# taz.de -- Klassische chinesische Literatur: Kriegsherren, Dämonen und Ganoven | |
> Erstmals komplett in deutscher Übersetzung: die beiden großen | |
> China-Klassiker „Die Reise in den Westen“ und „Die Drei Reiche“. | |
Bild: Die Han-Dynastie ist ein Fall für Archäologen – und Geschichtenerzäh… | |
Mao Zedong liebte sie beide: „Die Drei Reiche“ wie auch „Die Reise in den | |
Westen“. Der eine Klassiker schildert den Untergang der Han-Dynastie, der | |
andere eine Reise zu den Quellen des Buddhismus. Der eine erzählt eine | |
historisch-politische Geschichte, der andere von einer spirituellen Suche. | |
Im Privaten soll sich Mao mit dem mutig-subversiven Affenkönig der „Reise | |
in den Westen“ identifiziert haben, aus den „Drei Reichen“ aber hat er | |
seinen Soldaten im chinesischen Bürgerkrieg sogar vorgelesen. Denn darin | |
wird eine Vielzahl von Listen durchgespielt, die es auch dem Schwachen | |
ermöglichen, den Sieg davonzutragen. Und genau das wollte Mao, der sich | |
seiner militärischen Unterlegenheit gegenüber Chiang Kai-sheks gut | |
ausgerüsteten Nationalisten wohl bewusst war. | |
Noch heute orientieren sich chinesische Politiker an den „36 Strategemen“, | |
die in den „Drei Reichen“ durchgespielt werden, heißt es. Doch auch in der | |
Bevölkerung sind die Klassiker weithin bekannt – ob als dicke Bücher oder | |
in unterhaltsamen Adaptionen als Comic, Oper oder Computerspiel. Das ist | |
übrigens keineswegs anrüchig, besitzen beide Geschichten doch einen | |
historisch verbürgten Kern, um den Geschichtenerzähler auf den Märkten | |
jahrhundertelang ihre narrativen Girlanden wanden. Erst um 1600 herum | |
wurden diese Erzählcluster in ihre bis heute bekannte romanhafte Form | |
gebracht. | |
„Die Drei Reiche“ erzählen vom Untergang der Han-Dynastie um 200 nach | |
Christus. Das Imperium zerfällt und zersplittert in drei kleinere Reiche. | |
Dieser offenbar naturgegebene politische Rhythmus, den schon der erste Satz | |
des fast 1.700 Seiten starken Romanwerks erfasst, beunruhigt die | |
chinesische Führung bis heute: „Die Geschichte lehrt, dass die Macht über | |
die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie | |
lange geeint war, geteilt werden muss.“ | |
## 1.000 handelnde Figuren | |
Die Han-Dynastie war ein geeintes Reich und währte immerhin rund 400 Jahre. | |
Dann aber kamen zum Aufruhr im Land ein paar üble Palastintrigen, sodass | |
der Han-Kaiser abdanken musste. Bitterlich weinend zog er sich in seine | |
Gemächer zurück, wie es wohl etwas verharmlosend in dem ansonsten nicht | |
eben zimperlichen Roman heißt. Wer aber sollte die Nachfolge des | |
Han-Kaisers antreten? | |
Dazu fühlten sich gleich drei Kriegsherren berufen, sodass das Imperium in | |
drei Teilreiche zerfiel: das Reich Wei im Norden, das Reich Wu im Südosten | |
und das Reich Shu im Südwesten. Zwischen diesen dreien ging es dann etwa | |
achtzig Jahre lang hin und her: Allianzen wurden geschmiedet oder | |
aufgekündigt, Listen erdacht und Überfälle geplant. Davon erzählt der | |
streng chronologisch angelegte Roman „Die Drei Reiche“ in voller | |
Ausführlichkeit und führt nicht weniger als 1.000 handelnde Figuren ein. | |
Er basiert nicht nur auf mündlicher Überlieferung, sondern auch auf der | |
enorm umfangreichen „Chronik der Drei Reiche“, die im damals zeitnahen 3. | |
Jahrhundert von einem Historiker der die Drei Reiche letztlich wiederum | |
einenden Jin-Dynastie abgefasst wurde. Deshalb kann man den Roman als recht | |
realitätsnah bezeichnen, obwohl er erst im 14. Jahrhundert, also ein | |
Jahrtausend später, zu Papier gebracht wurde. | |
Luo Guanzhong heißt der Autor, der die allseits kursierenden Versionen der | |
Geschichtenerzähler zu einem Werk zusammenband. Ihr erzählerisches Geschick | |
erhielt sich im Episodischen des Romans und in den zahllosen Cliffhangern | |
am Ende eines jeden Kapitels. Wenn etwa ein General wie Guan Yu von einer | |
wilden Reiterbande gestellt wird, endet das Kapitel mit den Sätzen: „Wie | |
Guan Yu schließlich doch noch lebend entkommt, steht im nächsten Kapitel. | |
Hört weiter zu!“ | |
## Oft leichtfüßig und gewandt | |
Im Jahr 1680 erfuhr der Text noch einmal eine kräftige redaktionelle | |
Bearbeitung, wodurch die heute verbreitete und auch von Eva Schestag | |
übersetzte Fassung entstand. Mit ihrer ersten kompletten deutschen | |
Übersetzung hat die Sinologin eine Herkulesaufgabe bewältigt und das | |
chinesische Original in ein flüssiges Deutsch übertragen. | |
Passagenweise klingt dies leichtfüßig und gewandt – da wehen viel Poesie | |
und Humor aus Schestags Worten. Meist aber wollen die Figuren in diesem | |
stark dialoglastigen Text eine politische Situation analysieren oder eine | |
