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# taz.de -- Flüchtlingspolitik der Türkei: Der Türsteher am Bosporus
> Das Abkommen zwischen EU und Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen
> ist das bekannteste seiner Art. Migration ist für beide ein häufiger
> Streitpunkt.
Bild: Das türkische Flüchtlingslager Nizip nahe der syrischen Grenze
Der sogenannte EU-Türkei-Deal, also das Abkommen, das die Rücknahme von
Flüchtlingen regelt, wurde von Anfang an heftig kritisiert. Die
Verhandlungen hatten bereits Ende 2009 begonnen und es war letztlich am 16.
Dezember 2013 unterzeichnet worden. Mit der Ratifizierung durch das
türkische Parlament am 1. Oktober 2014 wurde es völkerrechtlich
verbindlich.
Ein entscheidender Streitpunkt war die Visafreiheit für türkische
Staatsbürger in der EU, die nach einer Übergangszeit von drei Jahren, ab
Oktober 2017, gelten sollte. Im Gegenzug erklärte sich die Türkei bereit,
Flüchtlinge zurückzunehmen, die aus Drittländern über die Türkei nach
Europa eingereist waren. Unter dem zunehmenden Druck der stark ansteigenden
Flüchtlingszahlen innerhalb der EU einigte sie sich mit der Türkei am 18.
März 2016 über die konkreten Bedingungen. Zwei Tage später folgte die
Ankündigung: Das Abkommen werde am 1. Juni 2016 voll in Kraft treten.
In Zukunft können also alle abgelehnten Asylbewerber, die über die Türkei
und die Balkanroute nach Europa gekommen waren, zuerst in die Türkei und
von dort in die entsprechenden Drittländer zurückgeschickt werden. Im
Gegenzug verpflichtete sich die EU bis zu 72.000 Syrer von der Türkei zu
übernehmen und diese in Europa zu verteilen und ein neues Kapitel für den
Zugang zum Binnenmarkt aufzuschlagen. Drei Milliarden Euro an Hilfsgeldern
und die Visafreiheit für türkische Staatsbürger gibt es obendrauf.
Im Gegenzug versprach die Türkei, 72 Punkte zu erfüllen. Darunter: die
Verbesserung der Kontrolle der türkischen Grenzen und der Zusammenarbeit
mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die Errichtung von Aufnahme-,
Sprach- und Abschiebezentren, die Bemühungen im Kampf gegen Schlepper zu
verstärken und den Abschluss bilateraler Rückübernahmeabkommen mit anderen
Ländern, um Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer abschieben zu können. Kurz
nachdem das Abkommen in Kraft getreten war, kündigte der türkische Minister
für EU-Angelegenheiten Volkan Bozkir an, dass die Türkei die Visafreiheit
im Oktober oder November 2016 erwarte, falls nicht, bestünde die
Möglichkeit, das Abkommen einseitig aufzukündigen.
## Bilaterale Abkommen in Europa, Afrika und Asien
In Europa hat die Türkei bereits bilaterale Rückübernahmeabkommen mit
Griechenland (2002), Rumänien (2004), der Ukraine (2005),
Bosnien-Herzegowina (2012), Moldawien (2012), Weißrussland (2013) und
Montenegro (2013).
Außerhalb Europas hat die Türkei Rückübernahmeabkommen mit Syrien (2001),
Kirgistan (2003), Pakistan (2010), Russland (2011), Nigeria (2011) und dem
Jemen (2011). Wegen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gemäß der Genfer
Flüchtlingskonvention 1951 ist die Türkei nicht berechtigt, Syrer nach
Syrien abzuschieben. Dennoch hat die Türkei viele unter dem Vorwand der
„freiwilligen Rückkehr“ nach Syrien zurückgeschickt.
Dem türkischen Außenministerium zufolge wurden die Rückführungsabkommen mit
Nigeria, dem Jemen und Pakistan weder ratifiziert noch angewandt. Kurz nach
Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens ratifizierte das türkische Parlament
am 7. April 2016 das Rückübernahmeabkommen mit Pakistan. Dadurch wurde die
Rückführung von Menschen mit pakistanischer Staatsbürgerschaft, die von
Europa als Wirtschaftsmigranten betrachtet werden, ermöglicht.
