# taz.de -- Flüchtlingspolitik der Türkei: Der Türsteher am Bosporus | |
> Das Abkommen zwischen EU und Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen | |
> ist das bekannteste seiner Art. Migration ist für beide ein häufiger | |
> Streitpunkt. | |
Bild: Das türkische Flüchtlingslager Nizip nahe der syrischen Grenze | |
Der sogenannte EU-Türkei-Deal, also das Abkommen, das die Rücknahme von | |
Flüchtlingen regelt, wurde von Anfang an heftig kritisiert. Die | |
Verhandlungen hatten bereits Ende 2009 begonnen und es war letztlich am 16. | |
Dezember 2013 unterzeichnet worden. Mit der Ratifizierung durch das | |
türkische Parlament am 1. Oktober 2014 wurde es völkerrechtlich | |
verbindlich. | |
Ein entscheidender Streitpunkt war die Visafreiheit für türkische | |
Staatsbürger in der EU, die nach einer Übergangszeit von drei Jahren, ab | |
Oktober 2017, gelten sollte. Im Gegenzug erklärte sich die Türkei bereit, | |
Flüchtlinge zurückzunehmen, die aus Drittländern über die Türkei nach | |
Europa eingereist waren. Unter dem zunehmenden Druck der stark ansteigenden | |
Flüchtlingszahlen innerhalb der EU einigte sie sich mit der Türkei am 18. | |
März 2016 über die konkreten Bedingungen. Zwei Tage später folgte die | |
Ankündigung: Das Abkommen werde am 1. Juni 2016 voll in Kraft treten. | |
In Zukunft können also alle abgelehnten Asylbewerber, die über die Türkei | |
und die Balkanroute nach Europa gekommen waren, zuerst in die Türkei und | |
von dort in die entsprechenden Drittländer zurückgeschickt werden. Im | |
Gegenzug verpflichtete sich die EU bis zu 72.000 Syrer von der Türkei zu | |
übernehmen und diese in Europa zu verteilen und ein neues Kapitel für den | |
Zugang zum Binnenmarkt aufzuschlagen. Drei Milliarden Euro an Hilfsgeldern | |
und die Visafreiheit für türkische Staatsbürger gibt es obendrauf. | |
Im Gegenzug versprach die Türkei, 72 Punkte zu erfüllen. Darunter: die | |
Verbesserung der Kontrolle der türkischen Grenzen und der Zusammenarbeit | |
mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Errichtung von Aufnahme-, | |
Sprach- und Abschiebezentren, die Bemühungen im Kampf gegen Schlepper zu | |
verstärken und den Abschluss bilateraler Rückübernahmeabkommen mit anderen | |
Ländern, um Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer abschieben zu können. Kurz | |
nachdem das Abkommen in Kraft getreten war, kündigte der türkische Minister | |
für EU-Angelegenheiten Volkan Bozkir an, dass die Türkei die Visafreiheit | |
im Oktober oder November 2016 erwarte, falls nicht, bestünde die | |
Möglichkeit, das Abkommen einseitig aufzukündigen. | |
## Bilaterale Abkommen in Europa, Afrika und Asien | |
In Europa hat die Türkei bereits bilaterale Rückübernahmeabkommen mit | |
Griechenland (2002), Rumänien (2004), der Ukraine (2005), | |
Bosnien-Herzegowina (2012), Moldawien (2012), Weißrussland (2013) und | |
Montenegro (2013). | |
Außerhalb Europas hat die Türkei Rückübernahmeabkommen mit Syrien (2001), | |
Kirgistan (2003), Pakistan (2010), Russland (2011), Nigeria (2011) und dem | |
Jemen (2011). Wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gemäß der Genfer | |
Flüchtlingskonvention 1951 ist die Türkei nicht berechtigt, Syrer nach | |
Syrien abzuschieben. Dennoch hat die Türkei viele unter dem Vorwand der | |
„freiwilligen Rückkehr“ nach Syrien zurückgeschickt. | |
