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# taz.de -- Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Neue Heimat Istanbul
> Für Zehntausende ist die Türkei nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach
> Europa. Manche aber bleiben und wagen den Neuanfang.
Bild: Er mag Istanbul: Samer Alkadri, der die Buchhandlung „Pages“ betreibt
Istanbul taz | Ein von Bäumen beschatteter Platz, in Pastelltönen
gestrichene alte Häuser und kleine Läden, in denen Händler historische
Drucke, Taschen, Stoffschals und Souvenirs feilbieten. In einem der
ältesten Viertel Istanbuls, das ansonsten eher triste Billigbauten aus den
sechziger und siebziger Jahren bestimmen, hat Samer Alkadri einen Ort
geschaffen für die Gestrandeten der Kriege, deren Existenz die Bomben und
Artilleriegeschosse begraben haben, deren Sehnsüchte und Träume sie aber
nicht zerstören konnten.
Das „Pages“ befindet sich in einem sorgsam restaurierten Holzhaus, das in
einer Sackgasse nahe dem Platz zwischen windschiefen, halb verfallenen
Holzhäusern dunkelgrün leuchtet. Die Buchhandlung ist ein Treffpunkt für
junge Kulturschaffende und Aktivisten. Die meisten Besucher sind wie Samer
Alkadri Syrer.
Unter den mehr als 3.000 Titeln, die seine Buchhandlung führt, finden sich
ins Arabische übersetzte Klassiker der Weltliteratur wie George Orwells
„1984“ oder Gabriel Garcia Marquez’„Hundert Jahre Einsamkeit“. Besond…
gefragt ist der autobiografische Roman „Die Muschel“, in dem Mustafa
Khalifa die Qualen und Erniedrigungen in einem berüchtigten syrischen
Gefängnis literarisch verarbeitet hat.
Wem das Geld für den Kauf der Bücher fehlt, kann sie gegen eine kleine
Gebühr ausleihen oder hier lesen, wie die beiden jungen Männer, die in
einer Ecke vornüber gebeugt an einem niedrigen Tisch sitzen und sich eifrig
Notizen machen.
## Künstler und Verleger
„Es gibt so viele Talente“, sagt Alkadri. „Man muss ihnen nur eine Chance
geben.“ Aber diese Chance in Istanbul zu finden, ist für junge Syrer, die
kein Türkisch können und um das tägliche Überleben kämpfen müssen, nicht
leicht. Deshalb stellen sich auch im „Pages“ viele die Frage, die fast alle
Syrer umtreibt, die in die Türkei geflohen sind: Weiterziehen in Richtung
Europa oder bleiben?
Die Antwort auf die Frage ist seit dem Abkommen zwischen Brüssel und Ankara
noch drängender geworden. Die EU hat der Türkei sechs Milliarden Euro Hilfe
zur Unterstützung der Flüchtlinge und Visafreiheit für türkische
Staatsbürger in Aussicht gestellt, damit sie gegen Schlepperbanden vorgeht
und ihre Westgrenze dicht macht. Nato-Kriegsschiffe überwachen die Seeroute
zwischen der Türkei und Griechenland, um den regen Verkehr der
Schlepperboote zu unterbinden.
Allein im Januar und Februar 2016 hatten mehr als 120.000 Menschen die
Überfahrt gewagt. Doch seit die Umsetzung des Deals am 20. März begonnen
hat, ist die Zahl derer, die es nach Griechenland schaffen, drastisch
zurückgegangen. Gleichzeitig werden Flüchtlinge aus Griechenland zurück in
die Türkei deportiert. Trotzdem versuchen es täglich Dutzende weiter.
Arbeit, Bildung und die Aussicht auf Einbürgerung nach ein paar Jahren
nennt Alkadri als die wichtigsten Motive seiner Landsleute für die Flucht
nach Europa. Er sei sich sicher, dass mindestens ein Fünftel der Syrer in
die Türkei zurückkehren werde, wenn ihnen die türkische Regierung das
garantiere. Für sich selbst hat der 42-Jährige die Frage entschieden. „Ich
habe mich in Istanbul verliebt – das Meer, die kleinen Straßen, die
Menschen.“
## Die dritte Flucht
Für den Maler, Grafiker und Verleger, der mit seinen halblangen Haaren und
den Bändchen am Arm auch in einem der trendigen Istanbuler Szenelokale zu
Hause sein könnte, ist es bereits die dritte Flucht. Er war acht Jahre alt,
als das syrische Regime in seiner Geburtsstadt Hama einen Aufstand der
Muslimbrüder niederschlug und große Teile der Stadt dem Erdboden
gleichmachte.
