# taz.de -- Kunstfest in Weimar: Voller Gefühle für das Proletariat | |
> Das Leitthema des Weimarer Kunstfestes ist „100 Jahre Kommunismus“. Mit | |
> dabei: eine Kantate Sergei Prokofjews und „Malalai“. | |
Bild: Auftakt: 200 Musiker spielen Prokofjews „Kantate zum 20. Jahrestag der … | |
„Gibt es überhaupt etwas in der Geschichte, was nicht Hoffnung auf die | |
Revolution oder Angst vor der Revolution ist?“ – Das fragte sich, durchaus | |
zu Recht, Michel Foucault. Einer Revolution, der Russischen Revolution von | |
1917, gedachte in diesem Jahr auch das Weimarer Kunstfest mit dem Leitthema | |
„100 Jahre Kommunismus“. Für den künstlerischen Leiter, Christian | |
Holtzhausen, hieß das zunächst einmal, „Vergangenheit für die Gegenwart | |
nutzbar zu machen.“ Also darüber reden. | |
Die Veranstaltung begann vergangenen Mittwoch mit einem Donnerschlag: 200 | |
Musiker spielten die „Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution“ – | |
sie wurde 1937 komponiert von Sergei Prokofjew für den sowjetischen | |
Rundfunk („Gostelradio“). Den gehörempfindlichen Zuhörern in der | |
Weimarhalle wurde empfohlen, Oropax bereitzuhalten. | |
Die Kantate war aber gar nicht so laut – und auch nicht so heroisch wie | |
gedacht, eher impressionistisch und unentschieden. Auf der Bühne war ein | |
Maschinengewehr postiert, aber dessen simuliertes Geratter blieb hinter den | |
zwei Harfenistinnen zurück. An zwei Stellen griff der Dirigent Kirill | |
Karabits zum Megafon. Aber man verstand nichts: Alle Worte waren auf | |
Russisch. Aus dem Gesang des Ernst Senff Chors hörte ich nur ein paar Mal | |
das Wort „Kapitalisti“ heraus. Das war wahrscheinlich nicht freundlich | |
gemeint. | |
Aus den einzelnen Partien des Orchesters, das durch das | |
Luftwaffenmusikkorps Erfurt verstärkt wurde, klang Semjon Budjonnys | |
Reiterarmee kurz an, aber auch ein Sommertag auf der Krim (wo Prokofjew | |
eine Datscha besaß), ebenso Wadim Safonows Gärtnerutopie „Die Welt soll | |
blühen“ und „Das Leben ist leichter geworden, das Leben ist fröhlicher | |
geworden“ (das verkündete Stalin 1935). Prokofjews Kantate wurde 1937 nicht | |
ausgestrahlt, sie war wohl nicht vorwärtsstürmend genug. Bei der | |
Uraufführung 1966 wurden wiederum die vom Chor gesungenen Stalin-Zitate | |
weggelassen. | |
Diesmal in Weimar jedoch nicht, dafür folgte auf die Kantate sogleich ein | |
DJ mit zwei Plattentellern und allerhand Elektronik, der einige vom | |
Orchester gespielte Partien verscratcht wiedergab. Ausgedacht hatte sich | |
dieses „Concerto for Turntables & Orchestra“ Prokofjews englischer Enkel | |
Gabriel. | |
## Lenin als armer Fischer | |
Zuvor hatte ich eine massive Ausstellung von 20 Künstlern gesehen, die | |
meisten aus Russland, die in der Galerie ACC eine „Romanze mit der | |
Revolution“ eingegangen waren. So setzte sich der Künstler Petr Belyi in | |
einer Installation mit dem berühmten Bild „Lenin in der Hütte“ auseinande… | |
Es zeigt dessen Unterschlupf in Finnland, wohin der 1917 – verkleidet als | |
armer Fischer – geflüchtet war. | |
Der Österreicher Norbert Hinterberger baute aus Brot den Panzerkreuzer | |
„Aurora“ nach, der in einem Meer aus trockenen Brotscheiben schwamm. Die | |
„Aurora“, Kriegsschiff der Kaiserlich Russischen Marine, hatte im Oktober | |
1917 mit Übungspatronenbeschuss aus der Bugkanone das Signal für den Beginn | |
der Revolution gegeben. | |
## „Voller Gefühle für das Proletariat“ | |
Am nächsten Tag ging es in Weimar um die chinesische Kulturrevolution, die | |
im Stück „Red“ thematisiert wurde. Genauer gesagt ging es um eine der acht | |
Modellopern, „Das rote Frauenbataillon“. Entstanden ist sie 1966 im Auftrag | |
von Maos Frau Tschiang Tsching, die sich, als man sie 1981 zu | |
lebenslänglicher Haft verurteilte, mit den Worten verteidigte: „Revolution | |
ist kein Verbrechen!“ | |
Hier begleiteten vier Frauen des Pekinger „Living Dance Studios“ von Wen | |
Hui tanzend eine filmische Dokumentation, in der unter anderem ehemalige | |
Tänzer der Oper erzählten, wie es damals war. Der Inhalt besteht darin, | |
dass die Sklavin eines Großgrundbesitzers wegläuft und sich dem Roten | |
Frauenbataillon anschließt, wobei sich ihr persönliches Schicksal mit der | |