Dem türkischen Außenministerium zufolge wurden die Rückführungsabkommen mit | |
Nigeria, dem Jemen und Pakistan weder ratifiziert noch angewandt. Kurz nach | |
Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens ratifizierte das türkische Parlament | |
am 7. April 2016 das Rückübernahmeabkommen mit Pakistan. Dadurch wurde die | |
Rückführung von Menschen mit pakistanischer Staatsbürgerschaft, die von | |
Europa als Wirtschaftsmigranten betrachtet werden, ermöglicht. | |
Staatsangehörige der Länder, mit denen die Türkei funktionierende | |
bilaterale Rückübernahmeabkommen hat, werden theoretisch umgehend in die | |
entsprechenden Länder abgeschoben. Dennoch sieht es so aus, als ob die | |
Türkei diese Menschen für unbestimmte Zeit in Schubhaft festhält. Wo und | |
unter welchen Umständen, dazu äußert sich die türkische Regierung nicht. | |
Die Anzahl der Fälle von Menschenrechtsverletzungen ist enorm. | |
Die Türkei hat ein viel größeres Interesse daran, über die Visafreiheit zu | |
sprechen. Den Informationen des türkischen Amtes für Migration zufolge | |
wurden seit dem Inkrafttreten des Abkommens 721 Menschen, die von der | |
Türkei aus die griechische Küste erreichen konnten, von der EU | |
zurückgeschickt. Die meisten von ihnen stammen aus Pakistan (354), gefolgt | |
von Syrien (82), Afghanistan (72) und Algerien (68). | |
Bislang wurden 1.139 Menschen von Griechenland in die Türkei im Rahmen des | |
Türkei-Griechenland-Abkommens abgeschoben. Jedenfalls basierten alle | |
Rückführungen bisher, egal ob freiwillig oder unfreiwillig, auf einem der | |
folgenden drei Gründe: Die Person stellte keinen Asylantrag, zog den | |
Asylantrag infolge eines negativen Bescheides nach der ersten Anhörung | |
zurück, oder wurde nach Überprüfung der Fluchtgründe abgelehnt. Den | |
türkischen Behörden zufolge wurden im Gegenzug 2.330 Syrer von Europa | |
übernommen, wobei Deutschland (937) den größten Anteil hat. Die Europäische | |
Kommission gibt an, dass bis Ende September im Rahmen des 1:1 Abkommens | |
1.614 Syrer aus der Türkei von Europa übernommen wurden. | |
## Frontex-Einsatz | |
In öffentlichen Stellungnahmen gegenüber der EU und der Bundesrepublik | |
Deutschland behauptet die türkische Regierung, dass sich mit Stichtag 17. | |
November 2016 fast drei Millionen syrische und weitere 400.000 iranische | |
und afghanische Flüchtlinge in der Türkei aufhalten. Wie diese Zahlen | |
zustande kommen, wird nicht offengelegt. Von diesen Flüchtlingen leben rund | |
eine Viertel Million in Lagern, die übrigen in den Städten. | |
Viele Beobachter bezweifeln diese Zahlen mit der Begründung, dass die | |
türkischen Statistiken nicht jene berücksichtigten, die weiter nach Europa | |
geflüchtet sind. 2015 und 2016 veröffentlichte die EU-Grenzschutzagentur | |
Frontex monatlich Zahlen über die illegale Einwanderung von der türkischen | |
Küste zu den griechischen Inseln. An manchen Tagen setzen bis zu 2.000 | |
Flüchtlinge von der türkischen Westküste nach Griechenland über. Seit | |
Abschluss des Flüchtlingsabkommens im März 2016 hat sich die Zahl auf unter | |
50 pro Tag reduziert. | |
Als NATO-Partner und möglichem EU-Beitrittskandidat gab es schon lange Zeit | |
eine Zusammenarbeit der EU-Länder mit der Türkei auf geheimdienstlicher und | |
polizeilicher Ebene. Die Türkei unterzeichnete am 28. Mai 2012 einen | |
