| # taz.de -- Kolumne „Nachbarn“: Nach dem Sarin-Massaker | |
| > Bitte, liebe Nachbarn, lassen Sie Ihre Kinder die Bilder unserer Kinder | |
| > nicht anschauen. Werden Sie nicht zu Zeugen eines Verbrechens. | |
| Bild: Überlebende Kinder des Giftgasangriffs in Chan Scheichun | |
| O mein Gott, schreie ich, und dabei hören mich die Nachbarn. | |
| Ich wollte nicht darüber schreiben, aber ich fühle mich fast gezwungen, | |
| meinen deutschen Nachbarn zu erklären, warum ich in der Nacht geschrien | |
| habe, denn sie kennen mich als ruhige Nachbarin. Aber sie kennen nicht | |
| meine Alpträume. | |
| Ich schreibe dies, um sie zu mahnen, dass sie auf ihre Kinder aufpassen | |
| sollen. Das sage ich, während die Kinder meiner Nachbarin in Syrien an | |
| Sarin ersticken und ihre Leichen mich die ganze Nacht verfolgen. Tagsüber | |
| laufe ich durch die Straßen in Berlin und schaue nach rechts und links, als | |
| sähe ich eines dieser Kinder in Berlin. Ich will nicht, dass dies | |
| irgendeinem Kind auf dieser Erde widerfährt. | |
| Bitte, liebe Nachbarn, schalten Sie Ihre Fernsehapparate nicht ein und | |
| gehen Sie nicht auf Facebook oder sonstige andere Medien, lassen Sie Ihre | |
| Kinder die Bilder unserer Kinder nicht anschauen, und werden Sie nicht zu | |
| Zeugen eines Verbrechens der Großmächte. Schützen Sie nur ihr Gedächtnis. | |
| ## Unsere Hoffnung ist leider nun vergeblich | |
| Lassen Sie Ihre Kinder unsere Kinder nicht beweinen, auch nicht den Vater | |
| mit seinen beiden Kindern im Arm. Jenen Vater, der vergeblich darauf hofft, | |
| dass das Leben in die Körper seiner Kinder zurückkehrt. Er bildet sich ein, | |
| man habe ihm erzählt, die Kinder könnten wieder atmen und zum Leben | |
| zurückfinden. Wie schrecklich ist es, vergeblich darauf zu warten, dass ein | |
| Wunder passiert. Schützen Sie die Blicke Ihrer Kinder davor, die Gräber | |
| unserer Kinder zu sehen. Unsere Hoffnung ist leider nun vergeblich. | |
| Lassen Sie Ihre Kinder keine falschen Hoffnungen hegen, die Sie selbst | |
| nicht glauben. Lassen Sie Ihre Kinder nicht die syrischen Mütter neben | |
| ihren toten Kindern sehen, während diese immer wieder ihre Toten in den Arm | |
| nehmen, um sie vor der Kälte zu beschützen. Jene Mütter, die die Götter | |
| anrufen, das Leben möge in Ihre Kinder zurückkehren. | |
| ## Versteckspielen | |
| Schützen Sie Ihre Kinder vor der Angst und vor der Sorge, ihre Geschwister | |
| und Freunde zu verlieren. Vielleicht denken Ihre Kinder, dass auch sie ihre | |
| Spielkameraden und Geschwister durch einen Sarin-Angriff verlieren könnten, | |
| oder vielleicht fragen sie sich zumindest, weshalb ihre Geschwister und | |
| Freunde nicht mehr zum Versteckspielen kommen. Dieses Spiel spielten auch | |
| die syrischen Kinder, und sie spielten es so, dass einer die Augen zumacht, | |
| während sich die anderen verstecken, und dieser eine, der die Augen | |
| schließt, beginnt, die versteckten Kinder – eines nach dem anderen – zu | |
| suchen, und wer nicht entdeckt wird, gewinnt. | |
| Vielleicht fragen sich Ihre Kinder, was wäre, wenn die syrischen Kinder | |
| sich auch vor dem Tod versteckten, denn in dem Fall hielte der Tod die | |
| Augen verschlossen, bis alle Kinder sich an einem geheimen Ort versteckt | |
| haben, den der Tod nie entdecken könnte. Und so wären die syrischen Kinder | |
| heute noch am Leben. So etwas könnte man vielleicht das Spiel des Todes | |
| nennen, aber das brauchen Ihre Kinder nicht. Ihre Kinder sollen ihrer | |
| Fantasie über das Leben und die Freude freien Lauf lassen. | |
| ## Ein Kind haben, jetzt? | |
| Was mich anbetrifft, ist es so, dass ich zwei Tage vor dem Sarin-Massaker, | |
| bei dem viele Kinder erstickten, einer meiner engsten Freundinnen | |
| offenbarte, dass ich ein Kind haben möchte. Meine Freundin machte sich über | |
| mich lustig, denn sie dachte, ich bringe ein neues Opfer auf diese | |
| hässliche Welt. Sie fühlte sich auch nicht unbedingt veranlasst, ihre | |
| Meinung weiter zu begründen. Sie sagte nur, alles auf dieser Welt beweist, | |
| dass nur das Böse herrscht. Ich meinerseits erwiderte, es gebe doch viele | |
| Beispiele für das Gute in dieser Welt und in uns Menschen. Sie bestand auf | |
| ihrer Meinung und ich widersprach ihr unentwegt und sagte: Wir müssen und | |
| dürfen Kinder haben, die wir mit Liebe und guten Ansätzen erziehen. Sie | |
| machte sich weiterhin lustig über meinen Leichtsinn. | |
| Nun ist das Massaker passiert, das Böse hat gesiegt, eine moralische und | |
| menschliche Niederlage wurde erlitten. Wie kann ich meine Freundin noch vom | |
| Guten im Menschen überzeugen, und was nützt es uns überhaupt noch, | |
| Beispiele für das Gute zu bemühen? | |
| Ich vertiefe mich in meine Vorstellungen, rüttle an meinen Überzeugen, | |
| klopfe alles Gelernte ab und sehe diesen hässlichen Krieg in Syrien, | |
| während ich die Hand auf meinen Bauch lege und mir sage, ich beschütze | |
| meine Gebärmutter vor dem Sarin. | |
| Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman | |
| 10 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kefah Ali Deeb | |
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