heimatstadt Nantes Mitbegründer
des „Maison Fumetti“, das sich der Förderung der Comic-Kultur widmet, und
Chefredakteur einer eigenen Comiczeitschrift. Als Comiczeichner ist er vor
allem durch seine Fortführung von Joann Sfars Serie „Professor Bell“
bekannt geworden, außerdem durch den Krimi „Die falschen Gesichter“ (mit
David B) sowie das Antik-Epos „Die Diebe von Karthago“ (Szenario Apollo),
die hierzulande allesamt im Avant Verlag erschienen sind.
Stilistisch wie inhaltlich sind diese Werke sehr verschieden. Der Zeichner
scheint es vorzuziehen, seine Handschrift dem jeweiligen Thema
unterzuordnen. Nur seine Charaktere haben etwas gemein: die schauen meist
grimmig drein. Sympathisch sind sie selten, oft sind sie egoistisch,
kriminell, von Gier getrieben, innerlich verroht.
Da ist Georges Benoît-Jean, der unrasierte Wanderer vom Titelblatt, doch
eher ein harmloser Geselle, der, von lauter Unsicherheiten geplagt, sich
zur Identifikation mit dem Leser anbietet. Er ist ein mäßig erfolgreicher
Comiczeichner (sein Name ist aus verschiedenen Zeichner-Vorbildern
Tanquerelles zusammengesetzt), der nach Ideen für ein neues Comicszenario
sucht, bislang aber nur durch Adaptionen der arktischen Reiseberichte des
dänischen Autors Joern Freuchen respektable Verkaufszahlen erzielen
konnte.
## Tiefgekühlter Schnaps
Eines Tages wird der sensible Franzose eingeladen, an der Seite Freuchens
und eines Teams aus Seeleuten, Wissenschaftlern und Künstlern eine Reise zu
den Fjorden im Nordosten Grönlands zu unternehmen. Der sonst wenig
Reisefreudige springt über seinen eigenen Schatten und willigt ein.
Unterwegs macht er die Bekanntschaft mit dem misanthropischen finnischen
Künstler und Hauptsponsor der Reise, Ville Hakkola, der am Zielpunkt der
Reise eine monumentale Installation auf einem Eisberg errichten will.
Georges’ Reise auf dem Schoner „Aurora“ wird allmählich zu einer
Belastungsprobe. Der ängstliche Zeichner spürt, dass er inmitten von
nordischen Seeleuten und Naturburschen eher ein Außenseiter ist, der sich
fernab der Zivilisation hilflos den Naturgewalten ausgeliefert fühlt. Der
Reiseschriftsteller Freuchen wiederum ist weniger an der Reise interessiert
als an gutem „tiefgekühlten“ Schnaps. Und der vermeintlich große Künstler
entpuppt sich als paranoider Freak und Leuteschinder.
Hervé Tanquerelles vorwiegend realistisch gezeichneter wie erzählter Comic
(die Hintergründe sind überzeichnete Fotografien) basiert auf einer selbst
erlebten ähnlichen Reise von 2011, auf der der Zeichner zusammen mit seinem
Kollegen Gwen de Bonneval den dänischen Schriftsteller Joern Riel
begleitete, dessen populäre Arktis-Berichte sie zuvor adaptiert hatten.
Lange gärte es in Tanquerelle, bis er in einer Fiktion die richtige Form
fand, um die eindrücklichen Erlebnisse in einen Comic zu verwandeln. Die
Ereignisse hatten Tanquerelle an das „Tim und Struppi“-Abenteuer „Der
geheimnisvolle Stern“ erinnert, in der es ebenfalls um eine Expedition in
die Arktis ging, und so fand er es nur schlüssig, sich auch stilistisch an
diesem Comicklassiker zu orientieren.
Dem Autor Joern Riel setzte er zugleich mit der Figur des Joern Freuchen
ein liebevolles Denkmal. Die cholerisch-egozentrische Rolle des Künstlers
Ville Hakkola kann man als Kritik an manchen hoch bezahlten Exponenten der
heutigen Kunstproduktion deuten, die sich immer weiter vom Rezipienten
entfernen, um ihre Ideen zu verwirklichen.
Die teils lebensnahen, teils skurrilen Charaktere trösten über die etwas
dünne Handlung hinweg, die nicht die Raffinesse eines Hergé erreicht, aber
durch Authentizität überzeugt. So ist „Grönland Vertigo“ vor allem ein
vergnügliches, anspielungsreiches Reiseabenteuer, dessen stimmungsvolle
Bilder von unbewegter See und Gebirgen beim Leser haften bleiben – nicht
zuletzt auch durch Isabelle Merlets einfühlsame Kolorierung, in der tiefe
Blau- und Rottöne vorherrschen. Unaufdringlich wird hier eine Natur
gefeiert, deren Bedrohung subtil mitschwingt.
12 Sep 2017
## AUTOREN
Ralph Trommer
## TAGS
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