| # taz.de -- Debatte Merkels Flüchtlingspolitik: Keine Schutzheilige der Muslime | |
| > Rechte Publizisten zeichnen Merkel gern als gescheitert. Dabei hat der | |
| > Kanzlerin ihre Flüchtlingspolitik weniger geschadet als Hartz IV der SPD. | |
| Bild: Kritik und Lob, Kritik und Lob – Merkel bekommt von beidem viel | |
| Sei einem Jahr läuten die Totenglocken ohne Pause. Glaubt man vielen | |
| konservativen Publizisten, ist Merkel seit der Ankunft der Flüchtlinge | |
| erledigt. Woche um Woche erscheinen Grabreden. Da hat Merkel, als sie die | |
| Syrer ins Land ließ, das „politische Klima vergiftet“, in Europa eine | |
| „existenzielle Krise“ ausgelöst und endet jetzt verdientermaßen „am | |
| Tiefpunkt“ (Cicero). | |
| Sie hat die CDU zu „desaströsen Wahlergebnissen“ geführt und Deutschland … | |
| „ungekannte soziale, kulturelle und religiöse Konflikte (ge)stürzt“, nur | |
| logisch ist da, dass ihr „Reich zerfällt“ (FAZ). Sie führt eine | |
| „Schreckensherrschaft“ und muss als „Gefahr für die Zukunft unseres Land… | |
| (Nicolaus Fest) gelten. | |
| Opfer islamistischer Anschläge hat die Kanzlerin persönlich auf dem | |
| Gewissen („Merkels Tote“), auf einschlägigen Facebook-Seiten werden deshalb | |
| Mordaufrufe gepostet. Die ganz Rechten raunen gleich vom Bürgerkrieg um den | |
| Regimewechsel: Der Höcke-Kumpel und „Compact“-Herausgeber Jürgen Elsässer | |
| forderte die „verantwortungsbewussten Kräfte im Staatsapparat – unter die | |
| die Kanzlerin nicht fällt, sie ist die ‚Königin der Schlepper‘ und die | |
| Einladerin für die Terroristen!!“ – zum Handeln gegen Flüchtlinge und | |
| Muslime auf. | |
| Geht es nach den Rechten, ist Merkel eine politische Untote, der das Volk | |
| die Flüchtlinge nie verziehen hat. Im Kanzleramt sitzt sie nur noch ihre | |
| Tage ab, bis das Land im September von ihr erlöst wird. Die | |
| „Flüchtlingskanzlerin“ hat, das versuchen sie seit Jahr und Tag | |
| herbeizuschreiben, krachend zu scheitern. | |
| Den Gefallen wird sie ihnen, wie es aussieht, nicht tun. Die Herren, die | |
| sich so nah am Volksempfinden wähnen, sollten auf die Geschichte der | |
| deutschen Wahlergebnisse schauen. Die zeigt: Merkel hat sich, was den | |
| Popularitätserhalt angeht, gut geschlagen. Und das eben nicht nur im | |
| Ausland. | |
| ## Mit einer komplett neuen Partei herumschlagen | |
| Von Merkels sieben Amtsvorgängern haben es fünf geschafft, wiedergewählt zu | |
| werden, aber nur zwei (Adenauer und Kohl) mehr als ein Mal; wenn man | |
| Misstrauensvoten nicht mitrechnet. Merkel ist in der dritten Amtszeit, eine | |
| vierte ist durchaus möglich. Dann würde sie 16 Jahre regieren und damit so | |
| lang wie der Rekordhalter Kohl. Der einzige Kanzler, der über mehr als eine | |
| Wiederwahl an Zustimmung gewinnen konnte, war Adenauer. Brandt und Schmidt | |
| legten zwar zwischen ihrer ersten und letzten Wahl leicht zu – Brandt um 3, | |
| Schmidt um 0,3 Prozentpunkte –, schafften aber nur jeweils eine Wiederwahl. | |
| Kohl hingegen hat zwischen seinem Amtsantritt 1983 und seiner letzten Wahl | |
| 1998 fast 14 Prozentpunkte an Zustimmung verloren. Schröder gingen nach | |
| sieben Jahren fast sieben Prozentpunkte verloren. Seit dessen Agenda 2010 | |
| im Januar 2005 in Kraft trat, sind die Sozialdemokraten in Bereiche | |
| abgestürzt, die für die Partei zuvor undenkbar waren. | |
| Merkel aber ist 2005 mit 35,2 Prozent gewählt worden. Bei den sieben seit | |
| dem 9. Februar veröffentlichten Umfragen landet sie im Schnitt bei 32,6 | |