Kooperationsvertrag mit Frontex, der zum Ziel hat, dass die Türkei und | |
Frontex operative Erfahrungen und Kenntnisse bei der Grenzkontrolle sowie | |
strategische Informationen austauschen. Die Zusammenarbeit von Frontex mit | |
den türkischen Behörden zielte darauf ab, gemeinsame Projekte zu | |
entwickeln, um die kollektiven Kräfte „im Kampf gegen illegale und | |
irreguläre Migration“ zu stärken. Das Abkommen sollte auch die | |
Möglichkeiten ausloten, gemeinsam koordinierte Rückführungsmaßnahmen in der | |
Ägäis zu entwickeln. | |
Abgesehen von Frontex sind auch NATO-Schiffe zur Unterstützung und | |
Überwachung in der Ägäis vor Ort. Als im Oktober 2015 die | |
Migrationsbewegung von der Türkei nach Griechenland ihren Höhepunkt | |
erreicht hatte, brachte Deutschland seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, | |
dass die Türkei und Frontex nicht ausreichend miteinander kooperieren | |
würden. Im selben Monat kündigte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri an, dass | |
Frontex einen Verbindungsoffizier für Ankara bestellen werde. Zum ersten | |
Mal wurde ein Frontex-Verbindungsoffizier in ein Nicht-EU-Land entsandt. | |
Beide Parteien sahen das als Stärkung ihrer Zusammenarbeit. | |
Leggeri teilte mit, man würde an einer neuen Gesetzgebung arbeiten, die es | |
Frontex ermögliche, Operationen in türkischem Hoheitsgebiet durchzuführen. | |
Das könnte jedoch, so Leggeri, wegen des Ratifizierungsprozesses im | |
Europäischen Rat und im Europaparlament, zwei bis drei Jahre dauern. | |
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am 10. März 2016, dass man mit | |
der Türkei übereingekommen wäre, die Überwachung der Grenze zwischen der | |
Türkei und Syrien zu intensivieren, um das NATO-Mitglied Türkei vor | |
Bedrohungen seines Nachbarlandes Syrien zu schützen. | |
## Grenzkontrollen | |
Das EU-Türkei-Abkommen verlangt zudem, dass Schleuser von türkischen | |
Strafjustizbehörden stärker verfolgt werden. Die Zahlen der türkischen | |
Küstenwache weisen darauf hin, dass die Versuche, das Meer zu überqueren um | |
nach Europa zu gelangen, deutlich zurückgingen, nachdem das Abkommen im | |
März 2016 in Kraft getreten war. Auch sank die Zahl der Menschen, die von | |
der Türkei aus Griechenland erreichten aufgrund der gestiegenen | |
Anstrengungen der türkischen Küstenwache in Verbindung mit der Kooperation | |
von Frontex und NATO in der Ägäis. | |
Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben 2016 nur | |
etwas mehr als 171.000 Menschen nach Griechenland übergesetzt. Das sind | |
viel weniger als die Vergleichszahl von 740.000 im Jahr 2015. Das UNHCR | |
beziffert zwischen 1. Januar und 10. Dezember 2015 mehr als 792.000 | |
Menschen, die Griechenland illegal auf dem Seeweg erreicht hätten. Allein | |
im Oktober 2015 und trotz gefährlicher Wetterbedingungen überquerten mehr | |
als 150.000 Menschen das Mittelmeer von der Türkei nach Griechenland | |
(verglichen mit 8.500 im Oktober 2014). Die meisten, die ankamen waren | |
Syrer. Während die Zahl derer, die versuchten die Ägäis zu überqueren sank, | |
riskierten aber Tausende die viel gefährlichere Mittelmeerroute von Libyen | |
aus, was 2016 den Rekord als tödlichstes Jahr für Migranten beschert. | |
Einer der 72 Punkte des EU-Türkei-Abkommens ist, dass der Zugang zur Türkei | |
