| # taz.de -- Kommentar Doppelte Staatsbürgerschaft: Den Ernstfall herbeischreib… | |
| > Der Publizist Jakob Augstein sorgt sich um die Folgen der doppelten | |
| > Staatsangehörigkeit. Dabei offenbart er ein Weltbild bar jeden | |
| > Realitätssinnes. | |
| Bild: Es kann nur einen geben. Oder? | |
| Der Putsch in der Türkei und die massive Gegenreaktion, mit der Präsident | |
| Erdogan und die AKP-Regierung das Land immer weiter in die Nähe einer | |
| Diktatur rücken, erhitzt die Gemüter – auch in Deutschland. Das ist | |
| verständlich, entbindet aber nicht von der intellektuellen Pflicht, einen | |
| kühlen Kopf zu bewahren und nicht hysterisch um sich zu schlagen. Leider | |
| hält sich daran nicht jeder, auch nicht jeder Journalist. | |
| Jakob Augstein zum Beispiel verkündet in seiner Kolumne für Spiegel Online | |
| „Im Zweifel links“ namens ungenannter anderer: „[1][Wir haben uns geirrt]… | |
| Der Irrtum bestehe darin, dass Linke und Liberale die doppelte | |
| Staatsbürgerschaft einmal für ein progressives Projekt gehalten haben – das | |
| sei sie aber nicht, denn Augstein zufolge zeigen türkischstämmige Menschen | |
| in Deutschland, die neben dem türkischen auch einen deutschen Pass haben, | |
| nun ihr wahres Gesicht: Sie bekennen Farbe, und zu Augsteins Entsetzen | |
| diesmal nicht in Schwarz-Rot-Gold. | |
| Deutlich weniger als die erwarteten 50.000 Demonstranten in Köln reichen | |
| offensichtlich aus, um Augstein an der Demokratietauglichkeit aller ca. | |
| drei Millionen „Türken in Deutschland“ zweifeln zu lassen und sich dabei | |
| besonders auf jene 500.000 einzuschießen, denen bedauerlicherweise die | |
| Möglichkeit geboten wurde, „sich nicht entscheiden zu müssen“ zwischen der | |
| deutschen und der türkischen Staatsbürgerschaft. Umfragen oder Statistiken | |
| scheint er für dieses Urteil vom Schreibtisch aus nicht zu benötigen; nicht | |
| mal Anekdoten vom „Türken um die Ecke“, der neben Börek und Bier auch | |
| leidenschaftliche Meinungen zur türkischen Politik im Angebot hat, bekommt | |
| der Leser von Augstein mitgeteilt. Der Mangel an jeglicher empirischen | |
| Evidenz ist aber nicht das einzige Problem dieses ebenso schlecht | |
| durchdachten wie politisch bedenklichen Textes. | |
| Zunächst kann nur als Provinzialismus gedeutet werden, dass Augstein die | |
| ziemlich banale Realität der Mehrfachstaatsbürgerschaft im internationalen | |
| Maßstab vollkommen ignoriert. Dass sich in anderen Ländern sowie in der | |
| wissenschaftlichen Diskussion kaum jemand findet, der darin ein Problem zu | |
| erkennen vermag, scheint ihn nicht zu kümmern. Gegen [2][den | |
| internationalen Trend] einer zunehmenden Normalisierung und Verbreitung von | |
| dualer Staatsbürgerschaft will Augstein zurück auf [3][den deutschen | |
| Sonderweg]. | |
| ## Inquisitorischer Ton | |
| Warum? Augstein meint, man könne nicht „zweierlei Souverän“ sein und nicht | |
| zwei Staaten gegenüber Loyalität bezeugen. Das ist aber nur dann ein | |
| Problem, wenn man ein sehr spezifisches – deutsches? auf den Ernstfall | |
| ausgerichtetes? – Verständnis von Souveränität zugrunde legt. In der | |
| alltäglichen Lebenswelt und politischen Erfahrung von Menschen mit | |
| doppelter Staatsbürgerschaft stellt sich der Ausnahmefall selten ein und | |
| Fragen der Loyalität stellen allenfalls Zöllner beim Grenzübertritt, wenn | |
| sie den türkischen Namen im deutschen Reisepass entdecken. Vor diesem | |
| Hintergrund und angesichts der sowieso schon angespannten Lage ist es | |
| unnötig und verantwortungslos, den Ernstfall herbeischreiben. | |
| Der Staatsbürgerschaft werden gewöhnlich [4][drei Dimensionen | |
| zugeschrieben]: Sie ist Ausdruck politischer Identität und Zugehörigkeit, | |
| ein mit bestimmten Rechten verbundener Status und berechtigt zur | |
