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# taz.de -- Syrische Geflüchtete in der Türkei: Ausputzer und Sündenböcke
> Hunderttausende Syrer sind in der Türkei ohne Arbeitserlaubnis
> beschäftigt. Das führt zu Ausbeutung und Missgunst.
Bild: Syrische Geflüchtete bei einem Nähkurs in einem türkischen Flüchtling…
Ankara taz | Vor zwei Jahren kam Mohammed Zaghnoun als Flüchtling aus dem
syrischen Aleppo in die Türkei. Heute arbeitet er in einer Möbelfabrik in
Ankara und verdient 408 Euro im Monat – 54 Euro über dem Mindestlohn. Auf
eine Art hat er damit Glück: Viele der etwa 3 Millionen Syrer in der Türkei
haben überhaupt keinen Job. Tatsächlich aber wird er ausgebeutet.
Zaghnoun arbeitet zwölf Stunden am Tag, fünfeinhalb Tage die Woche –
eineinhalb mal so ĺange wie die gesetzliche Wochenarbeitszeit. Ein
türkischer Kollege verdient 47 Prozent mehr und erhält darüber hinaus
staatliche Zuwendungen.
„Der Boss sagte immer, ‚wir sorgen für deine Sozialversicherung‘, aber d…
kam es nie“, sagt Zaghnoun. Deswegen den Mund aufzumachen, traut er sich
nicht: „Mein Boss könnte mich sehr leicht ersetzen.“ Alle sechs Wochen
fährt Zaghnoun quer durch die Stadt zur Flüchtlingsbehörde in einem
Armenviertel, wo er eine Kiste mit Mehl, Speiseöl oder Reis im Wert von
9,40 Euro überreicht bekommt. Finanziert von ausländischen Spendern und
Kirchen, werden 700 solcher Essenspakete pro Woche an Flüchtlinge verteilt.
Viele von ihnen haben einen Job und stehen dennoch geduldig in der Schlage,
weil ihre Löhne so niedrig sind.
Flüchtlingsarbeit ist in der Türkei ein so großer Faktor geworden, dass der
Gewerkschaftsdachverband Tisk im vergangenen Jahr Druck auf die Regierung
machte, den Syrern die Aufnahme einer Berufstätigkeit zu erlauben. Tisk
argumentierte, dass das Fehlen einer entsprechenden Regelung dazu führte,
dass Betriebe, die Syrer als billige Arbeitskräfte einsetzen, einen
Wettbewerbsvorteil gegenüber Betrieben hätten, die nach Gesetz bezahlten.
Experten loben Fortschritt, Fakten sprechen andere Sprache
Im Januar verabschiedete die Regierung eine Regelung, mit der Syrer eine
Arbeitserlaubnis erhalten konnten. Und sie führte eine Quote ein, um zu
verhindern, dass Syrer Türken von ihren Arbeitsplätzen verdrängen. Maximal
10 Prozent der Beschäftigen eines Unternehmens dürfen aus Syrien stammen.
Experten lobten die Regelungen als Fortschritt in einem Land, das mehr
Flüchtlinge unterbringt als jedes andere in der Welt.
Die Türkei habe eine Pionierrolle bei der Integration von Flüchtlingen in
seine Wirtschaft, sagte Nicholas Grisewood von der Internationalen
Arbeitsorganisation auf der Konferenz „Anständige Arbeit für alle“ im
September in Ankara: „Die Lektionen, die Sie hier lernen, werden
Bezugsgrößen für den Rest der Welt werden.“
Aber die Fakten sprechen eine andere Sprache. Bis Ende Oktober hatten nur
10.000 Syrer eine Arbeitserlaubnis erhalten, sagt eine Quelle aus dem
Umfeld des türkischen Arbeitsministeriums der taz. Niemand weiß, wie viele
Syrer in der Türkei arbeiten. Schätzungen rangieren zwischen 600.000 bis
über einer Million – legal arbeiten demnach maximal 2 Prozent. Dabei ist
eine Arbeitserlaubnis der Schlüssel, um den Mindestlohn zu erhalten, um
staatliche Zuwendungen zu bekommen und überhaupt das Recht auf Bezahlung zu
haben.
## Halber Lohn
Pınar Odabaşı von der türkischen Hilfsorganisation IMPR Humanitarian sagt
der taz, dass jeden Tag Syrer zu ihr ins Büro kommen und klagen, dass ihr
Arbeitgeber sie nicht bezahlt hat. IMPR sagt ihnen dann, dass sie ihren
Lohn ohne Arbeitserlaubnis nicht einklagen können, weil sie illegal
gearbeitet haben.
Ein großes Manko der Regelungen ist, dass Syrer die Arbeitserlaubnis nicht
selbst beantragen können. Nur ihr Arbeitgeber kann sie in ihrem Namen
beantragen. Wenn ein Arbeitgeber das tut, muss er für die Erlaubnis eine
Gebühr von 152 Euro zahlen und ist dann verpflichtet, den Mindestlohn von
354 Euro pro Monat plus 94 Euro für Kranken- und Sozialversicherung zu
zahlen.
