# taz.de -- Lange Nacht der Religionen in Berlin: „Wir sind nette Nachbarn“ | |
> Die Synagoge am Fraenkelufer öffnet sich in den Kiez. Auch am Samstag zur | |
> Langen Nacht. Den Dialog mit den Nachbarn treiben vor allem | |
> KonvertitInnen voran. | |
Bild: Frieden – ein gutes Motto. | |
taz: Frau Peretz, Herr Böing, Sie beide haben den jüdischen Glauben als | |
Erwachsene angenommen: Ist es Zufall, dass mir als VertreterInnen des | |
Freundevereins der Synagoge am Fraenkelufer zwei KonvertitInnen | |
gegenübersitzen? Oder bilden Sie eine große Gruppe in der Gemeinde? | |
Nina Peretz: Viele Originale werden Sie nicht finden – wenn Sie nach | |
deutschen Juden suchen. Klar, da gibt es einige Familien. Aber viele | |
Gemeindemitglieder sind irgendwann mal übergetreten – oder jemand aus ihrer | |
Familie. Und dann gibt es natürlich viele Zuwanderer, aus den USA, aus | |
europäischen Ländern, aus Israel. Dass gerade wir hier sitzen, liegt | |
vielleicht daran, dass gerade auch die Übergetretenen in der Gemeinde sehr | |
aktiv sind. | |
Herr Böing, Sie sind seit 1997 Mitglied der Kreuzberger Gemeinde. Wann sind | |
Sie konvertiert? | |
Itai Böing: Da lässt sich kein konkreter Zeitpunkt sagen, das dauert ja | |
immer eine Weile. Bei mir waren das genauer gesagt eigentlich 30 Jahre. | |
Das war wohl eine gut überlegte Entscheidung. | |
Böing: Es ist ein langer Lernprozess, und ich würde mich nicht als | |
gläubigen Juden bezeichnen. Das Judentum ist ja eine sehr praktische, eine | |
tätige Religion. Vieles hat weniger mit Glauben zu tun als mit Tun. | |
Peretz: Wobei ich finde: Um all das zu tun, was man zu tun hat, muss man | |
schon ganz schön gläubig sein. | |
Was sind die zentralen Gebote, die Sie beide neu erlernen mussten? | |
Böing: Zentral ist, wie man den Schabbat behandelt und was man isst. Das | |
ist wesentlich. | |
Peretz: Der Schabbat mit dem Gebot der Ruhe ist zentral. Als Frau muss man | |
außerdem eine Menge Dinge über Reinheit lernen, die nicht nur mit Haushalt | |
und Kochen und Küche zu tun haben, sondern auch mit dem eigenen Körper, mit | |
Sexualität. Und mit der religiösen Erziehung der Kinder, dafür ist im | |
traditionellen Judentum vor allem die Mutter zuständig. Ich sehe das eher | |
egalitär: Mann und Frau habe die gleichen Rechte und Pflichten. | |
Was war der Grund für Ihren Übertritt? | |
Peretz: Der Glaube spielt bei mir schon eine zentrale Rolle. Außerdem habe | |
ich das Judentum als eine sehr gemeinschaftliche und soziale Religion | |
kennengelernt – unter anderem durch meinen israelischen Ehemann und seine | |
Familie. Die Religion war für mich immer ein Gewinn: Das Lernen ist | |
spannend, die Gemeinschaft und der familiäre Zusammenhalt sind bereichernd. | |
Ich musste nicht lange über die Frage der Konversion nachdenken. | |
Und was hat das Judentum für Sie anziehend gemacht, Herr Böing? | |
Böing: Ich bin als gläubiger protestantischer Christ aufgewachsen. Mein | |
erster Israelaufenthalt mit der Aktion Sühnezeichen in den Sechzigerjahren | |
hat mich dann umgekrempelt. Da habe ich Auschwitz-Überlebende | |
kennengelernt. Der Hintergrund meines Konversionsprozesses ist eigentlich | |
die Schoah. Damals bin ich aus der Kirche ausgetreten. Aber nicht, um Jude | |
zu werden. Erst wurde ich Kommunist. Ich dachte damals, einfach Jude | |
werden, mich in Israel niederlassen, das geht mit meinem deutschen | |
Vergangenheitshintergrund nicht. Ich war dann als Freiwilliger in | |
ehemaligen Vernichtungs- und Transitlagern wie Auschwitz und Theresienstadt | |
tätig, bin später als Lehrer mit Schulklassen dorthin gefahren. Und ich | |
habe dabei immer wieder gemerkt, dass ich den Schmerz, den ich an diesen | |
Orten verspüre, nicht mit deutschen Erwachsenen teilen kann. Ich dachte, | |
vielleicht geht das mit Juden besser. | |
Warum haben Sie beide sich für die Gemeinde am Fraenkelufer entschieden – | |
eine jüdische Gemeinde mitten zwischen Neukölln und Kreuzberg? | |
Beide: Das ist eigentlich Zufall. Wir wohnten beide in der Nähe. | |
Sie wollen die Gemeinde nach außen öffnen, mehr BesucherInnen einladen, | |
auch Geflüchtete, suchen Kontakt zu muslimischen und anderen Nachbarn. | |
Warum? | |
Böing: Meine Motivation ist, Vorurteile abzubauen und Wissen über das | |
Judentum zu verbreiten. | |
Peretz: Die Menschen im Kiez sind ja unsere Nachbarn. Und wir wollen | |
einfach zeigen, dass wir auch nette Nachbarn sind und man mit uns gut | |
zusammenleben kann. | |
Klappt das auch mit den Muslimen? | |
Peretz: Ja – wenn man das Thema Politik so weit wie möglich außen vor | |
lässt. Da gibt es einfach zu unterschiedliche Meinungen. Wir sind als | |
jüdische Gemeinschaft ja keine Vertreter Israels – aber viele stehen zu | |
Israel. | |
Wie wird es innerhalb der Gemeinde gesehen, dass gerade Sie als | |
KonvertitInnen solche Aktivitäten organisieren, die Gemeinde öffnen, | |
verändern wollen? | |
Peretz: Am Anfang gab es Kritik, weil wir ja auch einiges aufgemischt, den | |
Ort geöffnet haben. Wir haben Essen in der Synagoge veranstaltet, zu denen | |
80 Gäste kamen. Es kommen Besuchergruppen, Frauen mit Kopftuch. Das war | |
nicht normal in einer Synagoge, wo immer die Polizei vor der Tür steht. Da | |
gab es anfangs Ängste und Vorurteile. | |
Böing: In den Neunzigerjahren kamen zum Gebet hier in der Gemeinde nur eine | |
Handvoll alte Männer. Ich habe fast zehn Jahre lang eine andere Synagoge | |
besucht. Jetzt gibt es wieder Leben, Nachwuchs hier am Fraenkelufer. Es | |
gibt sogar wieder einige Kinder. | |
Peretz: Wir verändern ja nicht die Religion. Für mich ist gemeinsames | |
Feiern, gemeinsames Essen im Kern jüdisch, ein ganz elementarer Teil des | |
Gemeindelebens – eine religiöse Pflicht. Das ist hier in Deutschland im | |
Vergleich zu jüdischem Leben in anderen Ländern, etwa den USA oder Israel, | |
unterentwickelt. Das wollen wir ändern – und haben es schon. | |
17 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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