Staatsangehörige der Länder, mit denen die Türkei funktionierende
bilaterale Rückübernahmeabkommen hat, werden theoretisch umgehend in die
entsprechenden Länder abgeschoben. Dennoch sieht es so aus, als ob die
Türkei diese Menschen für unbestimmte Zeit in Schubhaft festhält. Wo und
unter welchen Umständen, dazu äußert sich die türkische Regierung nicht.
Die Anzahl der Fälle von Menschenrechtsverletzungen ist enorm.
Die Türkei hat ein viel größeres Interesse daran, über die Visafreiheit zu
sprechen. Den Informationen des türkischen Amtes für Migration zufolge
wurden seit dem Inkrafttreten des Abkommens 721 Menschen, die von der
Türkei aus die griechische Küste erreichen konnten, von der EU
zurückgeschickt. Die meisten von ihnen stammen aus Pakistan (354), gefolgt
von Syrien (82), Afghanistan (72) und Algerien (68).
Bislang wurden 1.139 Menschen von Griechenland in die Türkei im Rahmen des
Türkei-Griechenland-Abkommens abgeschoben. Jedenfalls basierten alle
Rückführungen bisher, egal ob freiwillig oder unfreiwillig, auf einem der
folgenden drei Gründe: Die Person stellte keinen Asylantrag, zog den
Asylantrag infolge eines negativen Bescheides nach der ersten Anhörung
zurück, oder wurde nach Überprüfung der Fluchtgründe abgelehnt. Den
türkischen Behörden zufolge wurden im Gegenzug 2.330 Syrer von Europa
übernommen, wobei Deutschland (937) den größten Anteil hat. Die Europäische
Kommission gibt an, dass bis Ende September im Rahmen des 1:1 Abkommens
1.614 Syrer aus der Türkei von Europa übernommen wurden.
## Frontex-Einsatz
In öffentlichen Stellungnahmen gegenüber der EU und der Bundesrepublik
Deutschland behauptet die türkische Regierung, dass sich mit Stichtag 17.
November 2016 fast drei Millionen syrische und weitere 400.000 iranische
und afghanische Flüchtlinge in der Türkei aufhalten. Wie diese Zahlen
zustande kommen, wird nicht offengelegt. Von diesen Flüchtlingen leben rund
eine Viertel Million in Lagern, die übrigen in den Städten.
Viele Beobachter bezweifeln diese Zahlen mit der Begründung, dass die
türkischen Statistiken nicht jene berücksichtigten, die weiter nach Europa
geflüchtet sind. 2015 und 2016 veröffentlichte die EU-Grenzschutzagentur
Frontex monatlich Zahlen über die illegale Einwanderung von der türkischen
Küste zu den griechischen Inseln. An manchen Tagen setzen bis zu 2.000
Flüchtlinge von der türkischen Westküste nach Griechenland über. Seit
Abschluss des Flüchtlingsabkommens im März 2016 hat sich die Zahl auf unter
50 pro Tag reduziert.
Als NATO-Partner und möglichem EU-Beitrittskandidat gab es schon lange Zeit
eine Zusammenarbeit der EU-Länder mit der Türkei auf geheimdienstlicher und
polizeilicher Ebene. Die Türkei unterzeichnete am 28. Mai 2012 einen
Kooperationsvertrag mit Frontex, der zum Ziel hat, dass die Türkei und
Frontex operative Erfahrungen und Kenntnisse bei der Grenzkontrolle sowie
strategische Informationen austauschen. Die Zusammenarbeit von Frontex mit
den türkischen Behörden zielte darauf ab, gemeinsame Projekte zu
entwickeln, um die kollektiven Kräfte „im Kampf gegen illegale und
irreguläre Migration“ zu stärken. Das Abkommen sollte auch die
Möglichkeiten ausloten, gemeinsam koordinierte Rückführungsmaßnahmen in der
Ägäis zu entwickeln.
Abgesehen von Frontex sind auch NATO-Schiffe zur Unterstützung und
Überwachung in der Ägäis vor Ort. Als im Oktober 2015 die
Migrationsbewegung von der Türkei nach Griechenland ihren Höhepunkt
erreicht hatte, brachte Deutschland seine Besorgnis darüber zum Ausdruck,
dass die Türkei und Frontex nicht ausreichend miteinander kooperieren
würden. Im selben Monat kündigte Frontex-Direktor Fabrice Leggeri an, dass
Frontex einen Verbindungsoffizier für Ankara bestellen werde. Zum ersten
Mal wurde ein Frontex-Verbindungsoffizier in ein Nicht-EU-Land entsandt.