Die Familie floh nach Damaskus, wo Alkadri Kunst und Grafikdesign studierte
und später einen Verlag gründete. Dann kam der Aufstand. Alkadri war gerade
auf einer Buchmesse im Ausland, als ihn im Sommer 2012 sein Vater anrief
und ihm sagte, der Geheimdienst sei in seinem Büro aufgetaucht. „Ich
wusste, was das bedeutet.“
Gemeinsam mit seiner Frau, einer bekannten Kinderbuchillustratorin, und den
beiden Töchtern zog er nach Amman. Langweilig, nennt er die jordanische
Hauptstadt. Ein Jahr hielt er es dort aus, dann zog er an den Bosporus, vor
zehn Monaten machte er dann das „Pages“ auf. Im obersten Stock gibt es
einen Raum nur für Kinder, wo sie lesen, malen und spielen können. „Wenn
ich schon im Exil leben muss, dann hier“, sagt Alkadri. „Istanbul ist eine
Mischung aus Damaskus und dem Westen. Du kannst hier zur Moschee gehen,
aber auch Alkohol trinken, wenn dir danach ist.“
## Syrer gelten als fleißig
Im Gegensatz zu Alkadri würde Abdul Malik aus dem ostsyrischen Hasaka viel
dafür geben, könnte er nach Europa. Doch sein Vater will nicht. Der alte
Mann ist fromm und hat Angst, seine beiden Töchter könnten von westlichen
Sitten verdorben werden. Und so bleibt Abdul Malik nichts anderes übrig,
als zwölf Stunden für umgerechnet weniger als 20 Euro am Tag und das sieben
Tage die Woche zu schuften. In einem billigen Kebabrestaurant serviert er
das Essen und räumt die Teller ab. Wenn er krank ist, bekommt er keinen
Lohn. Trotzdem nennt Malik seinen Chef einen „guten Patron“, weil dieser
ihn im Krankheitsfall nicht gleich feuert und ihn noch nie gedemütigt hat.
Abdul Malikis prekäre Lage könnte sich ändern, wenn das kürzlich
verabschiedete Gesetz über Arbeitsbewilligungen umgesetzt wird. Dann
könnten Arbeitgeber Syrer ganz legal beschäftigen, müssten sie versichern
und könnten sie nicht von einem Tag auf den anderen vor die Tür setzen.
In Aksaray, wo sich das Billiglokal befindet, schuften viele Syrer unter
Bedingungen wie Abdul Malik. „Die Syrer sind fleißig und arbeiten hart“,
sagt Abdullah Bugrahan. Der Uigure ist selbst Flüchtling. Vor 18 Jahren kam
er aus China nach Istanbul, zum Studium. „Die Türkei ist zwar nicht
perfekt, aber sie ist trotzdem viel freier als China.“ Deshalb ist er
geblieben, mittlerweile hat er die türkische Staatsbürgerschaft angenommen
und eine Familie gegründet.
## „Sie sind unsere Gäste“
Bugrahan hat sich emporgearbeitet. Neben zwei Import- und Exportfirmen
betreibt er seit ein paar Monaten an der großen Ausfallstraße von Aksaray
ein Lokal für uigurische Spezialitäten. „Ich habe Türken ein Drittel mehr
als den gesetzlichen Mindestlohn geboten. Trotzdem habe ich niemanden
gefunden.“Jetzt beschäftigt er zwei Syrer in der Küche. „Die Türken sind
faul. Es gibt genug Arbeit, aber sie hocken lieber in Cafés herum und
erwarten, dass sich die Regierung um sie kümmert.“
Obwohl der Uigure die Syrer in höchsten Tönen lobt, hofft er, dass sie die
Türkei bald wieder verlassen. „Sie sind unsere Gäste, und als Muslime
müssen wir uns um sie kümmern“, sagt er. „Aber ich hoffe, dass der Krieg
bald zu Ende ist und sie nach Hause zurückkehren können.“ Wie Bugrahan
denken viele Türken. Dass sich ihr Wunsch so bald erfüllt, ist eher
unwahrscheinlich.
