# taz.de -- Popfeministische Band Doctorella: Gegen die Jungsstrukturen | |
> Kerstin und Sandra Grether prägten den deutschen Popfeminismus. Die | |
> Kritik am Chauvi-Musikbusiness wohnt ihrem neuen Album subtil inne. | |
Bild: Eindeutig positioniert, auch wenn sie ihre Songs gerne ideologiefrei halt… | |
Kerstin und Sandra Grether haben in ein schlicht und edel eingerichtetes | |
Café in Berlin-Prenzlauer Berg geladen. Vor ihnen auf dem Tisch stehen | |
Kuchen, Weißwein und Cappuccino. Beide tragen dicken roten Lippenstift und | |
helles Make-Up. Armringe klimpern, Halsketten baumeln. Kerstins blonder | |
Pony ist akkurat gestutzt, Sandras fransige Frisur wirkt etwas | |
Neue-Deutsche-Welle-mäßig, die Ohrringe blitzen silbern. | |
Die Zwillingsschwestern sind Sängerinnen und Songwriterinnen der Band | |
Doctorella. In der Hand hält Sandra den Anlass für das Interview, die | |
Vinylversion ihres neuen Albums „Ich will alles von dir wissen“. | |
Das Cover ist knallig rot wie die Lippen der beiden, saftig rote Erdbeeren | |
und Gladiolen zerfließen darauf, mittig sieht man ein Foto, auf dem die | |
Schwestern mit roter Bluse, rotem Rock und roten Mündern posieren. | |
Grafisch erinnert es an Prince’ „Purple Rain“-Cover. So viel Rot, so viel | |
Früchte, so vieles zum Anbeißen deshalb, weil das große Thema des Albums | |
die Liebe ist. Mit Blick auf das Covermotiv stellt Kerstin fest: „Man | |
möchte eigentlich selbst die Erdbeere sein.“ | |
## Riot-Grrls + Pop | |
Bislang sind die Grether-Zwillinge, Jahrgang 1975, weniger mit ihrer Band | |
Doctorella wahrgenommen worden – sondern vor allem als streitbare | |
Repräsentantinnen und Mitbegründerinnen des Popfeminismus in Deutschland. | |
Geboren und aufgewachsen in einem Dorf im Odenwald zählten sie Ende der | |
Neunziger zu den entscheidenden Figuren, die hierzulande Pop und den Kampf | |
um Geschlechtergerechtigkeit im Sinne der US-amerikanischen Riot Grrrls | |
zusammendachten. | |
Die eine, Sandra, gründete 1998 in Hamburg die Band Parole Trixi, eine der | |
bedeutendsten Bands des rotzigen Female Punk in Deutschland, in der auch | |
die 2013 verstorbene Almut Klotz spielte. | |
Die andere, Kerstin, schrieb zu dieser Zeit als Spex-Redakteurin unter | |
anderem über Pop und Geschlechterpolitik, später veröffentlichte sie Romane | |
und gab gemeinsam mit Sandra einen Essayband über Popmusik heraus. | |
Beide initiierten sie Aktionen wie den ersten Slutwalk in Deutschland mit | |
(2011), mit der sie gegen Rape Culture und Victim Blaming demonstrierten | |
und schlossen sich der Initiative Pinkstinks an, um vorgefertigte | |
Geschlechterbilder zu kritisieren. | |
Bis heute prangern sie die „Jungsstrukturen“ an, die im deutschen Pop dafür | |
sorgen, dass – frei nach Françoise Cactus – die Frau in der Musik immer | |
stört. „Riot Grrrl war damals ja auch ein Aufstand gegen das | |
Musikgeschäft“, sagt Sandra. | |
## Die großen Themen des Pop | |
Wenn sich Doctorella, denen neben ihnen Sascha Rohrberg sowie Flavio und | |
Fabrizio Steinbach (noch ein Zwillingspaar) angehören, nun auf einem Album | |
voll und ganz der Liebe verschreiben, muss das nicht überraschen: „Ich will | |
alles von dir wissen“ kommt eher wie ein Glaubensbekenntnis an die Mittel | |
und Möglichkeiten der Pop-Musik daher. | |
„Die großen Themen des Pop sind ohnehin unverrückbar: Liebe, Angst, | |
Leidenschaft, Verlust, Tod, Alltag und so weiter“, sagt Kerstin. „Wenn wir | |
nun Liebeslieder schreiben, dann sollen sie klingen wie Songs, die eben | |
noch nicht über die Liebe geschrieben wurden. Nach dem Motto: Hey, hier | |
kommt unser Liebeslied. Unser Wonderwall.“ | |
Und das klingt dann eben zu 100 Prozent nach den Grethers. So wie der | |
zweite Song der Platte zum Beispiel, „Gehst du heut mit mir ins Kino?“, der | |
musikalisch auch aus den Sechzigern stammen könnte, strahlt zum Beispiel | |
Lollipop-Charme aus, unterstützt vom frivol-verliebten Gesang der | |
Schwestern. | |
Was Doctorella dann in „Nur die Gefühle sind echt“, mit einem Refrain im | |
Singsang-Duktus, staunend feststellen –„Die Liebe ist ein Lied mit viel zu | |
vielen Strophen/ der Mensch wird ja leider viel zu oft verstoßen“ -, | |
bewahrheitet sich: Manchmal passen Metrum oder Versbau eben nicht, um das | |
Pop-Thema Nummer eins in Worte zu fassen. | |