Beide Parteien sahen das als Stärkung ihrer Zusammenarbeit.
Leggeri teilte mit, man würde an einer neuen Gesetzgebung arbeiten, die es
Frontex ermögliche, Operationen in türkischem Hoheitsgebiet durchzuführen.
Das könnte jedoch, so Leggeri, wegen des Ratifizierungsprozesses im
Europäischen Rat und im Europaparlament, zwei bis drei Jahre dauern.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am 10. März 2016, dass man mit
der Türkei übereingekommen wäre, die Überwachung der Grenze zwischen der
Türkei und Syrien zu intensivieren, um das NATO-Mitglied Türkei vor
Bedrohungen seines Nachbarlandes Syrien zu schützen.
## Grenzkontrollen
Das EU-Türkei-Abkommen verlangt zudem, dass Schleuser von türkischen
Strafjustizbehörden stärker verfolgt werden. Die Zahlen der türkischen
Küstenwache weisen darauf hin, dass die Versuche, das Meer zu überqueren um
nach Europa zu gelangen, deutlich zurückgingen, nachdem das Abkommen im
März 2016 in Kraft getreten war. Auch sank die Zahl der Menschen, die von
der Türkei aus Griechenland erreichten aufgrund der gestiegenen
Anstrengungen der türkischen Küstenwache in Verbindung mit der Kooperation
von Frontex und NATO in der Ägäis.
Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben 2016 nur
etwas mehr als 171.000 Menschen nach Griechenland übergesetzt. Das sind
viel weniger als die Vergleichszahl von 740.000 im Jahr 2015. Das UNHCR
beziffert zwischen 1. Januar und 10. Dezember 2015 mehr als 792.000
Menschen, die Griechenland illegal auf dem Seeweg erreicht hätten. Allein
im Oktober 2015 und trotz gefährlicher Wetterbedingungen überquerten mehr
als 150.000 Menschen das Mittelmeer von der Türkei nach Griechenland
(verglichen mit 8.500 im Oktober 2014). Die meisten, die ankamen waren
Syrer. Während die Zahl derer, die versuchten die Ägäis zu überqueren sank,
riskierten aber Tausende die viel gefährlichere Mittelmeerroute von Libyen
aus, was 2016 den Rekord als tödlichstes Jahr für Migranten beschert.
Einer der 72 Punkte des EU-Türkei-Abkommens ist, dass der Zugang zur Türkei
für die Bürger jener Länder erschwert werden soll „aus denen illegale
Einwanderer in großer Zahl in die EU einreisen“. Nach wiederholten
Warnungen der Vereinigten Staaten und der EU, dass die Türkei ihre Grenze
zu Syrien schließen müsse, wurde mit dem Bau einer Mauer entlang der
gesamten türkisch-syrischen Grenze begonnen, wie in Israel an der Grenze
zum Westjordanland.
Von dem 911 Kilometer langen Grenzabschnitt sind 200 Kilometer Grenzwall
von Hatay bis Kilis bereits fertiggestellt. Die übrigen 700 Kilometer
sollen im ersten Halbjahr 2017 fertig werden. Die Kosten werden auf zwei
Milliarden Euro geschätzt. Die Mauer besteht aus mobilen, sieben Tonnen
schweren Betonblöcken mit NATO-Draht als Abschluss: Drei Meter hoch und
zwei Meter breit. Zusätzlich sind ein elektronisches Überwachungssystem,
Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Drohnen vorgesehen. Nach der
Fertigstellung sollen private Sicherheitsfirmen mit der Überwachung
beauftragt werden.
Migranten, die Europa über die Türkei erreichen wollen, wählen entweder den
Seeweg über die Ägäis zu einer der griechischen Inseln, von denen einige
von ihnen sehr nahe an der türkischen Küste liegen, oder sie überqueren den
Grenzfluss Meriç (türk.) bzw. Evros (griech.), oder über den Landweg
entlang eines 20 Kilometer breiten Grenzstreifen. Dort haben die
griechischen Behörden bereits vor einigen Jahren einen ersten Grenzzaun
errichtet.
