# taz.de -- Debatte Integration: Doppelpässe braucht das Land! | |
> Alle reden von Parallelgesellschaften und mangelnder Integration. | |
> Deutschland hat es versäumt, Einwanderer als BürgerInnen zu behandeln. | |
Bild: Bürgerrechte und Integration gehören zusammen | |
Die deutsch-türkische Krise wird von den Kritikern der deutschen | |
Integrationspolitik als Steilvorlage missbraucht: Deutschland soll versäumt | |
haben, von Migranten mehr Assimilation einzufordern, weniger Doppelpässe zu | |
verteilen – und vor allem habe man sich zu wenig in die Wohnzimmer der | |
Einwanderer eingemischt, da hätten die sich plötzlich gefühlt wie zu Hause. | |
Deutschland soll angeblich versäumt haben, klare Ansagen zu machen, und | |
hätte jeden so machen lassen, wie er wolle. | |
Dieses rosarote Einwandererparadies, von dem hier die Rede ist, durfte ich | |
leider nicht kennen lernen. Erfahrungen wie meine zählen wenig – uns haben | |
stets sogenannte Experten gesagt, wie wir hier zu leben haben. Dass nun | |
gerade diese vergessen, dass Deutschland immer „gefordert“ hat, immer | |
geizig war mit dem Aufenthaltsstatus und immer gönnerhaft auf deutsches | |
Recht verwies, wenn es um die Vergabe von Duldungen ging? Abschrecken hieß | |
die Devise der Kohl-Ära, der Ausländer soll sich hier auf keinen Fall | |
willkommen fühlen. | |
Nur eins hat Deutschland wirklich versäumt: die hier lebenden Türken und | |
Deutschen mit Doppelpass oder sonstige Eingewanderte politisch | |
anzusprechen. Viele zitieren gerne Max Frisch: „Wir riefen Arbeitskräfte, | |
doch es kamen Menschen.“ Mir fehlt bei diesem Zitat die Dimension „Bürger�… | |
In einem Staat ist die Einheit, die zählt, der Staatsbürger. Zu Menschen | |
kann ich freundlich sein oder human, doch ein Bürger, der hat Rechte. | |
Es sind harte Zeiten für die deutsch-türkischen Beziehungen. Und wenn wir | |
mehr richtig gemacht hätten, dann wären es jetzt noch mehr Türkeistämmige, | |
die zum Beispiel die Pressefreiheit verteidigen würden in diesen Tagen. Sie | |
hätten die Wählermacht, mit jenen Werten, die sie hier als positiv erfahren | |
haben, in die Türkei hineinzuwirken. Stattdessen ist an der | |
deutsch-türkischen Krise wieder der Kampf gegen die eigene | |
Integrationspolitik entbrannt: Man habe zu viel Multikulti gestattet, zu | |
viel Diversity, zu viele Hinterhöfe. | |
## Auf den Hinterhof gedrängt | |
Als hätten Migranten mit ihren Vereinsaktivitäten nicht gerne die | |
Top-Adresse bespielt. Die Hinterhöfe waren das, was sie bekamen. | |
Deutschland wollte nie Multikulti, es wollte sehr lange auch keine | |
sichtbare Diversität, wie man an der personellen Besetzung der leitenden | |
Institutionen dieses Landes ablesen kann. In Deutschland ist ein tiefes | |
Missverständnis über Diversität weit verbreitet: Sie ist kein Laissez-faire | |
des Zusammenlebens der Verschiedenen. Diversität ist, im Gegenteil, das | |
Strukturieren und Lenken der Verschiedenheit im Sinne eines großen | |
Gemeinsamen. Es geht darum, die Stärken zu entdecken und hervorzuheben, sie | |
so ins große Ganze zu integrieren, dass es dieses stärkt. | |
In Deutschland wird Multikulti verstanden als ein Sammelsurium an | |
Parallelwelten mit Desinteresse am Anderen. Eine Fehldeutung: Es geht nicht | |
darum, kleine nationale Provinzen innerhalb einer Nation zu schaffen, | |
sondern eine Gesellschaft, in der sich noch die kleinsten Einheiten als | |
Teil derselben verstehen. Doch es gab jahrzehntelang keine politische | |