Strategie durchdiskutieren. An diesen Stellen verliert der Text, der | |
größtenteils eben ein politischer ist, naturgemäß an Farbigkeit. | |
Bunter fällt dem gegenüber „Die Reise in den Westen“ aus. Für die | |
Übersetzung dieses ebenso kanonischen China-Klassikers erhielt die | |
Sinologin Eva Lüdi Kong völlig zu Recht den diesjährigen Übersetzerpreis | |
der Leipziger Buchmesse. Es ist ein von der ersten bis zur letzten Seite | |
hinreißendes Buch, das keine politische Geschichte erzählt, sondern ein | |
spirituelles Abenteuer entfaltet. | |
Auf Geheiß des Kaisers sollen buddhistische Schriften aus dem westwärts | |
gelegenen Indien besorgt werden. So machen sich auf den Weg: der | |
fromm-hasenfüßige Mönch Tripitaka, der wild-verwegene Affenkönig Sun | |
Wukong, der lukullisch lüsterne Eber Bajie und der gruselig hässliche | |
Sandmönch. | |
Auf rund 1.300 Seiten sind die vier Getreuen immer wieder neuen | |
Anfechtungen ausgesetzt. Dämonen und Ganoven überfallen sie, das Wetter | |
spielt ihnen übel mit, und auch die Frauen wollen sie ablenken und | |
verwirren. Als sie sich etwa dem Frauenreich Xiliang nähern, ermahnt | |
Tripitaka seinen Affenkönig mit Nachdruck: „Nehmt Euch in Acht! Ihr dürft | |
Euch keinesfalls gehenlassen.“ Und er hat Recht: Als die Frauen die Männer | |
ankommen sehen, rufen sie erfreut: „Menschensamen sind da, Menschensamen!“ | |
Enthaltsamkeit ist also schwierig, aber entschieden geboten. Wenn dann auch | |
noch gekämpft wird, entstehen Episoden voll Dramatik, Spannung und Komik. | |
Besonders interessant wird es, wenn man beginnt, die äußeren Abenteuer als | |
innere Prüfungen der vier Schriftenholer auf dem Weg zur Erleuchtung zu | |
lesen. Dann bekommt der Roman auf einmal eine überraschend psychologische | |
Dimension, deren man sich anfangs noch nicht bewusst ist. | |
Die Reise der vier Indienreisenden basiert – wie auch die Geschichte der | |
„Drei Reiche“ – auf wahren Begebenheiten: Im 7. Jahrhundert machte sich e… | |
Priester namens Xuanzang tatsächlich auf den langen und beschwerlichen Weg | |
nach Indien und kam mit über sechshundert buddhistischen Schriften zurück. | |
Siebzehn Jahre lang soll er unterwegs gewesen sein – übrigens illegal, weil | |
er keine offizielle Erlaubnis hatte, das Reich zu verlassen. Ein unter | |
chinesischen Intellektuellen bis heute bekanntes Problem. | |
Zu Xuanzangs Zeiten war China groß, denn das Land erlebte nach einigen | |
Teilungen gerade eine tangdynastische Periode der Einheit. Die | |
abenteuerliche Reise des mutigen Mönchs inspirierte die Geschichtenerzähler | |
im Land, und so wurden die zahllosen Abenteuer, die er unterwegs erlebte, | |
zu weithin bekanntem und weidlich ausgeschmücktem Erzählgut. Dieses | |
verfestigte sich schließlich in dem Romanepos „Die Reise in den Westen“, | |
das um 1590 niedergeschrieben wurde. Als Autor wird oft der Dichter Wu | |
Cheng’en genannt, was aber so umstritten ist, dass sich die Übersetzerin | |
Eva Lüdi Kong entschlossen hat, den Autornamen wegzulassen. | |
Es ist eine glückliche Koinzidenz, dass diese beiden schwergewichtigen | |
Klassiker der chinesischen Literatur fast zeitgleich in hervorragenden | |
deutschen Komplettübersetzungen erschienen sind. Wunderbar ist auch, dass | |
sie nicht in Spezialverlagen für ostasiatische Literatur publiziert wurden, | |
sondern mit Reclam und Fischer echte Publikumsverlage gefunden haben. So | |
können die spannenden Geschichten der „Drei Reiche“ und der „Reise in den | |
Westen“ weit über sinologische Kreise hinaus Bekanntheit erreichen. | |
4 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Borchardt | |
## TAGS | |
China | |
Mao | |
Französischer Comic | |
Oper | |
Sprache | |
China | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimani: Eine scheinbar perfekte Nanny | |
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani skizziert eine | |
Kindsmörderin. Ihr Bestseller ist auch auf der Buchmesse zu finden. | |
Comic über Abenteuer in Grönland: Ein unrasierter Wanderer | |
Hervé Tanquerelles Comic „Grönland Vertigo“ basiert auf einer Reise des | |
Zeichners an den Polarkreis. Stilistisch ähnelt er dem Klassiker „Tim und | |
Struppi“. | |
Kunstfest in Weimar: Voller Gefühle für das Proletariat | |
Das Leitthema des Weimarer Kunstfestes ist „100 Jahre Kommunismus“. Mit | |
dabei: eine Kantate Sergei Prokofjews und „Malalai“. | |
Evolution der menschlichen Sprache: Nachgeahmtes Quaken | |
Tom Wolfe hat eine eigene Sprachtheorie entwickelt. Demnach kann der Homo | |
sapiens durch seine Sprache die Weltherrschaft übernehmen. | |
Martial-Arts-Film aus Taiwan: Eine lauernde Kämpferin | |
Hou Hsiao-Hsiens „The Assassin“ zeigt eine Killerin im China des 9. | |
Jahrhunderts. So wie die Protagonistin schleicht sich auch die Handlung an. |