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# taz.de -- Philosoph über die Möglichkeit von R2G: Die Linke muss aktiv werd…
> Eine linke Regierung nach der Wahl ist möglich, sagt Thomas Seibert vom
> Institut Solidarische Moderne – wenn WählerInnen Druck machen.
Bild: Ein unglückliches Symbolbild: rote und grüne Flaschen
taz: Herr Seibert, Anfang des Jahres gab es eine kurze Phase, in der
Rot-Rot-Grün möglich schien. In den Landtagswahlen ist der Schwung ist
verpufft, die Parteien sind auf Abstand gegangen, die Linkspartei ist
zweimal an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Ist R2G damit auch im Bund
gestorben, bevor es überhaupt angefangen hat?
Thomas Seibert: Wir gehen noch immer davon aus, dass es eine mögliche
Mehrheit für einen rot-rot-grünen Politikwechsel gibt. Aktuell spricht
allerdings vieles dafür, dass diese Mehrheit nicht zum Zug kommt – weil die
drei Parteien, mit denen sie zu machen wäre, sie wieder einmal verspielen.
Wo sehen Sie denn diese Mehrheit?
Genau dort, wo auch die politische Rechte diese Mehrheit sieht. Im
Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen hat man rechts
sofort die Gefahr der politischen Artikulation einer rot-grün-roten
Mehrheit erkannt und mit Schwarz-Gelb blitzschnell ein Gegenprojekt
lanciert. Wenn man ein paar Schritte hinter das tagespolitische Auf und Ab
zurücktritt, zeigt sich doch, dass es seit Jahren eine rechnerische
Mehrheit für SPD, Grüne und Linkspartei gibt. Was fehlt, ist der Wille,
daraus eine politische Mehrheit zu machen.
Im Augenblick sind wir von dieser Mehrheit doch sehr weit entfernt.
Selbst in NRW liegt das schwarz-gelbe Lager nur wenige Stimmen vor dem
rot-grün-roten – und das, obwohl Frau Kraft unmittelbar vor der Wahl
ausdrücklich eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen hat.
Natürlich müssen wir vom rechnerischen Gesamt der rot-grün-roten Stimmen
die abziehen, die Schwarz-Rot oder auch Schwarz-Grün befürworten. De facto
landen wir dann bei einem Drittel der Wählerstimmen, die tatsächlich
Rot-Rot-Grün wollen. Gehen wir jetzt auf die Situation nach der Ernennung
Schulz' zurück und stellen uns vor, dass sich SPD, Grüne und Linkspartei in
diesem Augenblick so entschieden hinter R2G gestellt hätten, wie die
Rechten sich heute hinter ihr schwarz-gelbes Projekt stellen – dann ist
unsere These, dass das rot-grün-rote Drittel noch zugelegt hätte. Deshalb
besteht die wesentliche Aufgabe für uns darin, diesem Drittel eine eigene
Stimme zu verleihen, dafür zu sorgen, dass es sich selbst artikuliert und
„seine“ Parteien damit unter Druck setzt.
Bei den Sozialdemokraten hat aber geradezu Angst davor geherrscht, mit
einem Bekenntnis zu Rot-Rot-Grün WählerInnen zu verprellen.
Bei der SPD ist das so, ja, und bei den Grünen auch. Aber man braucht nur
auf die SPD zu sehen: Nach der zur „Gerechtigkeitswende“ stilisierten
Berufung des Kandidaten Schulz sind binnen weniger Tage 16.000 Menschen in
die Partei eingetreten. Doch statt diese Dynamik voranzutreiben, geht die
SPD auf Distanz zur Linkspartei. Prompt sacken nicht nur die Umfragewerte,
sondern auch die Wahlergebnisse in den Keller. SPD und Grüne wollen R2G nur
als letzte Option, wie ein signifikanter Teil der Basis dieser Parteien
auch. Das war uns als ISM immer klar. Genau deswegen sagen wir: Es kommt
darauf an, unter den Menschen, die Rot, Rot oder Grün wählen, so viele wie
möglich für die gemeinsame Option zu gewinnen. Was wir brauchen, ist eine
Politik, in der sich die linken Teile dieser Gesellschaft eigenständig
artikulieren. Und das führt über 2017 hinaus.
Für diesmal schreiben Sie Rot-Rot-Grün also doch ab.
Nein, aber unser Hauptinteresse ist es, das sich die linke Hälfte der
Gesellschaft eigensinnig bemerkbar macht und bis zum Herbst noch wächst.
Die Stimmen, die abgegeben werden, müssen mehrheitlich Stimmen sein, die
R2G tatsächlich wollen, weil R2G nur als Option von Links funktionieren
kann. Die gesellschaftliche Linke muss deshalb ihren eigenen Wahlkampf
machen.
Wie soll das denn noch gehen?