Frontex operiert auch entlang der Festlandgrenzen im Einsatz und ist
autorisiert, im Auftrag der griechischen Armee zu handeln. Im Norden grenzt
Griechenland an Bulgarien, das ebenso begonnen hat Grenzzäune zu errichten,
die Grenzüberwachung erheblich verstärkt hat und sogar lokalen Bürgerwehren
für Patrouillen einsetzt. Diese Milizen sind dafür bekannt, dass sie
Migranten wieder hinter die Grenzlinien befördern. Es wird von Menschen
berichtet, die zwischen den beiden Ländern gestrandet und letzten Endes
verhungert sind.
## Internierung
Nach offiziellen Angaben des türkischen Amtes für Migration gibt es derzeit
in 17 Städten 19 Abschiebelager mit einer Kapazität von 6.810 Plätzen.
Diese sind fast voll, obwohl es keine genauen Angaben über die Anzahl der
Internierten gibt. Es gibt Abschiebelager, wie das in Kumkapi in Istanbul,
das nicht überfüllt ist, eines der ältesten Abschiebelager in der Türkei.
Am 19. November 2016 gelang es 123 Migranten von dort auszubrechen, nachdem
sie ihre Zellen in Brand gesetzt hatten. Während der Löscharbeiten der
Feuerwehr durchbrachen die Migranten das Hoftor und flohen, trotz der
Warnschüsse der Sicherheitskräfte. 20 Entflohene wurden von der Polizei in
der Nachbarschaft aufgegriffen und zurückgebracht. Bereits 2014 hatte der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt, dass in Kumpapi
Verletzungen der Freiheitsrechte, der Sicherheit, des Rechtes auf Berufung,
des Folterverbotes und Misshandlungen vorgekommen waren.
Aufgrund der aus dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei entstandenen
Verpflichtung werden neue Internierungslager errichtet. In fünf weiteren
Städten sollen noch 2016 Lager mit einer Gesamtkapazität von 7.600 Plätzen
eröffnet werden. Außerdem sollen 2017 über das Land verteilt acht
Abschiebelager mit einer Gesamtkapazität von 2.720 Plätzen eröffnet werden.
Das Amt für Migration rechnet somit 2017 mit einer Gesamtkapazität der
Internierungszentren von 17.130 Plätzen.
Medienberichten und Amnesty International zufolge, deportiert die Türkei
Flüchtlinge nach Syrien, Iran und Irak. Es komme häufig vor, dass
Flüchtlinge in den Internierungslagern gezwungen werden, Dokumente zu
unterschreiben, die sie nicht wirklich verstehen. Mehr als einmal wurden
Flüchtlinge aus dem Askale-Internierungslager in Erzurum über den
Grenzübergang Cilvegözü bei Reyhanli in der Provinz Hatay zurück nach
Syrien abgeschoben.
Zudem gibt es Aussagen, dass am 29. November 2016 mehr als 80 Syrer, unter
ihnen 9 Frauen und 3 Kinder von Erzurum nach Hatay transportiert und an der
syrischen Grenze abgesetzt wurden. Da die Grenze aber auf syrischer Seite
nicht unter staatlicher Kontrolle ist, verlangte die dort herrschende
radikal-islamistische Miliz Ahrar Al-Sham Auskunft über die ethnische
Zugehörigkeit der Häftlinge. Abgesehen von drei Christen wurde der Rest der
Gruppe am folgenden Tag zurück in die Türkei geschleust. Das türkische Amt
für Migration und der Türkische Rote Halbmond verlangen, dass jede
„freiwillige“ Rückkehr nach Syrien unter dem Schutz vom UNHCR garantiert
werden soll, aber das UNHCR weist die Erfüllung dieser Forderung als
„unmöglich“ zurück.
## Finanzielle Hilfe
Nach dem Gipfel zwischen der EU und der Türkei am 29. November 2015,
kündigte Europa an, finanzielle Hilfe in der Höhe von drei Milliarden Euro
bis Ende 2017 zur Verfügung zu stellen. Im März 2016 sagte die EU weitere
drei Milliarden bis Ende 2018 zu, falls diese ersten drei Milliarden nicht
ausreichen würden. Diese Gelder sollten Syrern zugutekommen und für
medizinische Versorgung, Bildung, Infrastrukturmaßnahmen und Lebensmittel
verwendet werden. Im September 2016 erklärte der EU-Kommissar für
humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Christos Stylianides, dass von den drei
Milliarden Euro bereits 652 Millionen freigegeben wurden und, dass dies
„das größte humanitäre Hilfsprogramm“ sei, das „die EU jemals finanzie…
hätte.