Revolution verbindet. | |
Während der Kulturrevolution mussten die Tänzerinnen das Stück zigmal | |
spielen, dazu zählte auch eine der vier Tänzerinnen, die jetzt auf der | |
Bühne standen. In der Interpretation ihrer jüngeren Kolleginnen ist das | |
Stück auch heute noch ein gültiges Beispiel weiblicher Selbstermächtigung. | |
Die im Film zu Wort kommende Hauptdarstellerin entwickelte damals auch | |
privat gegenüber ihrem Ehemann Kampfgeist. Das Stück ist inzwischen fester | |
Bestandteil der chinesischen Popkultur. Wir, die Zuschauer der Aufführung, | |
lernten viel über die Modellopern, wie sie jede Geste vorschrieben und auf | |
wie viele Weisen man eine Faust heben oder zum Beispiel „Orchideenfinger“ | |
formen muss. „Bei der Übung mit dem Schwert wurde gesagt, dass man voller | |
Gefühle für das Proletariat sein sollte.“ Genau das Gegenteil will Wen Hui | |
heute: „Etwas im Körper der Darsteller entdecken, nichts erfinden“ – oder | |
vorschreiben. | |
## Deutsch, Persisch, Französisch, Englisch und Hebräisch | |
Die Modellopern sind am Pariser Ballett orientiert, jedoch über den Umweg | |
Moskau: Die Bolschewiki wollten 1918 das adlig-kostspielige Ballett ebenso | |
wie das rohe Volksvergnügen Zirkus abschaffen, Lenin war jedoch dafür, die | |
künstlerischen Bereiche zu verwissenschaftlichen. Und das geschieht bis | |
heute. In China vielleicht noch gründlicher als in Russland, wo alle | |
Akrobaten quasi Beamte sind. In der anschließenden Diskussion meinte eine | |
der Tänzerinnen: „Die Füße – unten – sind russisch, aber oben die Hän… | |
sind aus dem chinesischen Volkstanz.“ Eine andere meinte: „Ab 1949 diente | |
der revolutionäre Tanz einem Führerkult, heute einem Körperkult: als | |
Fitness und zum Kennenlernen.“ | |
Am darauf folgenden Tag sah ich im Weimarer E-Werk das afghanische | |
Theaterstück „Malalai“, das ebenfalls die Frauenemanzipation thematisiert | |
und auch mit einem Donnerschlag beginnt, es handelt jedoch nicht von der | |
Revolution, sondern vom nationalen antikolonialen Befreiungskampf (gegen | |
die Engländer) im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg zwischen 1878 und 1880. | |
Dabei geht es um die Nationalheldin Malalai: Sie war eine Krankenschwester, | |
die die Initiative ergriff, als alle Kämpfer verzagten: Sie löste ihren | |
Schleier, machte daraus eine Fahne und stürmte auf den Feind los. Dabei | |
starb sie, aber die Afghanen siegten. Aktuelle Bezüge lassen sich einfach | |
herstellen, zum Beispiel zur afghanischen Politikerin Malalai Joya und der | |
pakistanischen Frauenrechtlerin und Friedensnobelpreisträgerin Malala | |
Yousafzai. Ferner ein historisch-literarischen Bezug: Jeanne d’Arc, eine | |
Ziegenhirtin, die während des Hundertjährigen Krieges den Truppen des | |
Thronerben (Dauphin) gegen die Engländer zum Sieg verhalf. | |
Sie wurde vom proenglisch eingestellten Bischof Cauchon als Ketzerin | |
verurteilt und auf dem Marktplatz von Rouen verbrannt, 1909 jedoch heilig | |
gesprochen. Zitate aus Friedrich Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ | |
wurden in „Malalai“ entsprechend oberhalb der Bühne in Leuchtschrift | |
angezeigt. Ebenso die vielen Dia- und Monologe der Schauspieler, die | |
Deutsch, Persisch, Französisch, Englisch und Hebräisch sprachen. | |
## „So spielt man Sterben in deutschen Theatern!“ | |
Es handelte sich um ein transnationales Theaterprojekt mit dem afghanischen | |
Azdar-Theater-Ensemble, das große Probleme hatte, einreisen zu dürfen. Das | |
Bühnenbild bestand nur aus acht Metallparavents auf Rädern. Bei den | |
Kampfszenen fielen die Schauspieler gelegentlich aus der Rolle ins eigene | |
Schauspielerleben: „So spielt man Sterben in deutschen Theatern!“ | |
In Kabul hatte sich 2014 während einer Aufführung des Azdar-Theaters ein | |
Selbstmordattentäter der Taliban in die Luft gesprengt, seitdem kann das | |
Ensemble in Afghanistan nicht mehr spielen. Dessen ungeachtet endet ihr | |
Stück über „Malalai“ hoffnungsvoll: Irgendwann werde das Gemetzel im Land | |
enden. „Die Frauen, die sich heute selbst verbrennen, sind keine Opfer – | |
sondern Vorhut.“ | |
29 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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