Genau das versuchen wir heraus zu finden. Es gibt momentan doch eine
unglaubliche Politisierung der Gesellschaft. Viele spüren, dass die
Situation, in der wir uns befinden, zum ersten Mal seit Jahren offen ist.
Es gibt nicht nur einen Rechtsruck, sondern eine regelrechte Spaltung
innerhalb der Gesellschaft. Jetzt müssen Wählerinnen und Wähler lernen,
selbst tätig zu werden, ein anderes Verhältnis zu ihrer Regierung
einzunehmen.
Was also tun?
Was wir brauchen, ist eine politische Artikulation, die weder
Repräsentations- noch Bewegungspolitik ist. Politik kann nicht einfach den
Parteien überlassen werden. Sie kann aber auch nicht nur
außerparlamentarische Bewegungspolitik sein, nicht nur auf politisches
Engagement jenseits der Parteien setzen, weil die allermeisten Menschen,
von denen wir hier sprechen, keine AktivistInnen werden wollen. Deshalb
setzen wir erstens auf Präsenz in den Medien. Wir können die Debatte über
R2G verstärken, indem wir zum Beispiel von der SPD verlangen, konkreter zu
sagen, was sie sich unter einer Gerechtigkeitswende vorstellt. Wir können
von den Grünen verlangen, zu konkretisieren, was sie eigentlich meinen,
wenn sie für Demokratisierung, soziale und ökologische Gerechtigkeit sind.
Und wir können von der Linkspartei verlangen, konkreter zu zeigen, dass sie
mehr als nur eine Hartz-4-Protestpartei sind.
Und das soll reichen?
Zweitens leisten wir Netzwerkarbeit, in den Parteien und außerhalb. Deshalb
organisieren wir Veranstaltungen, bei denen wir die Kernpunkte dessen
diskutieren, was wir für einen linken Politikwechsel halten: Zum Beispiel
ein Ja zu einer solidarischen Einwanderungsgesellschaft und ein Ja zu
Europa unter der Bedingung, dass die EU demokratisiert wird. Wir brauchen
nicht unbedingt Barrikadenkämpfe, sondern müssen öffentliche Orte schaffen,
an denen ausgesprochen wird: Die Gesellschaft kann sich nach links bewegen!
Anzeichen dafür gibt es momentan viele.
Wo sehen Sie die?
Es gibt zum ersten Mal seit Jahren wieder eine erhebliche Anzahl von
AkademikerInnen, die sich positiv zu linker Politik äußern. Es gibt
verschiedene erfolgreiche Initiativen wie die der offenen Gesellschaft von
Harald Welzer. Es gibt „Pulse for Europe“, die wenigstens der Rückkehr in
den Nationalstaat eine Absage erteilen. Wir haben gesehen, was im Sommer
der Migration plötzlich möglich war. Wir werden auch sehen, was während der
G20 in Hamburg möglich sein wird. Dort sagt zwar niemand auf den Demos:
Wählt Rot-Rot-Grün. Aber die Inhalte, mit denen wir den linken Wahlkampf
füllen wollen, werden dort bestätigt.
Welche sind das?
Es geht hauptsächlich um drei Momente. Erstens wäre da die Frage nach einem
Europa nach Schäuble. Wie weit nach links kann das gehen? Zweitens muss
gegen die Entdemokratisierung gekämpft werden, die Krise der
Repräsentation, deren Folge auch der Rechtspopulismus ist. Und drittens
wird es wirklich um soziale Gerechtigkeit gehen müssen.
Das sind nicht die bevorzugten Themen der SpitzenkandidatInnen der
Parteien. Nochmal zurück zur parlamentarischen Ebene: Könnte Rot-Rot-Grün
mit den Parteien, wie sie momentan aufgestellt sind, denn überhaupt
funktionieren?
Keine der drei Parteien ist auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, was
Rot-Rot-Grün betrifft. Die Grünen würden mit einer knappen Mehrheit
Schwarz-Grün favorisieren – aber aus ihrer gegenwärtigen Krise kommen sie
nur heraus, wenn die eher linke Hälfte der Partei deutlicher wahrnehmbar
wird. In der SPD sieht es ähnlich aus: auch wenn Schulz R2G nicht wirklich
will, wird die für zwei, drei Wochen offensichtliche Chance auf einen
Sprung nach vorn nur genutzt, wenn die Partei den bloß angedeuteten
Linkswechsel ernst nimmt – sonst droht ihr das Schicksal der französischen
SozialistInnen. Und die Linkspartei hat ihre ganz eigenen Schwierigkeiten.
Sie meinen die nationalistischen Ressentiments, die Sahra Wagenknecht
bedient?
Dass manche Linke dasselbe Ressentiment ansprechen wie die AfD, ist ein
massives Problem für Rot-Rot-Grün. Schaut man sich die Partei näher an,
wird deutlich, dass große Teile einen unmissverständlichen Abstand zum
sozialnationalen Ressentiment wollen.