## Bewusst affektierter Gesang | |
Und wenn das so ist, dann machen Doctorella es eben mit Zeilensprüngen und | |
Umbauarbeiten passend, wie im ersten Song „Ich brauche ein Genie“, dem am | |
Ende des Refrains noch ein breit gedehntes „Das Tüpfelchen auf dem i“ | |
nachgestellt wird. | |
In dieser Eigenwilligkeit liegt die Qualität ihres Albums: Reime wie „Der | |
Akkordeonist/ spielt heut nur Mist“ und „[Die Liebe ist] Ein ganz gemeiner | |
Gauner/ ein kostenloser Downer“ tragen Grether-Handschrift, der bewusst | |
affektierte Gesang ebenso. | |
Musikalisch gibt es Referenzen an Schlager, Chanson, Singer-Songwriter und | |
NDW, auch eine Prise Nico und Velvet Underground käme einem in den Sinn. | |
Nachdem sie das Wort Schlager im Gespräch zunächst lieber vermeiden wollen, | |
relativiert Sandra: „Schlager im Stile von Rio Reiser lasse ich natürlich | |
durchgehen“, schließlich sei sie große Anhängerin des | |
Ton-Steine-Scherben-Sängers, der in seiner späten Karriere auch oft in die | |
Schlager-Schublade gesteckt wurde. | |
## Camp, nicht Kitsch | |
Nach ihrem Debütalbum „Drogen & Psychologen“ (2012) haben die Geschwister | |
ihre Band Doctorella umgebaut, sich drei neue Mitmusiker ins Boot geholt – | |
neben zahlreichen Gastmusikerinnen wie Jacqueline Blouin. Beim Arrangement | |
der Songs geht sicher noch mehr, zu hören sind konventionell | |
choreografierte Popsongs im Plätschertempo ohne große Ausreißer. | |
Vielleicht aber muss das auch so. Denn „Ich will alles von Dir wissen“ ist | |
durch und durch camp. Fast alles, was Susan Sontag 1964 in „Notes on Camp“ | |
schrieb, trifft hier zu. „Camp ist […] die Liebe zum Übertriebenen, zum | |
‚Übergeschnappten‘, zum ‚alles-ist-was-es-nicht-ist‘“, schreibt Sont… | |
und weiter: „Camp ist immer naiv“, es geht um den „Grad der Kunstmäßigk… | |
der Stilisierung“. | |
Doctorella-Stücke treiben einerseits im Wortsinne genüsslich das Spiel mit | |
der Überhöhung, andererseits scheint die Sprechweise immer eigentlich und | |
uneigentlich zugleich zu sein. Mit Kitsch ist das nicht zu verwechseln. | |
Ob auch Annette Humpe ihren Anteil an der Soundästhetik hat? Jedenfalls | |
haben die Grether-Schwestern die NDW-Legende konsultiert, gemeinsam mit ihr | |
das erste Doctorella-Album „Drogen & Psychologen“ (2012) durchgehört. | |
Die sagte: Ihr braucht Verse, die knallen. Mögen sie dies auch auf der | |
neuen Platte nicht durchgehend tun, so haben die Stücke schon Witz und sind | |
klug inszeniert. | |
Gesanglich, so erzählt Kerstin beim inzwischen zweiten oder dritten Wein, | |
habe sie sich fortgebildet. Sie reiste dafür mehrmals in den heimischen | |
Odenwald, wo sie die Lichtenberger Methode für Stimmphysiologie | |
kennenlernte. | |
„Dabei geht es darum, den ganzen Körper als Klangkörper wahrzunehmen“, sa… | |
sie, um kurz darauf zu verkünden, die Gesangsmethode sei „genauso gut wie | |
Sex“. Ihre Kritik am Chauvi-Business Pop in Deutschland deuten Doctorella | |
nur subtil in ihren Liedern an. | |
Gut so. Kerstin betont, dass Songs für sie ohne Ideologie auskommen | |
müssten. In Songtiteln und Zeilen wie „Ich brauche ein Genie“ oder „es w… | |
nur eine lange Berührung/ seither bin ich ohne Führung“ gehen sie eher | |
selbstironisch mit dem Thema um. | |
## „Unbequem/doppelt schön“ | |
Dafür schaffen sie sich eigene Netzwerke, um den „Jungsstrukturen“ in der | |
Indie-Welt etwas entgegenzusetzen. Ein eigenes Label haben sie gegründet, | |
„Bohemian Strawberry Records“ heißt es. | |
Auch das Booking übernehmen sie selbst, denn, so Grether & Grether, das | |
Live-Geschäft sei fest in Männerhand. Sandra: „Es gibt kein Bewusstsein für | |
Geschlechtergerechtigkeit im deutschen Pop. Deutschland ist diesbezüglich | |
30, 40 Jahre hinterher, in den USA und England war und ist das anders.“ | |
Kurze Atempause, Schluck aus dem Weinglas, dann fügt sie hinzu: „Es ist | |
wohl immer noch eine Provokation, als Frau mit einer E-Gitarre auf der | |
Bühne zu stehen.“ | |
Das zu ändern – dafür streiten die Grether-Schwestern. Dafür werden sie | |
geliebt oder gehasst. Das wissen sie, und deshalb singen sie im Song | |
„Nachtcafé“: „Die Ladies sind zwar unbequem, aber sie sind doppelt schö… | |
Mit „Ich will alles von Dir wissen“ haben die unbequemen Ladies ein nur | |
scheinbar bequemes Album aufgenommen. | |
13 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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