Die türkische Regierung kritisierte Brüssel für die langsame und indirekte
Freigabe der Mittel, behauptete, dass die Höhe des Betrages nicht stimme
und dass es tatsächlich nur 181 Millionen gewesen wären. Der türkische
Präsident Recep Tayyip Erdogan griff Europa wiederholt an, indem er
beklagte, dass die Türkei bisher beinahe zehn Milliarden Euro an
Hilfsgeldern für Syrer ausgegeben habee. Ein Betrag, der sich von sechs
Milliarden in einer früheren Äußerung, auf schließlich 13 Milliarden in
einer späteren erhöht hatte.
Im Vergleich: Das UNHCR beziffert den Gesamtbetrag der humanitären Hilfe,
die von der EU an die Türkei im Zuge der Syrienkrise seit ihrem Ausbruch
geflossen ist, auf 583 Millionen Euro mit Stand vom September 2016. Im
Oktober 2016 erklärte der Präsident der Europäischen Kommission,
Jean-Claude Juncker in einem Brief, dass die bisher freigegeben Mittel 652
Millionen betragen, von denen 467 Millionen Euro bereits ausgegeben wurden.
Es handle sich dabei um eine Teilsumme von 1,252 Milliarden Euro, die für
insgesamt 34 konkrete Projekte zugesagt worden war.
2009 gründete die türkische Regierung die „AFAD“, eine Behörde für Kris…
und Katastrophenmanagement, die derzeit für die Flüchtlingslager und andere
Flüchtlingseinrichtungen verantwortlich ist. AFAD erwartet Unterstützung
von der EU für die Errichtung von Schulen, medizinischer Versorgung und
Hilfe für Flüchtlinge, die sich auf der syrischen Seite der Grenze
befinden. Eines dieser neuen Projekte ist eine Geldkarte, die jeder
registrierte Flüchtling erhält. Diese Karte wird mit ungefähr 100 Lira,
also umgerechnet 27 Euro, pro Monat aufgeladen, um damit Lebensmittel
kaufen zu können. Das Projekt wird in Kooperation mit dem türkischen Roten
Halbmond durchgeführt. Die staatlich registrierten Flüchtlinge erhalten
einen Personalausweis, der sie berechtigt, sich in türkischen
Krankenhäusern kostenlos behandelt zu werden. Laut AFAD-Leiter Fuat Oktay
wirken sich die hohen Kosten, die für die Sozialversicherungsträger
entstehen, jedoch in jenen Städten, in denen viele syrische Flüchtlinge
leben, negativ auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung aus. Deshalb
gestattet die Türkei nun syrischen Ärzten, ihre Landsleute zu behandeln.
## Das Problem mit der Visafreiheit
Gleich nachdem das EU-Abkommen in Kraft getreten war, konzentrierte die
Türkei ihre Anstrengungen darauf, all jene Punkte zu erfüllen, die
Voraussetzung sind, um türkischen Staatsbürgern den visafreien Zutritt zur
EU zu gewähren. Damit die Visafreiheit umgesetzt wird, müssen noch sieben
der 72 Punkte erfüllt werden. Darunter: der Abschluss eines operativen
Kooperationsabkommens mit der EU-Polizeibehörde EUROPOL, Datenschutzregeln
nach EU-Standards, die Einführung von EU-Normen entsprechenden Reisepässen
mit biometrischen Daten für türkische Staatsbürger, die Umsetzung der (von
der Türkei) beschlossenen Strategie und des Aktionsplanes gegen Korruption,
sowie die Umsetzung der Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption
(GRECO).
Am wichtigsten aber ist die Überarbeitung der türkischen Gesetze und
Praktiken gegen den Terrorismus entsprechend europäischer Standards, was
eine Anpassung der Definition von Terrorismus beinhaltet, um den
Aktionsrahmen besser einzugrenzen. Das ist auch der Punkt, der von der
Türkei am heftigsten kritisiert wird. Seit dem Putschversuch im Juli war
die Türkei heftiger Kritik ausgesetzt wegen der Säuberungsaktionen und
Massenverhaftungen. Hier will die Türkei aber keine Zugeständnisse machen,
fühlt sich im Recht, sich selbst und ihre Grundsätze zu verteidigen und
wirft Europa Heuchelei und Verständnislosigkeit vor.
