# taz.de -- Kolumne Hier und Dort: „Ich habe dich verraten“ | |
> Eine Wohnung mit Balkon in Damaskus, blühende Pflanzen und schöne | |
> Nachbarn – und in der Ferne der Hügel, von dem die Raketen kommen. | |
Bild: Luftangriff bei Damaskus | |
Da war der Balkon meiner Wohnung in Damaskus. Als es sie noch gab. Von | |
meinem Balkon aus sah ich die Paternosterbäume in der Ebene. Ganz am Ende | |
stand eine Pappel, die den übrigen Baumbestand überragte. Dahinter war der | |
Hügel, auf dem sich eine Militärkaserne befand. Hinter den Bäumen ging der | |
Mond auf; und ich konnte beobachten, wie er immer höher in den Himmel stieg | |
und jede Nacht etwas runder wurde. | |
Von dem Hügel wurde jede Nacht eine Rakete abgefeuert, die dann auf den | |
Balkon einer der Wohnungen fiel. Das konnte ich von meinem Balkon aus | |
ebenfalls beobachten. Ich fürchtete mich. | |
In meiner Wohnung in Damaskus – als ich noch eine hatte – stand in der | |
Küche ein großer Holztisch. Wenn ich am Tisch saß, konnte ich durch mein | |
Küchenfenster in das Fenster meines schönen Nachbarn blicken. Auf dem | |
Küchentisch hatte ich ein paar kleine Kakteen und Veilchen. Mein schöner | |
Nachbar blickte jeden Morgen zu mir herüber und lächelte, als ich meine | |
Pflanzen wässerte. Ich lächelte zurück, als wollte ich ihm sagen: Guten | |
Morgen, schöner Nachbar! | |
## Der weinende Nachbar | |
Eines Abends wurde ich festgenommen. Während mich die Sicherheitsbeamten in | |
Handschellen abführten, schaute ich von der Straße aus zum Fenster meines | |
schönen Nachbarn, um mich von ihm zu verabschieden. | |
Ich sah, wie er das Schauspiel mit einem Lächeln verfolgte, als wollte er | |
mir sagen: „Ich habe dich verraten.“ Und zum ersten Mal sah ich auf einem | |
anderen Balkon einen anderen Nachbarn stehen. Ich konnte nicht richtig | |
erkennen, ob er schön war, und lächelte ihm nicht zu; ich bemerkte nur, | |
dass er mich anschaute und weinte! | |
Als ich freigelassen wurde, wurden jeden Tag viele Raketen abgeschossen. | |
Meine Pflanzen waren eingegangen. Jetzt blickten nur noch ihre Überreste | |
auf das Fenster meines schönen Nachbarn. | |
Von meiner Wohnung aus konnte ich auch auf die Terrasse der Nachbarn | |
gegenüber blicken. Die Terrasse war im Sommer voller Leben. Ich gebe zu, | |
dass ich meinen Nachbarn stets dabei beobachtete, wie er seine | |
Balkonpflanzen in der Ecke goss; wir begrüßten uns gegenseitig: Mit einem | |
schönen Lächeln wünschte er mir einen schönen Tag, und ich wünschte ihm | |
einen glücklichen Tag! | |
Der Herbst ging zu Ende, der Winter kam. Mein Nachbar kam nicht mehr auf | |
die Terrasse, und ich saß nicht mehr auf dem Balkon. Doch jeden Tag stand | |
ich hinter der Glastür und blickte auf die traurige Terrasse und den | |
traurigen Balkon. Ich sah, wie alle Blumen und Pflanzen der Kälte zum Opfer | |
fielen. Die Kälte geht nämlich nicht zimperlich mit den Pflanzen um, | |
genauso wenig wie der Krieg mit den Menschen. | |
Im Frühling erwachen die Pflanzen wieder. Vielleicht geht der Krieg im | |
nächsten Sommer zu Ende und alle, die noch am Leben sind, kehren in ihre | |
Häuser zurück, gehen auf ihre Balkone, und ich finde meine Wohnung in | |
Damaskus wieder. Vielleicht steht die Militärkaserne nicht mehr auf dem | |
Hügel, und die Menschen pflanzen dort ganz viele Pappeln. | |
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman | |
6 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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