| Prozent. Das ist ein Verlust von gerade mal 2,6 Prozentpunkten, nach 12 | |
| Jahren Kanzlerinnenschaft. Und ob der Schulz-Effekt anhält, ist fraglich. | |
| Kein Kanzler vor Merkel musste sich mit einer komplett neuen Partei | |
| herumschlagen, die einen in CDU-Milieus programmatisch so verfangenden | |
| Frontalangriff fährt wie die AfD. Keiner der CDU-Kanzler wurde über so | |
| lange Zeit derart aggressiv von der eigenen Schwesterpartei bekämpft, wie | |
| Seehofer es in den letzten 18 Monaten bei Merkel getan hat. Die | |
| Zerfallserscheinungen von EU und Euro, dazu islamistische Terroranschläge – | |
| alles in dieser Form für eine Bundesregierung neue, fundamentale Probleme – | |
| , machten die Sache für Merkel nicht leichter. | |
| ## Ein Blick auf den Rest Europas | |
| Wenn man davon ausgeht, dass viele Leute nach einem Jahrzehnt so oder so | |
| ein Bedürfnis nach neuem Führungspersonal verspüren, dann steht Merkel | |
| nicht schlecht da. Die Flüchtlinge, die ihr angeblich den Genick gebrochen | |
| haben, haben ihr am Ende kaum geschadet – jedenfalls weniger als Hartz IV | |
| der SPD. | |
| Das kommt freilich nicht von ungefähr. Die Schutzheilige der Syrer und | |
| Muslime, als die sie Rechtspopulisten hinstellen, war Merkel nie. Sie hat | |
| keinen einzigen Flüchtling „eingeladen“. Das Aussetzen der Dublin-Regelung | |
| für einige Monate war eine vorübergehende humanitäre Ausnahme. Legale | |
| Fluchtwege hat die Bundesregierung bis heute nicht geschaffen. Zwar gibt es | |
| heute eine spärliche Zahl an Kontingentplätzen, aber die wurden nur unter | |
| großem Druck eingerichtet. Und seit 2015 tut Merkel alles, damit die | |
| Grenzen zu bleiben. Ihre Asylpolitik ist härter als jene der | |
| Allparteienkoalition des Jahres 1992, die das Grundgesetz änderte. | |
| Ob sich der Aufstieg der AfD überhaupt an der Ankunft der Flüchtlinge ab | |
| Sommer 2015 festmachen lässt, ist keineswegs sicher. Pegida entstand | |
| bereits im Herbst 2014, als von einer Flüchtlingskrise noch keine Rede sein | |
| konnte. In jenem Jahr kamen nur 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland, also | |
| genauso viele, wie die CSU per Obergrenze als verträglich festlegen lassen | |
| will. Ein Blick auf den Rest Europas deutet ebenfalls in diese Richtung: | |
| Rechte Parteien sind in den letzten Jahren in Ländern ohne irreguläre | |
| Migration – etwa Finnland – ebenso erstarkt wie in solchen mit – etwa | |
| Ungarn. RechtspopulistInnen brauchen nicht unbedingt Flüchtlinge. Trotzdem | |
| schadet es ihnen, wenn immer weniger kommen. | |
| So wie Konservative aus der Ankunft der Flüchtlinge das Ende von Merkel | |
| ableiten, glaubt die AfD, dass die Entwicklung automatisch auf sie zuläuft | |
| und fantasiert von Koalitionen, die sie anführen will. Doch heute kommen in | |
| Deutschland weniger Flüchtlinge an, als selbst die CSU für problematisch | |
| hält: Rechnet man die Januar-Zahlen hoch, werden es 2017 nicht einmal | |
| 200.000. Schon in der letzten Woche ist die AfD, sicher auch deshalb, in | |
| Umfragen auf 8 Prozent gefallen. Arbeitet sie so diszipliniert an ihrer | |
| Selbstzerlegung weiter wie in den letzten Wochen, kann sie sich freuen, | |
| wenn sie im Herbst die Fünfprozenthürde schafft. | |
| Die Katastrophenstimmung, die nach dem Sommer der Flüchtlinge rechts der | |
| Mitte ausgerufen wurde – sie hat sich abgenutzt. | |
| 27 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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