# taz.de -- Architekt über die Städte der Zukunft: „Die Leute wollen Gesell… | |
> Der Architekt Jan Gehl entwirft Konzepte und baut Metropolen um. Braucht | |
> eine digitalisierte Gesellschaft überhaupt noch Innenstädte? | |
Bild: Jan Gehl in Kopenhagen: Die ideale Stadt ist eine, die zum Spazierengehen… | |
taz: Herr Gehl, Netflix statt Kino, chatten statt verabreden, online | |
bestellen statt zum Supermarkt oder in den Buchladen gehen. Lässt das | |
Internet Innenstädte aussterben? | |
Jan Gehl: In den kleineren Städten haben wir tatsächlich ein Problem, weil | |
der Internethandel zahlreiche Läden ruiniert. Aber es ist keineswegs so, | |
dass der Onlinehandel Schuld daran ist, dass Innenstädte verwaisen. | |
Sondern? | |
Momentan sind Fußgängerzonen, oder auch Innenstädte ganz allgemein, Orte | |
des Konsums. Das muss aber nicht so sein. Wenn man vor 30 Jahren, auch in | |
Deutschland, die Leute befragt hat, warum sie in die Innenstadt gehen, dann | |
sagten sie damals, sie sind in der Stadt, um einzukaufen. Aber mittlerweile | |
sagen die Leute: Sie sind in der Innenstadt, um in der Innenstadt zu sein. | |
Zu schauen, was so los ist, eine gute Zeit zu haben. Früher haben die Leute | |
in einer dichten Stadt gelebt, und sind in die Natur gefahren. Heute leben | |
sie in Vororten und fahren in die Stadt. Zu dem gleichen Zweck. | |
Zur Erholung? | |
Ja, um ihre Freizeit zu verbringen, raus zu kommen. Mit dem Unterschied: | |
Wir haben mehr Freizeit als je zuvor. Die Menschen arbeiten, um sich eine | |
schöne Freizeit machen zu können und die Bedeutung von Freizeit, von dem, | |
was wir in dieser Zeit tun, wird immer größer. | |
Was heißt das in Zeiten des Onlinehandels? | |
Die Idee einer Innenstadt als Einkaufsort ist obsolet. Die Innenstädte | |
müssen dem Bedürfnis nach Freizeitgestaltung gerecht werden. Mit | |
kulturellen Orten, mit Museen, mit Sportangeboten. Und auch mit Orten, an | |
denen Menschen sich einfach so treffen können. Sie glauben doch nicht, dass | |
es Zufall ist, dass der Boom der Coffeeshops mit dem der Smartphones | |
zusammentrifft? | |
Nicht? | |
Nein. Natürlich könnten die Leute auch den ganzen Tag zu Hause sitzen mit | |
ihrem Handy. Das machen sie aber nicht. Sie wollen die Gesellschaft. | |
Treffpunkte. | |
Besteht nicht die Gefahr, dass durch Dienste wie Facebook und WhatsApp auch | |
die Treffpunkte überflüssig werden? | |
Menschen sind Gesellschaftstiere. Sie nutzen Ihr Telefon und die Netzwerke, | |
um sich mit anderen zu verabreden. Nehmen Sie den Arabischen Frühling: Die | |
Mobilisierung lief über digitale Netzwerke. Aber der Protest brauchte | |
genauso einen Ort, eine Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. In Kairo hat | |
sich die Bewegung auf dem Tahrirplatz getroffen, in Istanbul auf dem | |
Taksimplatz, in Bahrain, in der Ukraine – überall waren Plätze der | |
Treffpunkt. Das Treffen, die Versammlung ist wichtiger denn je. Und es ist | |
unmöglich, eine lebenswerte Stadt ohne diese öffentlichen Räume zu | |
gestalten. | |
So einfach? Ein paar öffentliche Plätze und schon ist eine Stadt | |
lebenswert? | |
Ja, so einfach. | |
Und warum haben wir dann nicht überall auf der Welt nur wunderbar | |
lebenswerte Städte? | |
Na ja, es ist einfach und doch wieder nicht. Es liegen Welten zwischen | |
einem gut und einem schlecht gemachten Platz. | |
Was macht den Unterschied aus? | |
Ein guter Platz ist wie eine gute Party – die Leute bleiben viel länger als | |
geplant. Das Zitat habe ich an der Wand eines Bürgermeisterbüros in | |
Rumänien gefunden. Und genauso ist es. | |
Und der beste Teil der Party ist in der Küche – was ist die Küche für eine | |
Stadt? | |
Die Küche erreichen wir dann, wenn wir die Plätze klein machen, deutlich | |
kleiner als wir denken. Dann fühlen die Menschen sich wohl. Man muss den | |
Spaß konzentrieren und nicht versuchen, ihn auszubreiten. | |
Was macht also einen guten Platz sonst aus? | |
Wir haben zwölf Kriterien gefunden, aber das wichtigste ist Schutz. Schutz | |
vor Verkehr, vor Belästigungen, vor Wind und Wetter – in anderen Regionen | |
der Welt ist es eher der Schutz vor Sonne. Man kann Hunderte Blumenkästen | |