für die Bürger jener Länder erschwert werden soll „aus denen illegale | |
Einwanderer in großer Zahl in die EU einreisen“. Nach wiederholten | |
Warnungen der Vereinigten Staaten und der EU, dass die Türkei ihre Grenze | |
zu Syrien schließen müsse, wurde mit dem Bau einer Mauer entlang der | |
gesamten türkisch-syrischen Grenze begonnen, wie in Israel an der Grenze | |
zum Westjordanland. | |
Von dem 911 Kilometer langen Grenzabschnitt sind 200 Kilometer Grenzwall | |
von Hatay bis Kilis bereits fertiggestellt. Die übrigen 700 Kilometer | |
sollen im ersten Halbjahr 2017 fertig werden. Die Kosten werden auf zwei | |
Milliarden Euro geschätzt. Die Mauer besteht aus mobilen, sieben Tonnen | |
schweren Betonblöcken mit NATO-Draht als Abschluss: Drei Meter hoch und | |
zwei Meter breit. Zusätzlich sind ein elektronisches Überwachungssystem, | |
Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Drohnen vorgesehen. Nach der | |
Fertigstellung sollen private Sicherheitsfirmen mit der Überwachung | |
beauftragt werden. | |
Migranten, die Europa über die Türkei erreichen wollen, wählen entweder den | |
Seeweg über die Ägäis zu einer der griechischen Inseln, von denen einige | |
von ihnen sehr nahe an der türkischen Küste liegen, oder sie überqueren den | |
Grenzfluss Meriç (türk.) bzw. Evros (griech.), oder über den Landweg | |
entlang eines 20 Kilometer breiten Grenzstreifen. Dort haben die | |
griechischen Behörden bereits vor einigen Jahren einen ersten Grenzzaun | |
errichtet. | |
Frontex operiert auch entlang der Festlandgrenzen im Einsatz und ist | |
autorisiert, im Auftrag der griechischen Armee zu handeln. Im Norden grenzt | |
Griechenland an Bulgarien, das ebenso begonnen hat Grenzzäune zu errichten, | |
die Grenzüberwachung erheblich verstärkt hat und sogar lokalen Bürgerwehren | |
für Patrouillen einsetzt. Diese Milizen sind dafür bekannt, dass sie | |
Migranten wieder hinter die Grenzlinien befördern. Es wird von Menschen | |
berichtet, die zwischen den beiden Ländern gestrandet und letzten Endes | |
verhungert sind. | |
## Internierung | |
Nach offiziellen Angaben des türkischen Amtes für Migration gibt es derzeit | |
in 17 Städten 19 Abschiebelager mit einer Kapazität von 6.810 Plätzen. | |
Diese sind fast voll, obwohl es keine genauen Angaben über die Anzahl der | |
Internierten gibt. Es gibt Abschiebelager, wie das in Kumkapi in Istanbul, | |
das nicht überfüllt ist, eines der ältesten Abschiebelager in der Türkei. | |
Am 19. November 2016 gelang es 123 Migranten von dort auszubrechen, nachdem | |
sie ihre Zellen in Brand gesetzt hatten. Während der Löscharbeiten der | |
Feuerwehr durchbrachen die Migranten das Hoftor und flohen, trotz der | |
Warnschüsse der Sicherheitskräfte. 20 Entflohene wurden von der Polizei in | |
der Nachbarschaft aufgegriffen und zurückgebracht. Bereits 2014 hatte der | |
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt, dass in Kumpapi | |
Verletzungen der Freiheitsrechte, der Sicherheit, des Rechtes auf Berufung, | |
des Folterverbotes und Misshandlungen vorgekommen waren. | |
Aufgrund der aus dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei entstandenen | |
Verpflichtung werden neue Internierungslager errichtet. In fünf weiteren | |
Städten sollen noch 2016 Lager mit einer Gesamtkapazität von 7.600 Plätzen | |