Hassan, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, erzählt, dass er 18
Monate lang in einem Laden gearbeitet hat, zur Hälfte des Lohns seiner
türkischen Kollegen. Auf einem heruntergekommenen Motorrad mit
heraushängenden Drähten sitzend sagt er: „Wenn ich meinen Boss gefragt
hätte, ob er mir eine Arbeitserlaubnis besorgen kann, hätte er mich
rausgeschmissen.“
Zaghnoun, der Möbeltischler, erzählt, wann immer Regierungsinspektoren zur
Fabrik kamen, wurde er von seinem Boss für zwei Stunden vor die Tür
geschickt.
Bewusstsein für Arbeitsrechte schaffen
Arbeitgeber, die Syrer ohne Erlaubnis beschäftigen, können mit einem
Bußgeld von bis zu 1.600 Euro pro Arbeiter bestraft werden. Aber die
Kontrollen sind nicht wirklich ernstzunehmen. Die Gewerkschaft Tisk sagt,
dass lokale Behörden „bemerkenswert zögerlich“ gegen Arbeitgeber vorginge…
die Syrer illegal beschäftigen. Stadträte rechtfertigten sich damit, dass
die Syrer schließlich Jobs bräuchten.
Ein Beamter aus dem Arbeitsministerium, Zeynep Daldal, sagte bei der
Konferenz „Anständige Arbeit für alle“, dass nur wenige Arbeitserlaubnisse
ausgestellt worden seien, weil nur wenige Anträge dafür eingegangen seien.
„Wir werden das lösen, indem wir das Bewusstsein dafür steigern“, sagte
Daldal.
Daran fehlt es tatsächlich. Viele der Syrer, die mit der taz gesprochen
haben, wussten nicht, dass sie ein Recht auf eine Arbeitserlaubnis sowie
Kranken- und Sozialversicherung haben. „Einige Arbeitgeber wissen auch
nicht, dass sie verpflichtet sind, Syrern Arbeitserlaubnisse zu
beschaffen“, sagt Odabaşı von IMPR. Sie sagen immer: „Diese Syrer sind
Ausländer. Warum sollten wir ihnen eine Kranken- und Sozialversicherung
geben?“
Kein Arbeitgeber berichtet der taz davon, dass er illegal Syrer
beschäftigt. Hakan Ataman von der NGO Helsinki Citizens’ Assembly sagt
jedoch: „Die meisten Arbeitgeber wollen keine Arbeitserlaubnisse
beantragen, weil sie dann den Mindestlohn und die Abgaben zahlen müssen.“
Husam Mashaan, ein Zimmermann aus Hama in Syrien, verdient umgerechnet 425
Euro im Monat, aber er arbeitet zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche.
Er ist einer von drei Arbeitern, die anderen beiden sind Türken. Sein
Arbeitgeber überschreitet damit die Zehnprozentquote.
Die Regierung hatte die Quote eingeführt, um zu kontrollieren, wo die Syrer
arbeiten. Aber wenn 98 Prozent unregistriert arbeiten, dann hat der Staat
keine Kontrolle. Wo Syrer leben und arbeiten, bestimmen allein die Kräfte
des Markts. Und das kann politische Auswirkungen haben. Am Tag nach dem
Putschversuch im Juli randalierten Türken im Bezirk Onder in Ankara und
warfen die Scheiben syrischer Läden ein.
Die türkische Wirtschaft ist im Abschwung. Die Arbeitslosigkeit ist auf
11,3 Prozent geklettert, und die Syrer sind willkommene Sündenböcke.
„Selbst wenn die Syrer nicht wirklich Einfluss auf die Arbeitslosenzahlen
haben, sagen doch viele, dass sie daran schuld sind“, sagt Ataman. In
diesem Klima sind die Syrer zu Mitopfern der allgemeinen Misere und der
fehlenden Kontrolle der Regierung über den Arbeitsmarkt geworden. Doch auch
Türken sind von der Misere betroffen. Manchen wird der Mindestlohn
verwehrt, anderen die Kranken- und Sozialversicherung.
Auf die Frage, was gegen die Ausbeutung der Syrer unternommen werden kann,
sagt der Politikwissenschaftler Elif Ozmenek Carmikli: „Die Gesellschaft
empfindet das nicht als Ausbeutung. Niemand klagt die Arbeitgeber deswegen
an. Im Gegenteil, sie sagen: Es ist gut, dass ihr die beschäftigt. Ihr
helft ihnen. Wir haben es hier mit einer vollkommen anderen Einstellung zu
tun.“ Die Regierung sieht das genauso, sagt Çarmıklı. „Die lokalen Beamt…
finden es gut, wenn die Syrer Arbeit haben; dass sie ausgebeutet werden,
stört sie nicht weiter.“ Das Arbeitsministerium verweigert jede
Stellungnahme.
Trotz dieser Härten sind die meisten Syrer der Türkei dankbar. Mashaan, der
Zimmermann, sagt, seine Frau habe in der Türkei schon zwei Kinder geboren,
und der Staat übernahm die Krankenhauskosten. „Ich bin in der Türkei
glücklich und zufrieden“, sagt er.
Übersetzung: Bernd Pickert
30 Dec 2016
## AUTOREN
Jasper Mortimer
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
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Schwerpunkt Flucht
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Türkei Syrien
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