| # taz.de -- Kolumne Nachbarn: Ein Blick zurück würde reichen | |
| > Auf der Schmugglerroute ist kein Platz für alle Gedächtnisdetails. Die | |
| > Schubladen und die Fotoalben musste ich zurücklassen. | |
| Bild: Ich sollte auf die Reise nicht viel Gepäck mitnehmen, hatte man mir gesa… | |
| In dem Augenblick, wo ich etwas schreiben will, beginnt mein Gedächtnis, | |
| beginnen meine Gedanken hin und her zu schaukeln. Mir werden Bilder aus | |
| meiner Kindheit gegenwärtig. Dann fühle ich mich, als wäre ich noch im | |
| Leibe meiner Mutter eingemauert; und sie würden mich plötzlich – dort in | |
| den Bergen, die Damaskus und Beirut trennen – herausholen. Ich habe den | |
| Eindruck, hinter diesen Bergen liegt nichts Schreibenswertes. | |
| Gelegentlich zwinge ich mich, etwas über die Dinge hinter der Grenze zu | |
| schreiben. Immer wieder wirft mich das Schreiben in jenen lang | |
| zurückliegenden herbstlichen Morgen und die Nacht davor zurück, als einige | |
| Freunde kamen, um mich zu verabschieden. Ich erinnere mich noch, wie ich in | |
| jener Damaszener Nacht meine Tränen unterdrückte und meine Freunde | |
| aufforderte, keine traurige Abschiedsveranstaltung zu aufzuführen. | |
| In jener Nacht lief ich in meiner Wohnung herum; sammelte kleine | |
| Gegenstände ein, warf sie in meinen Rücksack und nahm sie wieder heraus, | |
| weil man mir gesagt hatte, ich sollte auf die Reise nicht viel Gepäck | |
| mitnehmen. | |
| Ich war gezwungen, meine Freunde, meine Bilder, die Bibliothek, die | |
| gesammelten Souvenirs, die Kindheitserinnerungen, die Schubladen samt | |
| Inhalt und die Fotoalben zurückzulassen. | |
| Ich musste jene Straßen verlassen, an die meine Füße gewöhnt waren. Auch | |
| meine Nachbarn, deren Gesichter in meinem Gedächtnis eingebrannt waren; wie | |
| den Gemüseverkäufer, der mir bei jedem Einkauf einen Apfel extra gab, | |
| musste ich verlassen und fortgehen. Auf der Schmugglerroute ist kein Platz | |
| für alle Gedächtnisdetails. | |
| ## Kein Blick zurück | |
| In jener Nacht wünschte ich mir, die Nacht möge länger sein und der Morgen | |
| sich verspäten. Doch erwartungsgemäß ging mein Wunsch nicht in Erfüllung, | |
| denn die Nacht wurde nicht länger, und der Morgen kam rasch. | |
| Einer meiner Freunde rief mir ein Taxi und sagte, er vertraue darauf, dass | |
| der Fahrer mich zu einem sicheren Ort fahren würde. An jenem Ort sollte ich | |
| eine Person treffen, die mich mit anderen Männern zu den Schmugglern führen | |
| würde, die mich sicher aus Damaskus bringen sollten. So konnte ich dem | |
| Regime entkommen und vor erneuter Haft verschont bleiben, aus der ich | |
| gerade entlassen worden war. | |
| Ich verabschiedete mich von meinen Freunden; einer begleitete mich zum | |
| Taxi, bat den Fahrer, gut auf mich aufzupassen und schloss die Autotür. Der | |
| Fahrer fuhr los, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich blickte mich | |
| nicht mehr um. Denn ich wusste, ein Blick zurück würde reichen, um meinen | |
| Entschluss zur Flucht zu kippen. | |
| Ich überstand die erste Phase unversehrt, wurde dann von einer Person | |
| empfangen, von der ich hier nicht erzählen kann; doch ich hoffe, dass ich | |
| sie eines Tages wiedersehe, um mich für ihre Hilfe zu bedanken. Diese | |
| Person führte mich aus dem vom Regime kontrollierten Gebiet und brachte | |
| mich zu den Schmugglern, die mich dann über die Berge in den Libanon | |
| brachten. | |
| ## Gedächtnis bleibt stehen | |
| Ich zog durch die verstreuten syrischen Dörfer in den Bergen, die von der | |
| Opposition kontrolliert waren. Ich sah die von Äpfeln schweren | |
| Apfelplantagen, die niemand ernten konnte. Viele Äpfel lagen auf dem Boden, | |
| da niemand sie um sie kümmerte. Die Essigbäume schmückten die Straßen und | |
| spendeten angenehmen Schatten. Sie verleihen den Ortschaften eine besondere | |
| Atmosphäre. | |
| Mit den Schmugglern überquerte ich dann die syrischen Berge und kam in | |
| libanesisches Gebiet. Ich stellte keinen Unterschied in der Geographie | |
| fest. Denn es waren die gleichen Berge, die miteinander verwoben waren. Ich | |
| betrachtete unser verwundetes Schicksal in aller Stille, bis ein Schmuggler | |
| die Stille durchbrach, als er sagte: Gott sei Dank, wir sind jetzt in | |
| Sicherheit. Ich fragte mich, welche Sicherheit ich überhaupt suchte. | |
| Diese Reise ist der Punkt, an dem mein Gedächtnis unverrückbar und | |
| hartnäckig stehen bleibt. Es ist der Punkt zwischen dem Bleiben und dem | |
| Fortgehen. Über die Reise kann ich hier nicht viel berichten. Vielleicht | |
| ein anderes Mal. | |
| Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman | |
| 2 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kefah Ali Deeb | |
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