## Schlepperei und Menschenschmuggel
Als die Zahl der Menschen, die Europa auf dem Seeweg erreichen wollten
anstieg, initiierte die türkische Küstenwache 2015 die „Aktion sicheres
Mittelmeer“ und die „Aktion Hoffnung in der Ägäis“. 2014 wurden nach
Informationen der türkischen Küstenwache 574 Vorfälle im Zusammenhang mit
Migranten und Schlepperei registriert. Dabei wurden 106 Schlepper
festgenommen. 2015 stieg die Zahl der Fälle auf 2430 und 190 Schleuser.
2016 waren es bis zum November 762 Fälle, 89 Schlepper wurden verhaftet.
Die Zahl der Migranten, die in der Ägäis aufgegriffen wurden, sank während
der vergangenen beiden Jahre um mehr als die Hälfte.
Der türkische Rote Halbmond gibt an, dass insgesamt 206.000 Flüchtlinge
beim Verlassen der Türkei aufgegriffen und mehr als 5.000 Schlepper
festgenommen wurden. Diese Zahlen beziehen sich nicht nur auf die
Migrationsbewegungen in der Ägäis und im Mittelmeer, sondern auch im Osten,
Süden und Südosten der Türkei. Das Amt für Migration beziffert die
verhafteten Schlepper 2014 mit 1.506. Im Jahr darauf waren es 4.471. 2016
sind es bis November 3.052. Es wurden härtere Strafen für Schlepper
angekündigt. So sollen Schlepper, die für einen Todesfall verantwortlich
sind, mit bis zu 16 Jahren Haft bestraft werden können.
Es gibt auch Nachweise für extreme Maßnahmen, die in den Grenzregionen von
der türkischen Armee ergriffen werden, wie den Einsatz von Schusswaffen.
„Im März diesen Jahres erfuhren wir erstmalig davon, dass türkische
Grenzposten auf Familien, die die Grenze überqueren wollten, schossen und
diese töteten“, berichtet Gerry Simpson von Human Rights Watch. „Seitdem
ist es beinahe unmöglich geworden, in die Türkei zu flüchten.“
Vor dem Abkommen mit der EU war es für türkische Behörden Usus, bei
Schlepperei einfach wegzusehen. Geschäfte, die gefälschte und
nichtfunktionierende Schwimmwesten produzierten, waren der Polizei bekannt.
Es wurde von Flüchtlingen berichtet, die vor den Augen der
Sicherheitskräfte und ohne deren Eingreifen versuchten, das Meer zu
überqueren. Im September 2015 starteten Flüchtlinge eine Initiative
„Crossing no more“ (kein Überqueren mehr) als Antwort auf die Toten im
Mittelmeer. Um diese Initiative zu torpedieren, verfrachteten türkische
Sicherheitskräfte Flüchtlinge aus Istanbul in Busse und luden einige von
ihnen nahe Izmir ab, wo sie beinahe aufgefordert wurden, das Meer zu
überqueren. Vor dem Abkommen wurden Flüchtlinge, die von der türkischen
Polizei, Gendarmerie oder Küstenwache festgenommen worden waren, zuerst in
kleinere, nähere Haftanstalten gebracht und dann, üblicherweise nach ein
paar Tagen oder sogar am selben Tag noch, mit dem Bus in anatolische Städte
gebracht, wo sie „abgesetzt“ wurden.
Seit Inkrafttreten des EU-Abkommens wurde in Dikili, das Lesbos gegenüber
liegt, ein Auffanglager errichtet, wo Flüchtlinge, die von Griechenland
zurückkommen, registriert werden. Dieses und weitere Lager werden mit
Mitteln des „Instruments für Heranführungshilfe“ (IPA) der EU finanziert.
Ebenso mit Unterstützung von IPA-Geldern initiierte die Türkei 2011 das
Projekt „Opfer von Menschenhandel“, das Betroffenen Schutz und Hilfe geben
und ein Bewusstsein für die Problematik schaffen soll. Von 2014 bis 2017
läuft ein Projekt, um den Kampf gegen Schlepper politisch, rechtlich,
technisch und informativ zu unterstützen, das ebenfalls mit EU-Geldern
(ICSP) finanziert wird. Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Moldawien,
Pakistan und Albanien nehmen daran teil.
12 Dec 2016
## AUTOREN
Ali Celikkan
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