eröffnet werden. Außerdem sollen 2017 über das Land verteilt acht | |
Abschiebelager mit einer Gesamtkapazität von 2.720 Plätzen eröffnet werden. | |
Das Amt für Migration rechnet somit 2017 mit einer Gesamtkapazität der | |
Internierungszentren von 17.130 Plätzen. | |
Medienberichten und Amnesty International zufolge, deportiert die Türkei | |
Flüchtlinge nach Syrien, Iran und Irak. Es komme häufig vor, dass | |
Flüchtlinge in den Internierungslagern gezwungen werden, Dokumente zu | |
unterschreiben, die sie nicht wirklich verstehen. Mehr als einmal wurden | |
Flüchtlinge aus dem Askale-Internierungslager in Erzurum über den | |
Grenzübergang Cilvegözü bei Reyhanli in der Provinz Hatay zurück nach | |
Syrien abgeschoben. | |
Zudem gibt es Aussagen, dass am 29. November 2016 mehr als 80 Syrer, unter | |
ihnen 9 Frauen und 3 Kinder von Erzurum nach Hatay transportiert und an der | |
syrischen Grenze abgesetzt wurden. Da die Grenze aber auf syrischer Seite | |
nicht unter staatlicher Kontrolle ist, verlangte die dort herrschende | |
radikal-islamistische Miliz Ahrar Al-Sham Auskunft über die ethnische | |
Zugehörigkeit der Häftlinge. Abgesehen von drei Christen wurde der Rest der | |
Gruppe am folgenden Tag zurück in die Türkei geschleust. Das türkische Amt | |
für Migration und der Türkische Rote Halbmond verlangen, dass jede | |
„freiwillige“ Rückkehr nach Syrien unter dem Schutz vom UNHCR garantiert | |
werden soll, aber das UNHCR weist die Erfüllung dieser Forderung als | |
„unmöglich“ zurück. | |
## Finanzielle Hilfe | |
Nach dem Gipfel zwischen der EU und der Türkei am 29. November 2015, | |
kündigte Europa an, finanzielle Hilfe in der Höhe von drei Milliarden Euro | |
bis Ende 2017 zur Verfügung zu stellen. Im März 2016 sagte die EU weitere | |
drei Milliarden bis Ende 2018 zu, falls diese ersten drei Milliarden nicht | |
ausreichen würden. Diese Gelder sollten Syrern zugutekommen und für | |
medizinische Versorgung, Bildung, Infrastrukturmaßnahmen und Lebensmittel | |
verwendet werden. Im September 2016 erklärte der EU-Kommissar für | |
humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Christos Stylianides, dass von den drei | |
Milliarden Euro bereits 652 Millionen freigegeben wurden und, dass dies | |
„das größte humanitäre Hilfsprogramm“ sei, das „die EU jemals finanzie… | |
hätte. | |
Die türkische Regierung kritisierte Brüssel für die langsame und indirekte | |
Freigabe der Mittel, behauptete, dass die Höhe des Betrages nicht stimme | |
und dass es tatsächlich nur 181 Millionen gewesen wären. Der türkische | |
Präsident Recep Tayyip Erdogan griff Europa wiederholt an, indem er | |
beklagte, dass die Türkei bisher beinahe zehn Milliarden Euro an | |
Hilfsgeldern für Syrer ausgegeben habee. Ein Betrag, der sich von sechs | |
Milliarden in einer früheren Äußerung, auf schließlich 13 Milliarden in | |
einer späteren erhöht hatte. | |
Im Vergleich: Das UNHCR beziffert den Gesamtbetrag der humanitären Hilfe, | |
die von der EU an die Türkei im Zuge der Syrienkrise seit ihrem Ausbruch | |
geflossen ist, auf 583 Millionen Euro mit Stand vom September 2016. Im | |
Oktober 2016 erklärte der Präsident der Europäischen Kommission, | |
Jean-Claude Juncker in einem Brief, dass die bisher freigegeben Mittel 652 | |
Millionen betragen, von denen 467 Millionen Euro bereits ausgegeben wurden. | |