und Bänke aufstellen, wenn der Schutz nicht gegeben ist, wird niemand | |
kommen und sich hinsetzen. Ein guter Ort spricht die Sinne an. | |
Das heißt? | |
Es geht darum, Städte im menschlichen Maßstab zu gestalten. Im Prinzip | |
haben wir in jeder Stadt nur zwei Arten öffentlicher Räume, Straßen und | |
Plätze. Die Straße, die muss auf den Füßen basieren und auf der | |
Geschwindigkeit, in der sich Menschen bewegen. Diese Geschwindigkeit hat | |
sich über Jahrhunderte nicht geändert, es sind immer noch etwa fünf | |
Kilometer die Stunde. Und so muss eine ideale Straße signalisieren: Lauf, | |
mein Freund. Und nicht: Nimm das Auto. | |
Und der Platz? | |
Der Platz muss sich nach dem menschlichen Auge richten, nach dem, was man | |
sehen, überblicken kann. Ein guter Platz darf nicht größer oder weiter sein | |
als das menschliche Auge sehen kann. Daher ist der Tiananmen-Platz in China | |
kein Platz mit menschlichem Maßstab. Es ist nur ein großes Areal. | |
Wo ist die Grenze? | |
Auf allen guten Fußballplätzen weltweit sitzen die Menschen nicht mehr als | |
hundert Meter vom Feld entfernt, weil sie sonst das Spiel nicht sehen | |
können. Das ist die Grenze. | |
Lassen Sie uns ein paar Entwicklungen der Digitalisierung durchgehen und | |
Sie sagen, ob sie gut oder schädlich für eine lebenswerte Stadt sind: | |
selbstfahrende Autos. | |
Die sind nur gut für die Autoindustrie. Für eine Stadt könnte es zwar | |
tatsächlich weniger Stau bedeuten. Aber es würde nicht das Problem lösen, | |
dass Autos einfach viel zu viel Platz wegnehmen. Daher nicht gut. | |
Virtual Reality Spiele wie Pokemon Go. | |
So etwas wird Menschen nur für kurze Zeit auf die Straße bringen. Wirklich | |
nachhaltig ändert das nichts. | |
Drohnen. | |
Also ich möchte nicht in einer Stadt leben, in der sich alle gegenseitig | |
ihre Valentinstags-Herzen per Drohne schicken. | |
Car-Sharing. | |
Das könnte tatsächlich gut sein. Wenn Autos geteilt werden, und es damit | |
deutlich weniger gibt, dann würden die Städte sehr viel besser machen. | |
Öffentliches Wlan. | |
Das ist eine großartige Idee. Hier kommt das beste der beiden Welten | |
zusammen: Die Menschen können ihr Facebook-Profil checken und gleichzeitig | |
sind sie draußen und sehen, was passiert. Früher haben die Menschen ihre | |
Zeitung mitgenommen, aber die hatte genau den gleichen Zweck: Nicht albern | |
auszusehen, wenn man da rumsitzt. | |
Die Vernetzung von Städten, sogenannte Smart Cities. | |
Humbug. Lauter Gimmicks, die dazu dienen, mehr zu verkaufen. Städte werden | |
davon nicht besser oder lebenswerter. Die Stadt der Zukunft sollte wie | |
Venedig sein. Das ist eine Stadt, die wirklich auf die Bedürfnisse von | |
Fußgängern ausgerichtet ist. Den ganzen Verkehr oder das wenige, was | |
hoffentlich nur davon übrig sein wird, den kann man dann einfach in den | |
Untergrund verlagern. | |
Und was ist mit den Radfahrern? Die gibt es Venedig nicht. | |
Ja, man sollte da jetzt nicht zu pedantisch sein. Die dürfen nach oben. | |
Aber sonst ist es die perfekte Stadt, die signalisiert: Lauf. Schauen Sie, | |
ich nutze das hier. | |
Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und öffnet eine App. Es ist ein | |
Schrittzähler. | |
Heute war es nicht gut, ich bin zu wenig gelaufen, noch weit von den 10.000 | |
Schritten entfernt. Auf 8.000 muss ich aber definitiv noch kommen. Bewegung | |
ist wichtig, deshalb ist eine gute Stadt nicht nur lebenswert und | |
nachhaltig, sondern auch gesund für ihre Bewohner. | |
Er wischt auf dem Bildschirm herum. | |
Auch gestern war nicht gut, es hat geregnet in Kopenhagen. Aber der Monat | |
insgesamt war in Ordnung. | |
Apps, die Schritte zählen, sind auch so ein Produkt der Digitalisierung … | |
Ja, das stimmt. Und mir hilft es, mich mehr zu bewegen. Aber in einer | |
Stadt, die zum Laufen einlädt, bewegen wir uns auch so genug. Die | |
Digitalisierung ist wie die Blumenkästen: In einer guten Stadt kann sie | |
etwas Positives dazu beitragen. Aber alle Apps und Gimmicks schaffen keine | |
lebenswerte Stadt. | |
9 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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