Das wird nicht so schnell passieren.
Erhebliche Teile der Partei sind gegen den Rückzug in den nationalen
Sozialstaat. Die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger haben
sich wiederholt deutlich von Wagenknechts Alleingängen abgesetzt. Solche
Momente muss man verstärken, das müssen wir der Linkspartei abringen.
So oder so wäre Rot-Rot-Grün vor allem für die Linkspartei eine
Herausforderung. Die würde das Risiko eingehen, zu zerbrechen oder in der
Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Die Position des reinen Widerspruchs zu verlieren, ist immer schwierig.
Aber das Scheitern linker Parteien an der Regierung ist doch kein
Naturgesetz – die Frage ist vielmehr, wie man es abwenden kann! Die
Linkspartei könnte Ideen und Fragen wieder aufnehmen, von denen sich die
Grünen viel zu früh gelöst haben.
Wie könnte man denn besser darauf antworten als die Grünen?
Indem man inhaltlich nicht zu früh nachgibt und dann dort, wo man nachgeben
muss, nicht resigniert. Und indem man offen sagt, dass eine linke oder
mitte-linke Regierung allein unter den gegebenen Verhältnissen gar nicht
die Macht hat, alles zu ändern, was sie ändern will. Die Thüringer
Landesregierung kann nicht einfach sagen, dass sie nicht abschiebt. Aber
sie kann erklären, dass sie die herrschende Abschiebepraxis falsch findet.
Wieso sollte sich eine Landesregierung nicht an Protesten gegen solche
Verhältnisse beteiligen? Und wo wären wir, wenn das gleich mehrere
Landesregierungen tun würden? Im Fall der Abschiebungen nach Afghanistan
sind wir dem schon sehr nahe gekommen. Da geht noch mehr.
Auf bundespolitischer Ebene wäre das nicht so leicht – Stichwort Nato oder
Kampfeinsätze der Bundeswehr.
Bei der Sicherheits- und Außenpolitik könnte die Linkspartei nicht mehr
tun, als in den Verhandlungen so viel rauszuholen wie möglich – und sich
dann das Recht bewahren, Regierungspolitik massiv zu kritisieren, obwohl
sie der Regierung angehört. Das geht bis hin zu der Position: Um die
Regierung überhaupt im Amt zu halten, stimmen wir dieser Maßnahme zu,
schließen uns außerhalb der Regierung aber dem Widerstand an. Das ist doch
kein Ding der Unmöglichkeit. Aber natürlich droht hier das Scheitern, ganz
ernsthaft.
Sie denken die Ebenen der parlamentarischen Arbeit und der
außerparlamentarischen Opposition stark zusammen. Würde eine
Mitte-Links-Regierung nicht automatisch eine Schwächung der Bewegung
bedeuten?
Im Gegenteil, die Bewegungen könnten viel freizügiger eine Politik der
Dissidenz verfolgen. Aus Bewegungsperspektive wünsche ich mir Rot-Rot-Grün,
weil ich glaube, dass die Opposition gegen eine solche Regierung von
vornherein auf einem höheren Niveau stünde als eine, die sich gegen
Schwarz-Rot oder gegen eine rechte Regierung wehren müsste. Bewegungen
werden nicht nur dann stärker, wenn die Verhältnisse immer elender werden,
sondern auch und gerade dann, wenn die Verhältnisse besser geworden sind.
Denken Sie an den linken Aufbruch von 1968. Der richtete sich zwar gegen
die bleierne Nachkriegsgesellschaft, konnte das aber nur tun, weil es über
Jahre hinweg nicht nur materielle Verbesserungen, sondern auch massive
politische Zugeständnisse gab. Die Studierendenbewegung wurde möglich, weil
die einst abgeschotteten Bürgeruniversitäten zu Massenuniversitäten
geworden waren.
Die Abgrenzung von einer Linksregierung wird doch viel schwieriger.
Das stimmt nur dann, wenn die gesellschaftliche Linke eine solche Regierung
naiv als „ihre“ Regierung ansähe, als eine Regierung, der sie entweder
völlig zustimmen oder die sie völlig ablehnen müsste. Aber warum sollte
eine gesellschaftliche Linke weniger strategisch und weniger taktisch
vorgehen, als Wahlparteien dies tun? Sie muss selbst aktiv werden, sich
eigenständig artikulieren und organisieren. Gelingt ihr das, kann sie ein
abgeklärtes Verhältnis zu den Parteien und einer von ihnen gebildeten
Regierung haben. Sie kann sich sagen: Das erwarten wir von dieser
Regierung, deshalb ziehen wir sie einer anderen vor – und für alles, was
darüber hinausgeht, müssen wir selbst einstehen.
24 May 2017
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Patricia Hecht
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Martin Schulz
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