| politischen Partizipation als gleichwertiges Mitglied der Gemeinschaft. In | |
| keiner dieser drei Dimensionen ergibt sich die dramatische Zerreissprobe, | |
| die Augstein nun gekommen sieht. Und niemand muss sich aufgrund seiner | |
| Staatsbürgerschaft skandalöse Aussagen von Regierungsvertretern – und seien | |
| sie gewählt – vorhalten lassen, vor allem nicht im inquisitorischen Ton, | |
| mit dem Augstein Loyalitätsbekundungen einfordert. | |
| Augsteins Behauptung „Nur wer den Bürger als Konsumenten sieht und den | |
| Staat als Dienstleister, für den machen mehrfache Staatsbürgerschaften | |
| tatsächlich Sinn“ zeigt nicht nur, dass er mit Praxis und Theorie doppelter | |
| Staatsbürgerschaft wenig bekannt ist (die Bundeszentrale für Politische | |
| Bildung wäre da, auch was mögliche Einwände betrifft, [5][eine erste | |
| Anlaufstelle]). Sie lässt auch vermuten, dass er sich für die | |
| Lebensrealität seiner Landsleute mit doppelter Staatsangehörigkeit einfach | |
| nicht interessiert. Sonst würde er nicht so arrogant von den mannigfaltigen | |
| – rechtlichen, sozialen, kulturellen, politischen – Gründen absehen, die es | |
| faktisch für sie gibt, nicht nur Deutsche zu werden, sondern, zum Beispiel, | |
| eben auch Türken zu bleiben. | |
| ## Religion als Ausschluss | |
| Sorgen bereiten Augstein aber nicht nur „die Türken“ – so nennt er deuts… | |
| Staatsbürger, die auch noch die türkische Staatsbürgerschaft haben, und man | |
| fragt sich, was ihn dazu berechtigt und ob er dazu auch Kinder aus | |
| binationalen Ehen zählt (dass er keine Probleme damit hat, „die Türken“ a… | |
| homogenes politisches Subjekt zu charakterisieren, [6][hat er schon zuvor | |
| bewiesen]). Noch bedrohlicher erscheint die von ihm prophezeite „große | |
| Migrationsbewegung“, in deren Zuge „Hunderttausende“ nach Deutschland | |
| kommen werden – Syrer, Afghanen, Iraker! | |
| Ehemalige „Gastarbeiter“, deren Kinder und Kindeskinder sowie die | |
| Flüchtlinge der Gegenwart und Zukunft werden von Augstein so über einen | |
| Kamm geschert, ohne dass ausgesprochen wird, was genau sie denn nun | |
| verbinde. Und zugleich werden die Aspiranten auch feinsäuberlich separiert, | |
| denn Bürger aus EU-Ländern sollen Augstein zufolge natürlich weiterhin die | |
| doppelte Staatsbürgerschaft haben dürfen – die (aus mehrheitlich | |
| islamischen Ländern stammenden) anderen hingegen, wie lange sie auch hier | |
| leben: niemals. (Zugeschriebene) Religionszugehörigkeit wird so zum | |
| Ausschlusskriterium. | |
| Dass Menschen in Deutschland problematische politische Einstellungen haben, | |
| wird man eher durch politische Auseinandersetzung und den Abbau politischer | |
| und sozialer Formen des Ausschlusses, als durch den reaktionären Rückbau | |
| des Staatsbürgerrechts ändern. Augstein rät aber lieber – bar jeglicher | |
| Empirie und Argumentation – zur scheinbar einfachsten Lösung, wobei auch | |
| völlig offenbleibt, was für eine Lösung das denn sein soll, wenn er „den | |
| Türken“ die deutsche Staatsbürgerschaft nicht wieder entziehen will. | |
| Reaktionär und politisch gefährlich ist seine Positionierung im zunehmend | |
| populistischen aufgeheizten Diskursklima allemal. Das ist im Zweifel weder | |
| links, noch liberal, noch demokratisch. | |
| 8 Aug 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/doppelpass-fuer-deutschtuerken-wa… | |
| [2] https://www.palgrave.com/us/book/9780230006546 | |
| [3] http://www.hup.harvard.edu/catalog.php?isbn=9780674131781 | |
| [4] http://plato.stanford.edu/entries/citizenship/ | |
| [5] http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/57278/einwaende?p=all | |
| [6] https://twitter.com/Augstein/status/755095223785648129 | |
| ## AUTOREN | |
| Robin Celikates | |
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