In den engen Straßen nahe der Metrostation von Aksaray sieht man sie: die
Syrer, die sich mit Rucksäcken, Taschen und kleinen Kindern im Arm
bereithalten für die riskante Weiterfahrt Richtung Europa. Andere aber
haben sich dafür entschieden, in eine Zukunft hier, in der Türkei zu
investieren. Rund um die Metrostation eröffneten in den letzten Jahren
viele syrische Läden und Restaurants, die mit zweisprachigen
arabisch-türkischen Reklametafeln um Kundschaft werben.
## Geschäfte von Syrern für Syrer
In einer Nebenstraße hat Mohammed Rihawi vor Kurzem einen kleinen
Supermarkt eröffnet. Vor eineinhalb Jahren waren er und seine Familie aus
Aleppo geflohen, weil sie nicht mehr wussten, wie sie überleben sollten.
„Unser Haus lag an der Frontlinie, auf der einen Seite kämpfte das Regime,
auf der anderen die Freie Syrische Armee. Als ich mit meinem Bruder und
seinem achtjährigen Sohn rausging, um nach Essen zu suchen, schossen sie
auf uns“, erzählt der hagere 41-Jährige. „Ein Kind sollte so etwas nicht
erleben. Da sind wir gegangen.“
Ein halbes Jahr lang lebte die Familie von den Ersparnissen ihres
Brautmodengeschäfts daheim in Aleppo. Rihawi überlegte, ob er sich dem
Treck nach Deutschland, wo inzwischen zahlreiche Freunde und Verwandte
lebten, anschließen sollte. „Zum Glück ist nichts daraus geworden“, sagt …
im Rückblick. „Inzwischen bereuen es viele. Sie waren blauäugig, haben
geglaubt, dass in Deutschland Milch und Honig fließt. Hier ist es hart,
aber der Lebensstil und die Kultur sind ähnlich wie bei uns.“
Und so beschloss Rihawi, sein Geld nicht in die Flucht, sondern in einen
Laden in einer Shopping-Mall zu investieren. Nach einem halben Jahr musste
er wieder schließen. Wieder stand er ganz am Anfang und überlegte, was er
tun soll. „Es war deprimierend. Aber war soll man tun? So ist das Leben
eben. Man darf nicht aufgeben.“
Rihawi gab nicht auf. Als ihm ein Bekannter von dem Laden in Aksaray
erzählte, schlug er zu. Das Sortiment ist auf die syrische Kundschaft
ausgerichtet: Gewürze, Kaffee, Seifen, Papiertücher, fast alles kommt
entweder direkt aus Syrien oder wird von syrischen Firmen in der Türkei
produziert. Nur das Gemüse stammt von türkischen Bauern. „Ja, ich habe Geld
verloren. Aber es geht aufwärts, von Tag zu Tag“, sagt Rihawi. „Unsere
Wohnung hier ist nicht so schön und groß wie unser Haus in Aleppo, aber es
geht uns gut. Was will man mehr?“
## Sehnsucht nach Damaskus
Im „Pages“ packt ein Musiker seine Gitarre aus und stimmt ein populäres
Lied an, das die Schönheit von Damaskus besingt. Spontan gesellt sich eine
junge Frau zu ihm und stimmt mit heller Stimme in das Lied ein. Leise
lächelnd blickt ihnen Alkadri zu. „Istanbul ist mir zur zweiten Heimat
geworden“, sagt er. „Aber sobald das Regime gestürzt ist, kehre ich
zurück.“
Das sollten wir unbedingt schreiben, sagt er mit Nachdruck: nicht wenn der
Krieg vorbei, sondern das Regime gestürzt ist. In drei Stunden sei er zu
Hause, so lange wie es mit dem Taxi vom Platz an der berühmten Chorakirche
zum Flughafen und von dort mit dem Flugzeug nach Damaskus dauert. „Istanbul
ist schön. Nur Damaskus ist noch schöner.“
30 Apr 2016
## AUTOREN
Inga Rogg
## TAGS
Syrische Flüchtlinge
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