Es handle sich dabei um eine Teilsumme von 1,252 Milliarden Euro, die für | |
insgesamt 34 konkrete Projekte zugesagt worden war. | |
2009 gründete die türkische Regierung die „AFAD“, eine Behörde für Kris… | |
und Katastrophenmanagement, die derzeit für die Flüchtlingslager und andere | |
Flüchtlingseinrichtungen verantwortlich ist. AFAD erwartet Unterstützung | |
von der EU für die Errichtung von Schulen, medizinischer Versorgung und | |
Hilfe für Flüchtlinge, die sich auf der syrischen Seite der Grenze | |
befinden. Eines dieser neuen Projekte ist eine Geldkarte, die jeder | |
registrierte Flüchtling erhält. Diese Karte wird mit ungefähr 100 Lira, | |
also umgerechnet 27 Euro, pro Monat aufgeladen, um damit Lebensmittel | |
kaufen zu können. Das Projekt wird in Kooperation mit dem türkischen Roten | |
Halbmond durchgeführt. Die staatlich registrierten Flüchtlinge erhalten | |
einen Personalausweis, der sie berechtigt, sich in türkischen | |
Krankenhäusern kostenlos behandelt zu werden. Laut AFAD-Leiter Fuat Oktay | |
wirken sich die hohen Kosten, die für die Sozialversicherungsträger | |
entstehen, jedoch in jenen Städten, in denen viele syrische Flüchtlinge | |
leben, negativ auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung aus. Deshalb | |
gestattet die Türkei nun syrischen Ärzten, ihre Landsleute zu behandeln. | |
## Das Problem mit der Visafreiheit | |
Gleich nachdem das EU-Abkommen in Kraft getreten war, konzentrierte die | |
Türkei ihre Anstrengungen darauf, all jene Punkte zu erfüllen, die | |
Voraussetzung sind, um türkischen Staatsbürgern den visafreien Zutritt zur | |
EU zu gewähren. Damit die Visafreiheit umgesetzt wird, müssen noch sieben | |
der 72 Punkte erfüllt werden. Darunter: der Abschluss eines operativen | |
Kooperationsabkommens mit der EU-Polizeibehörde EUROPOL, Datenschutzregeln | |
nach EU-Standards, die Einführung von EU-Normen entsprechenden Reisepässen | |
mit biometrischen Daten für türkische Staatsbürger, die Umsetzung der (von | |
der Türkei) beschlossenen Strategie und des Aktionsplanes gegen Korruption, | |
sowie die Umsetzung der Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption | |
(GRECO). | |
Am wichtigsten aber ist die Überarbeitung der türkischen Gesetze und | |
Praktiken gegen den Terrorismus entsprechend europäischer Standards, was | |
eine Anpassung der Definition von Terrorismus beinhaltet, um den | |
Aktionsrahmen besser einzugrenzen. Das ist auch der Punkt, der von der | |
Türkei am heftigsten kritisiert wird. Seit dem Putschversuch im Juli war | |
die Türkei heftiger Kritik ausgesetzt wegen der Säuberungsaktionen und | |
Massenverhaftungen. Hier will die Türkei aber keine Zugeständnisse machen, | |
fühlt sich im Recht, sich selbst und ihre Grundsätze zu verteidigen und | |
wirft Europa Heuchelei und Verständnislosigkeit vor. | |
## Schlepperei und Menschenschmuggel | |
Als die Zahl der Menschen, die Europa auf dem Seeweg erreichen wollten | |
anstieg, initiierte die türkische Küstenwache 2015 die „Aktion sicheres | |
Mittelmeer“ und die „Aktion Hoffnung in der Ägäis“. 2014 wurden nach | |
Informationen der türkischen Küstenwache 574 Vorfälle im Zusammenhang mit | |
Migranten und Schlepperei registriert. Dabei wurden 106 Schlepper | |
festgenommen. 2015 stieg die Zahl der Fälle auf 2430 und 190 Schleuser. | |
