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# taz.de -- Aufnahmeland Türkei: Vom Flüchtling zum Staatsbürger?
> Nach einem Vorstoß Erdoğans dominiert die Frage der Integration von
> Syrern die Debatte. Die Opposition ist sich in ihrer Ablehnung einig.
Bild: Syrer bei der Arbeit in einer Textilfabrik in der türkischen Stadt Gazia…
Istanbul taz | „Wir teilen unser Brot, wir sind großzügig und hilfsbereit,
ja, aber die Staatsbürgerschaft verschenken, nur um damit zusätzliche
Wählerstimmen zu gewinnen, das ist völlig unverantwortlich.“ Mit dieser
Feststellung von Devlet Bahçeli, dem Parteichef der ultranationalistischen
MHP, sind ausnahmsweise auch die Vorsitzenden der beiden anderen
Oppositionsparteien völlig einverstanden.
Syrische Flüchtlinge im Vorzugsverfahren die türkische Staatsbürgerschaft
anzubieten, schüre nur den Nationalismus und die Ablehnung der Syrer, sagt
Selahattin Demirtaș, Ko-Chef der kurdisch-linken HDP. Der Vorsitzende der
sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, fordert, ein
Referendum über diese Frage abzuhalten.
Ausgangspunkt der Debatte war eine wohl kalkulierte Intervention von
Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Bei dem Besuch eines syrischen
Flüchtlingslagers sagte er: „Wir werden unseren Brüdern und Schwestern aus
Syrien anbieten, türkische Staatsbürger zu werden, damit sie sich in
unserem Land mit allen Rechten und Pflichten integrieren können.“
Wenig später fügte er hinzu, Syrer sollten auch eine doppelte
Staatsbürgerschaft bekommen können, „wie unsere Leute in Deutschland oder
den USA“. Seitdem beherrscht das Thema die Innenpolitik.
## Opposition: Erdogan schielt nach neuen Wählern
Die Opposition glaubt, dass Erdoğan sich lediglich ein zusätzliches
Wählerreservoir erschließen will, weil wohl 90 Prozent der eingebürgerten
Syrer die AKP wählen würden.
CHP und HDP befürchten darüber hinaus, dass die Einbürgerung von bis zu 3
Millionen Syrern zu einer weiteren Arabisierung und Islamisierung der
Türkei führen würde. Statt den Terror zu bekämpfen, schenke man
potenziellen Kämpfern des „Islamischen Staats“ die Staatsbürgerschaft,
kritisierte Kılıçdaroğlu und spricht damit aus, was viele Türken
befürchten.
Sprecher der Regierung, wie Vizeministerpräsident Numan Kurtulmuş, weisen
daher darauf hin, dass nur eine kleinere Gruppe von syrischen Flüchtlingen
für die Einbürgerung infrage komme. „Wir wollen Leute, die gut ausgebildet
sind, möglichst bereits Türkisch sprechen und in der Türkei investieren
wollen, an unser Land binden“, sagte Kurtulmuş zur Begründung der
Initiative. Sie betreffe höchstens 300.000 Flüchtlinge und nicht 3
Millionen.
## Asyl nur für Europäer
Doch die Opposition bleibt skeptisch. „Diese gut ausgebildeten Syrer sind
doch längst in Europa“, schrieb der Kolumnist Murat Yetkin, das könne also
nicht der Grund sein. Tatsächlich dürfte es eine Reihe von Gründen für
Erdoğans Vorstoß geben.
Rechtlich sind syrische Flüchtlinge in der Türkei lediglich geduldete
Gäste, aber keine anerkannten Flüchtlinge. Das liegt daran, dass die Türkei
die UN-Flüchtlingskonvention lediglich mit einem Gebietsvorbehalt
unterschrieben hat: Nur Flüchtlinge aus Europa können in der Türkei Asyl
beantragen.
Da sich aber längst abzeichnet, dass viele Syrer über Jahre, wenn nicht
Jahrzehnte, in der Türkei bleiben werden, brauchen sie einen gesicherten,
legalen Status. Die Staatsbürgerschaft wäre eine Lösung, die aber wohl den
meisten Türken und auch vielen Syrern zu weit geht.
## Wut auf Syrer in Beysehir
Samer al-Kadri, der den einzigen syrischen Buchladen in Istanbul betreibt,
sagte gegenüber der Zeitung Hürriyet: „Letztlich bin ich Syrer und will es
auch bleiben. Man sollte eine andere Lösung finden.“ Rawasal Samman, ein
Rechtsanwalt aus Aleppo, sagte in derselben Reportage: „Warum ändern sie
nicht ihr Flüchtlingsgesetz und geben uns ganz regulär Asyl, das wäre doch
viel einfacher.“
Unterdessen wächst in der Bevölkerung die Wut auf die „Gäste“. Nachdem es
in Beysehir, einer konservativen AKP-Hochburg, zu einer gewalttätigen
Auseinandersetzung zwischen türkischen und syrischen Jugendlichen gekommen
war, explodierte der Hass in der Stadt. Syrische Läden wurden zertrümmert
und seit Tagen fordert eine wütende Menge, alle Syrer müssten die Stadt
verlassen.
14 Jul 2016
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Recep Tayyip Erdoğan
Syrische Flüchtlinge
Schwerpunkt Türkei
Jakob Augstein
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Flucht
Syrische Flüchtlinge
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