Ansprache, die sich an Einwanderer richtete. | |
Bei der ersten Generation kann man nicht von Bürgerinnen und Bürgern | |
sprechen, ohne ihr Schicksal zu beschönigen. Erst letzte Woche erzählte mir | |
ein Einwanderer, er habe nicht einmal ein Bürgerbegehren in seinem | |
Stadtteil unterzeichnen können. Weil er kein Bürger ist, kann er nichts für | |
seinen Stadtteil begehren. Er lebe seit vierzig Jahren hier und habe kein | |
Wahlrecht. Sein Nachbar, EU-Ausländer, habe nach wenigen Monaten bei den | |
Kommunalwahlen wählen dürfen. | |
## Deals und Wertediskussionen | |
Vierzig Jahre lang kein Bürger. Unterdessen kam regelmäßig der Staatschef | |
aus der Heimat, die man verlassen hatte, und meinte diese Nichtbürger, | |
behandelte sie wie die Staatsbürger, die sie waren. Womit wir wieder beim | |
Versäumnis wären: Wir haben es hierzulande versäumt, selbst zu diesen | |
Menschen zu sprechen. Es sind nicht zu viele Doppelpässe ausgehändigt | |
worden, sondern zu wenige. | |
Die Medien stürzten sich in den letzten Monaten auf die Berichterstattung | |
über die USA, während der europäische Nachbar, der nicht in die EU darf, | |
still die Aufgabe übernahm, die EU vor ihrem Rechtsruck zu retten. Dieses | |
Europa, das der Türkei nun per Expertenurteil die Demokratiefähigkeit in | |
Frage stellt, vergibt seine demokratischen Rechte per Deal an die Türkei – | |
und möchte dann Wertediskurse führen. | |
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg zeigte sich zuletzt, dass | |
beispielsweise Russlanddeutsche eher rechts wählen, weil sie ihre | |
Informationen von russischen Sendern beziehen und auch der politische | |
Nachwuchs kaum Persönlichkeiten hervorgebracht hat, die es verstehen, in | |
diese Communities hineinzureden. | |
Die 1,4 Millionen türkischen BürgerInnen hierzulande, die Erdoğan für sein | |
Referendum offensichtlich dringend braucht, konnten in Deutschland nicht | |
Teil des demokratischen Prozesses sein. Weshalb also sollten gerade sie die | |
Demokratie verteidigen? Schließlich wurde sie ihnen jahrzehntelang | |
vorenthalten und kaum einer fand es schlimm. | |
## Nicht ins Wahlrecht integriert | |
Wie viele Politikerinnen hierzulande sind bei ihren Wahlkämpfen gezielt zu | |
den hier lebenden Minderheiten gegangen? Deutschland hat versäumt, die | |
Minderheiten zu integrieren: Ihre Interessen stehen kaum in den | |
Parteiprogrammen und nur selten sind politische Maßnahmen auf ihre | |
Lebenslagen zugeschnitten. Ins Wahlrecht sind sie nicht integriert, nicht | |
einmal kommunal. Sie waren Nachbarn, aber nicht Mitbürger. Höchste Zeit, | |
dass auch Politiker in diesem Land zu den Menschen sprechen, die in ihrem | |
Land leben, statt sich neue Integrationsdrangsalierungen auszudenken und | |
der Mehrheitsgesellschaft als Integrationspolitik zu verkaufen. | |
Es ist Zeit, mit den Einwanderern über Demokratie zu reden, über | |
Pressefreiheit, über den Wert einer vitalen Zivilgesellschaft. Es ist Zeit, | |
dass deutsche Politiker mit Deutschlands Einwanderern und deren Nachfahren | |
über Bürgerrechte reden, dass sie sich hinstellen und sagen: Du bist | |
gemeint. Dann werden auch Eingewanderte sagen können: Mein Politiker. Meine | |
Politikerin. Meine Werte. Mein Land. | |
23 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Jagoda Marinić | |
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Jakob Augstein | |
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