2016 waren es bis zum November 762 Fälle, 89 Schlepper wurden verhaftet. | |
Die Zahl der Migranten, die in der Ägäis aufgegriffen wurden, sank während | |
der vergangenen beiden Jahre um mehr als die Hälfte. | |
Der türkische Rote Halbmond gibt an, dass insgesamt 206.000 Flüchtlinge | |
beim Verlassen der Türkei aufgegriffen und mehr als 5.000 Schlepper | |
festgenommen wurden. Diese Zahlen beziehen sich nicht nur auf die | |
Migrationsbewegungen in der Ägäis und im Mittelmeer, sondern auch im Osten, | |
Süden und Südosten der Türkei. Das Amt für Migration beziffert die | |
verhafteten Schlepper 2014 mit 1.506. Im Jahr darauf waren es 4.471. 2016 | |
sind es bis November 3.052. Es wurden härtere Strafen für Schlepper | |
angekündigt. So sollen Schlepper, die für einen Todesfall verantwortlich | |
sind, mit bis zu 16 Jahren Haft bestraft werden können. | |
Es gibt auch Nachweise für extreme Maßnahmen, die in den Grenzregionen von | |
der türkischen Armee ergriffen werden, wie den Einsatz von Schusswaffen. | |
„Im März diesen Jahres erfuhren wir erstmalig davon, dass türkische | |
Grenzposten auf Familien, die die Grenze überqueren wollten, schossen und | |
diese töteten“, berichtet Gerry Simpson von Human Rights Watch. „Seitdem | |
ist es beinahe unmöglich geworden, in die Türkei zu flüchten.“ | |
Vor dem Abkommen mit der EU war es für türkische Behörden Usus, bei | |
Schlepperei einfach wegzusehen. Geschäfte, die gefälschte und | |
nichtfunktionierende Schwimmwesten produzierten, waren der Polizei bekannt. | |
Es wurde von Flüchtlingen berichtet, die vor den Augen der | |
Sicherheitskräfte und ohne deren Eingreifen versuchten, das Meer zu | |
überqueren. Im September 2015 starteten Flüchtlinge eine Initiative | |
„Crossing no more“ (kein Überqueren mehr) als Antwort auf die Toten im | |
Mittelmeer. Um diese Initiative zu torpedieren, verfrachteten türkische | |
Sicherheitskräfte Flüchtlinge aus Istanbul in Busse und luden einige von | |
ihnen nahe Izmir ab, wo sie beinahe aufgefordert wurden, das Meer zu | |
überqueren. Vor dem Abkommen wurden Flüchtlinge, die von der türkischen | |
Polizei, Gendarmerie oder Küstenwache festgenommen worden waren, zuerst in | |
kleinere, nähere Haftanstalten gebracht und dann, üblicherweise nach ein | |
paar Tagen oder sogar am selben Tag noch, mit dem Bus in anatolische Städte | |
gebracht, wo sie „abgesetzt“ wurden. | |
Seit Inkrafttreten des EU-Abkommens wurde in Dikili, das Lesbos gegenüber | |
liegt, ein Auffanglager errichtet, wo Flüchtlinge, die von Griechenland | |
zurückkommen, registriert werden. Dieses und weitere Lager werden mit | |
Mitteln des „Instruments für Heranführungshilfe“ (IPA) der EU finanziert. | |
Ebenso mit Unterstützung von IPA-Geldern initiierte die Türkei 2011 das | |
Projekt „Opfer von Menschenhandel“, das Betroffenen Schutz und Hilfe geben | |
und ein Bewusstsein für die Problematik schaffen soll. Von 2014 bis 2017 | |
läuft ein Projekt, um den Kampf gegen Schlepper politisch, rechtlich, | |
technisch und informativ zu unterstützen, das ebenfalls mit EU-Geldern | |
(ICSP) finanziert wird. Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Moldawien, | |
Pakistan und Albanien nehmen daran teil. | |
12 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Ali Celikkan | |
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